Krematoriums-Archäologie in Auschwitz:

Geschichte einer Wiederentdeckung

Von Andreas Kilian

In einer Pressemitteilung vom 7. Juni 2016 erklärte der Direktor des Museums Auschwitz, Piotr Cywinski, dass nach monatelanger Suche mehr als 16.000 verschollene Fundsachen, die im Sommer 1967 auf dem Gelände von Krematorium II ausgegraben wurden, in die Gedenkstätte zurückgeführt worden seien. Nach der Entdeckung  eines Goldrings und einer Halskette im doppelten Boden eines Emaille-Bechers im Mai, war dies bereits der zweite spektakuläre Fund dieses Jahres. Beide Wertsachen wurden gefunden, nachdem sich der Boden des Bechers gelockert hatte und Spezialisten das Exponat fachmännisch durch Röntgenaufnahmen untersuchten.

1967 seien lediglich 400 Fundstücke in der historischen Sammlung der Gedenkstätte registriert worden.  „Ein paar Monate später gab es 1968 eine politische Wende und die kommunistischen Machthaber nahmen einen klar antisemitischen Kurs auf. Vielleicht hatten sie deshalb mit der Durchführung und dem Abschluss dieses Projekts keine Eile. Die Zeiten waren damals schwierig für Themen, die mit dem Holocaust zusammenhingen.“ erklärt Cywinski die Versäumnisse. Die in beschrifteten Papierkuverts verstauten Exponate, die kürzlich in einem Lagerraum der Polnischen Akademie der Wissenschaften entdeckt worden waren, wurden dem Museum Auschwitz am 3. Juni 2016  in 48 Kartons übergeben. Es handelt sich primär um Gebrauchsgegenstände, die zur persönlichen Habe der nach Birkenau Deportierten gehörten, u.a. Thermometer, Behälterglas, Lippenstifte, Besteck, Uhren, Bürsten, Rasierer, Kämme, Tabakpfeifen, Feuerzeuge, Spielzeug, Fragmente von Geschirr und Schuhen, Knöpfe, Brillen, Taschenmesser und Schlüssel. Einige Gegenstände verraten durch Aufdrucke ihre Herkunft aus Lodz, Ungarn oder Holland, z.B. eine Brotkarte, Porzellan oder Bügelverschlüsse von Flaschen („A.J. Bakker – Glasfabrikant“).

Die meisten Fundsachen waren entweder kaputt oder wertlos, was die Vermutung erhärtet, dass es sich um Gegenstände der Müllentsorgung gehandelt hat, welche sich laut Sonderkommando-Zeugenaussagen an der Ausgrabungsstelle befand und die nicht im Müllverbrennungsofen innerhalb des Krematoriums vernichtet wurden.  Es wurden aber auch vereinzelt Gegenstände geringen Werts wie Schmuck und Münzen gefunden, die möglicherweise von Sonderkommando-Häftlingen als Akt des Widerstands unter dem Müll versteckt worden waren, ebenso wie menschliche Zähne. Der konspirative Sonderkommando-Chronist Salmen Gradowski schrieb über die Zähne im Jahre 1944: „wir, die Arbeiter dieses Kommandos, haben sie eigens über das gesamte Gelände verstreut, so viele wie wir konnten, so dass die Welt lebende Zeichen von Millionen ermordeter Menschen finden möge.“ Versteckt wurden zudem  Überreste wie Knochenstücke und Haare, aber auch Beweismittel wie Tagebücher, Briefe und Fotos. Filip Müller sagte 1979 im Interview Claude Lanzmann gegenüber aus: „(…) viele Fotografien waren vergraben, die müssen noch bis heute da in Auschwitz so zu sein. Wir haben ja auch dafür gesorgt, dass die Welt mal vielleicht sich mal da in diesen Terrain graben würde (…).“ Dies bestätigte auch der Sonderkommando-Überlebende Henryk Tauber in seiner Aussage vom Mai 1945. Die Grabungsstelle von 10 x 10 Metern befand sich 1967 auf dem Gelände einer etwa 5 x 8 Meter großen Müllgrube, die auf alliierten Luftaufnahmen bereits seit dem 31. Mai 1944 erkennbar ist und selbst nach der Verwischung von Spuren und Zuschüttung anderer Gruben auf dem Gebiet von Krematorium II noch am 19. Februar 1945 als einzige Grube zu sehen war.

Insofern kann nicht ausgeschlossen werden, dass kurz nach der Befreiung von Auschwitz durch die Sowjetarmee am 27. Januar 1945 bereits Sachen aus der Grube entwendet oder durchwühlt wurden. Der Historiker Pavel Polian geht in seinem Buch „In the midst of hell“ (Moscow 2016) davon aus, dass im Februar das Lagergebiet marodierenden Schatzsuchern aus der lokalen Bevölkerung überlassen worden sei, bevor im März 1945 ein Internierungslager für Deutsche eingerichtet wurde und das Gelände überwacht war. Die ehemaligen Sonderkommando-Häftlinge Shlomo Dragon, Henryk Tauber und  Henryk Mandelbaum befanden sich nach ihrer Flucht bereits im Februar 1945 wieder auf dem Lagergelände und sagten vor einer sowjetischen Untersuchungskommission aus. Anfang März fand Dragon geheime Aufzeichnungen Salmen Gradowskis in einer Aschegrube bei Krematorium II.

Henryk Tauber und Shlomo Dragon bei den Ermittlungen der sowj. Untersuchungskommission, Februar 1945, Originalabzug im Archiv Kilian

Mandelbaum erinnerte sich an Schatzsucher in jener Zeit: „Ich sah Leute den Erdboden durchsuchen und umgraben, im Wäldchen nahe dem Krematorium.“ Tatsächlich wurde das Gelände bereits vor der Befreiung systematisch durchsucht. Der Sonderkommando-Überlebende Shlomo Venezia schrieb darüber in seinen Erinnerungen: „Ich hatte die Zähne bei der Durchsuchung des Hofs des Krematoriums gefunden. Wir wussten, dass die Männer des Sonderkommandos für gewöhnlich Wertobjekte versteckten, indem sie diese vergruben. (…) Alles was wir fanden, teilten wir sofort unter uns auf. Während der eine suchte, stand der andere Wache.“



Fundort verschiedener Krematoriums-Schriften hinter der Auskleidehalle von Krematorium II, © A. Kilian 2017


Auf dem Gelände befanden sich neben gegenständlicher Müllgrube vermutlich ein Dutzend weiterer Gruben, in die bis Sommer 1944 hauptsächlich die Asche der Ermordeten vergraben wurde. Im Herbst 1944 wurden die meisten alten Gruben wieder geöffnet und die Menschenasche in die Weichsel geschüttet. Die vom Sonderkommando verheimlichten Gruben sollten später als Beweise der Verbrechen dienen. Möglicherweise steht die hohe Anzahl der Gruben auf dem Gelände von Krematorium II in direktem Zusammenhang mit dem vermehrten Vergraben von geheimen Aufzeichnungen und Beweismitteln auf diesem Gebiet. Offenbar alle bekannten und nach Kriegsende aufgefundenen Handschriften, die vom Sonderkommando versteckt wurden, fanden sich dort. Von der Belegschaft des Krematorium I überlebte kein Häftling, der Hinweise zu Verstecken geben konnte. Polian zufolge seien aufgrund „schwarzer Archäologie“ viele versteckte Aufzeichnungen zerstört worden. Im CIA-Bericht „A Retrospective Analysis of the Auschwitz-Birkenau Extermination Complex“ von Brugioni und Poirier wurde die gegenständlich Müllgrube im Februar 1979 noch als mögliche Leichenverbrennungsgrube fehlinterpretiert. Zudem meinten sie irrtümlicherweise auf einer Luftaufnahme vom 21. Dezember 1944 zu erkennen, dass die Grube zugeschüttet worden sei. Wann die Grube nach Februar 1945 mit Erde aufgefüllt wurde, kann nicht mehr rekonstruiert werden, aber ihre Öffnung. Ania Szczepanska zufolge sei die Ausgrabung von dem polnischen Filmregisseur und Drehbuchautoren Andrzej Brzozowski (1932-2005) initiiert worden, nachdem er durch das polnische Buch „Szukajcie w Popiolach“(„Suchet in der Asche“, 1965; dt. Übers. „Briefe aus Litzmannstadt“, 1967) über die vom Sonderkommando-Häftling Salmen Lewenthal vergrabenen und am 28. Juli 1961 entdeckten Schriften dazu inspiriert worden war.

    

Film- und Grabungsgelände hinter Krematorium II, © A. Kilian 2017

Dieser dreiteilige Fund, ein Bericht aus dem Ghetto Litzmannstadt, ein Kommentar Lewenthals sowie ein Armband, war dem beharrlichen Engagement des ehemaligen Auschwitz-Häftlings Henryk Porebski zu verdanken, der das Versteck Lewenthals kannte und seit August 1945 eine offizielle Grabung zu erreichen suchte. Mit Unterstützung der „Hauptkommission zur Erforschung der Hitlerverbrechen in Polen“ wurde allerdings erst im März 1961 eine Genehmigung erteilt. Im Zuge dessen wurden 1961 auf der Rückseite von Krematorium II  über 80 qm Erde umgegraben. Dabei „kamen unter einen dicken Rasenschicht diese Abfälle zum Vorschein: Hunderte von kleinen Arzneifläschchen, Knöpfe, Parfümflakons, Löffel und Gabeln, zerbrochene Maniküregegenstände, zerschlagene Spiegel und Puderdosen, schließlich ungarisches, tschechisches, deutsches und polnisches Kleingeld.“, informiert das Buch. Brzozowski hatte das Thema für seinen nächsten Kurzfilm gefunden und einen sicheren Fundort hatte er auch, denn außer den Lewenthal-Funden verblieben alle „Abfälle“ in der Erde. Bevor die Gruben-Öffnung gefilmt werden konnte, fanden jedoch noch weitere Untersuchungen auf dem Hinterhof von Krematorium II statt. Nach erneuten Grabungen durch die bereits erwähnte „Hauptkommission“ wurde am 17. Oktober 1962 eine weitere Handschrift Lewenthals gefunden.

Am 17. Oktober 1963 gab der einzige bekannte Sonderkommando-Überlebende der sog. Ungarn-Transporte, Dov Paisikovic, in Wien zu Protokoll, er habe ein Tagebuch seines aus Frankreich deportierten polnischen Kameraden Leon „am Mittwoch vor dem Aufstand“ des Sonderkommandos im Hof von Krematorium II selbst vergraben. Zudem seien dabei „Dokumente, Pässe“ sowie „Haare von Leichen, Zähne, etc.“ versteckt worden, „aber grundsätzlich keinen Wertgegenstand, damit nicht jemand, der später einmal diese Kiste findet, sie eben wegen solcher Wertgegenstände plündert“.  Die Beweismittel seien in einem großen Glasbehälter, der durch einen Betonkasten geschützt wurde, verschlossen worden. Die Aussage wurde im Frühjahr 1964 bereits in Leon Poliakovs Standardwerk „Auschwitz“ publiziert und weckte Interesse.

Im August 1964 reiste Paisikovic nach Polen, um im Zuge des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, in dem er schließlich am 8. Oktober 1964 als Zeuge aussagte, das Tagebuch als neues Beweismittel zu finden. Paisikovics Suche wurde durch einen israelischen und einen deutschen Journalisten sowie durch einen Fotografen festgehalten. In der Zeitschrift REVUE vom 13.09.1964 resümiert der Journalist Paul Trunk: „Paisikovic kann das Versteck nicht mehr finden. Die ersten Grabungen bleiben ohne Ergebnis. Schließlich steckt Paisikovic wenigstens das Gelände ab, auf dem sich seiner Erinnerung nach das Tagebuch etwa einen Meter tief unter der Erde befinden muss.“ Die israelischen Zeitung Yediot Ahronot schreibt am 28.08.1964, der damalige Direktor des Auschwitz-Museums, Kazimierz Smolen hätte nach dem Misserfolg versprochen: „Wir werden es finden. Wir werden eine Gruppe Soldaten einsetzen und sie jeden Winkel des Erdbodens durchsuchen lassen.“

Realisiert wurde die Suche jedoch nicht. Stattdessen erstellten Mitarbeiter des spezialisierten Bergbau-Unternehmens „Hydrokop“ aus Krakau in den Jahren 1965-1966 eine geologisch-technische Dokumentation, die auch auf andernorts in Birkenau gelegene Aschegruben eingeht.  Gesucht und gefunden wurde bis zu Brzozowskis Filmprojekt nichts mehr.

Sein 14-minütiger und im Mai 1968 uraufgeführter Kurzfilm „Archeologia“, der als wissenschaftliche Dokumentation konzipiert war, erhielt bis 1973 vier Filmpreise. Dank der im Film dokumentierten Funde wurde die Suche nach den verschollenen Exponaten vor einigen Monaten ausgelöst.

Salmen Lewenthal schrieb am 15. August 1944: „Suchet weiter! Ihr werdet noch mehr finden!“ Diese Ermutigung sollte selbst nach 72 Jahren noch beim Wort genommen werden. Neue technische Untersuchungsmethoden können inzwischen auch unleserliche Stellen rekonstruieren, wie die vor wenigen Monaten neue Entzifferung des 1980 von einer Gruppe polnischer Schüler gefundenen Briefs Marcel Nadjaris belegt. Unter der Direktion von Piotr Cywinski besteht Anlass zu der Hoffnung, den letzten Willen der geheimen Chronisten von Auschwitz zu erfüllen, damit ihre mutigen Anstrengungen und ihr verschollenes Vermächtnis nicht ein zweites Mal oder endgültig vernichtet werden.

 

Eingangstor zum Gelände von Krematorium II, © A. Kilian 2016


(Letzte Änderung: 09.12.2019)



Hinweis:

 

Dieser Artikel ist mit zum Teil anderem Bildmaterial versehen in folgender Ausgabe des Mitteilungsblatts der „Lagergemeinschaft Auschwitz – Freundeskreis der Auschwitzer“ erschienen:

Kilian, Andreas: Krematoriums-Archäologie in Auschwitz. Geschichte einer Wiederentdeckung. In: Mitteilungsblatt der Lagergemeinschaft Auschwitz, Freundeskreis der Auschwitzer, 36.Jg., H. 1 (2016), S. 18-24.

Der Autor dankt der Lagergemeinschaft Auschwitz, Freundeskreis der Auschwitzer e.V., Münzenberg, für die Zustimmung zur Veröffentlichung des Artikels auf www.sonderkommando-studien.de.