Nachrufe –   obituaries –  avis de décès

 

Inhaltsübersicht:

 

Dario Gabbai ca. 1951 und 1999 (Archiv A. Kilian)

 

Dario Gabbai

(02.09.1922 Thessaloniki – 25.03.2020 Los Angeles)

Zeugnis ablegen wider das Vergessen– Abschied vom letzten Augenzeugen aus dem Krematorium

Von Andreas Kilian

David Dario Gabbai verstarb am 25. März 2020 im Alter von 97 Jahren in Los Angeles als zweitältester Sonderkommando-Überlebender. Seine wiedergefundene Lebensfreude, seine gesunde Lebensweise und Begeisterung für sportliche Aktivitäten bewahrte sich der gebürtige Grieche italienischer Nationalität bis zuletzt und war damit vielen Menschen ein Vorbild. Noch im Alter von 76 Jahren demonstrierte er seine Fitness in einer Filmdokumentation und erläuterte den positiven Effekt seiner täglichen Übungen:

Deshalb komme ich ins Fitnessstudio. Ich möchte ein qualitativ hochwertiges Leben führen. Quantität bedeutet nichts mehr. (…) Ich möchte die Kraft haben, nicht ins Krankenhaus zu gehen, und ich möchte nicht krank sein. Wenn ich im Fitnessstudio schwitze, geht alles weg. Ich weiß nicht, was ich bin, ich bin insgesamt ein anderer Mensch. Das bringt mir einfach nur Seelenfrieden und Alles. Ich weiß nicht, was passiert, ich weiß es nicht, meine Probleme sind einfach weg.“

(„Auschwitz- the final witness“, GB 1999; aus dem Englischen übersetzt von A. Kilian)

Embed from Getty Images

Dario Gabbai während einer Gala der Shoah Foundation am 05.11.2018 in Beverly Hills, © Donato Sardella/ Getty Images Entertainment/ #1057962282

Vor allem junge Menschen, die ihm begegneten, waren von seiner energiegeladenen Ausstrahlung, seinem freundlichen und sympathischen Wesen sowie von seiner positiven Lebenseinstellung tief beeindruckt. Als er die letzten Jahre seines Lebens jedoch auf einen Rollstuhl angewiesen war und nur noch selten am öffentlichen Leben teilnehmen konnte, lebte der musikalische Gabbai seine Leidenschaft fürs Singen umso mehr aus. Auch seine Geselligkeit verlor der beliebte Dario Gabbai, der als Sohn eines Italieners und einer Griechin in Thessaloniki zusammen mit seinen Eltern und Großeltern aufwuchs, nicht. Der Vater und 10 Jahre ältere Bruder Yaacov arbeiteten in der Druckerei der bekannten griechischen Zeitung „Neue Wahrheit“. Dario beabsichtigte Medizin in Padua zu studieren, was ihm jedoch als italienischem Juden aufgrund antisemitischer Maßnahmen verwehrt blieb. Im Juli 1943 flüchtete die Familie in den von den Italienern besetzten Teil Griechenlands nach Athen. Im September 1943 besetzten die Deutschen nach der Kapitulation Italiens Athen und bereiteten auch die Deportation der italienischen Juden in deutsche Vernichtungslager vor. Von den am 11. April 1944 in Auschwitz-Birkenau angekommenen Familienangehörigen überlebten nur Darios älterer Bruder Yaacov, dessen Ehefrau sowie seine beiden Cousins Shlomo und Maurice Venezia. Zusammen wurden die vier Männer schließlich nach einem Monat Quarantäne Mitte Mai 1944 in das Sonderkommando einverleibt.

Einzel-Fotos: © Marcello Pezzetti und Andreas Kilian

Nach seiner Befreiung im österreichischen Konzentrationslager Ebensee kehrte der auf 30 kg abgemagerte Gabbai schließlich über Italien nach Griechenland zurück, wo er am 2. Juli 1945 mit dem Flugzeug in Athen landete und einige Zeit für die Hilfsorganisation „American Jewish Joint Distribution Committee“ arbeitete. Nach seiner Emigration in die USA im Jahre 1951 arbeitete Gabbai eine Weile als Chauffeur in Cleveland (Ohio), als Schauspieler sowie als Reinigungskraft in einer Fabrik in Los Angeles. In der Metropole am Pazifischen Ozean lebte Dario Gabbai den amerikanischen Traum: innerhalb eines Jahres arbeitete er sich vom Raumpfleger bis zum Manager einer führenden Textilfabrik in Los Angeles hoch, für die er über 30 Jahre lang tätig war.

Dario Gabbai verbrachte die gesamte Zeit im Sonderkommando im schützenden Umfeld seiner Verwandten, die ihn unterstützen und den stark traumatisierten jungen Mann seelisch aufbauen mussten. Gabbai erinnerte sich lakonisch und nur dunkel an diese Zeit: „Meine Brüder, meine Cousins und ich waren die ganze Zeit zusammen. Wir hatten einander. Aber was wir miteinander besprachen? Ich erinnere mich nicht mehr.“ In einem Brief an den Sonderkommando-Forscher Erich Kulka aus dem Jahre 1984 benannte er dafür auch einen Grund: „Wie Sie wissen, mussten die meisten von uns – um in dieser Zeit zu überleben – unseren Verstand verschließen vor dem was sie uns zu tun befahlen.” (aus dem Englischen übersetzt von A. Kilian)

Durch die Hilfe seines Cousins Shlomo Venezia, der in Krematorium II eingesetzt war und eine gute Beziehung zu seinem Kapo Lemke Pliszko hatte, konnten Dario Gabbai und Shlomos Bruder Maurice von Krematorium III nach Krematorium II überstellt und somit die Gebrüder vereinigt werden. Der Preis für die Gefälligkeit des Kapos war die Unterhaltung der Funktionshäftlinge durch Dario und Maurice, die sehr schön singen konnten, insbesondere italienische Lieder. Shlomo und sein Bruder traten auch als Duo auf: Shlomo musste auf der Mundharmonika spielen und Maurice dazu tanzen.

Nach Henryk Mandelbaum war Dario Gabbai der weltweit am häufigsten in Filmdokumentationen gezeigte Zeitzeuge aus dem Sonderkommando. In einer letzten und erst Ende Januar dieses Jahres ausgestrahlten deutschen Fernsehdokumentation erläuterte er seinen ausgeprägten Überlebenswillen:

Das einzige, was man hätte tun können, war, sich umzubringen. Aber welchen Sinn hätte das gehabt? Alles, an was ich dort denken konnte, war: ‚Wie komme ich hier lebend raus, um diese Geschichte zu erzählen?‘ Es gibt nicht mehr viele, die sie erzählen können. Ich bin einer von wenigen.“


Shlomo Venezia in Rom, © Andreas Kilian 1997

Als letzter bekannter Augenzeuge und ehemaliger Zwangsarbeiter der jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau teilte Gabbai im Vergleich zu anderen Zeugen aus dem Sonderkommando, wie seinem 1993 in Israel verstorbenen Bruder Yaacov, jedoch erst verhältnismäßig spät seine Erinnerungen aus den Krematorien von Auschwitz-Birkenau (eine Ausnahme bildet sein kurzer Englisch-Schulaufsatz über den Krematoriumsleiter Otto Moll aus dem Jahre 1951). Der erfolgreiche Manager war ein verantwortungsvoller Familienvater, aber auch unternehmungsfreudig und lebenslustig, wie er in Interviews betonte. Die Erinnerung an die Mordfabrik Auschwitz gehörte in ein anderes Leben, das nicht mehr abzuschütteln war, aber unterdrückt werden sollte. Erst im Ruhestand und nach dem Tod seines Bruders sowie seines alten Schulfreundes und Sonderkommando-Kameraden Daniel Bennahmias am 22. Oktober 1994 erklärte sich Dario Gabbai dazu bereit, über die schrecklichste Zeit seines Lebens zu berichten.

Auch Darios Cousins Shlomo und Maurice Venezia, die in Rom und Los Angeles eine neue Heimat gefunden hatten, begannen erst spät über das Sonderkommando zu sprechen: 1992 und 1996. In Gideon Greifs Standardwerk der Sonderkommando-Interviews berichtet Yaacov Gabbai: „Mein Bruder, der schon 38 Jahre in den USA lebt, war mit mir beim Sonderkommando; er will aber nicht erzählen, nichts hören und sich an nichts erinnern.“

(Gabbai in: Gideon Greif: „Wir weinten tränenlos…“. Augenzeugenberichte des jüdischen „Sonderkommandos“ in Auschwitz, 9. Auflage, Frankfurt am Main 2011, S. 232).

Maurice Venezia in Lagonisi/Sithonia und sein Bruder Shlomo in Rom, © Andreas Kilian 1997

Gegenüber Fachleuten verhielt sich Dario Gabbai jedoch sehr zurückhaltend: nach ersten Interview-Absagen im Jahre 1998 konnte der Sonderkommando-Forscher Gideon Greif den inzwischen Medien-erfahrenen Zeitzeugen Dario Gabbai schließlich erst im Jahre 2001 kennenlernen, ein Interview folgte im August 2003. Der erste israelische Sonderkommando-Forscher und Auschwitz-Überlebende Erich Kulka, der bereits im Juni 1983 ein Interview mit Gabbais Bruder Yaacov sowie 1984 und 1985 mit Gabbais Sonderkommando-Kameraden Daniel Bennahmias durchgeführt hatte, versuchte vergeblich, ein Interview mit Dario zu realisieren. Ende November 1984 lehnte dieser ein Treffen mit folgender Begründung ab:

Ich habe nichts hinzuzufügen, da Daniel [Bennahmias] über alles berichtet hat, was wir beide zu dieser Zeit erlebt haben. Ich habe auch das Gefühl, dass seine Erinnerung an diese Ereignisse besser war als meine.“ (aus dem Englischen übersetzt von A. Kilian)

Im von Julie Jacoby verfassten Porträt Dario Gabbais mit dem Titel „Meine Augen haben so viel gesehen!“ beschrieb der Zeuge im Dezember 2002 sein Dilemma:

Viele Jahre lang habe ich nicht über meine Erlebnisse im KZ gesprochen. In der Firma, in der ich 31 Jahre lang beschäftigt war, wusste niemand, dass ich im Sonderkommando gearbeitet hatte. Niemand fragte mich danach, und ich war auch nicht fähig, darüber zu reden. Bis zu dem Film ‚Schindlers Liste‘. Da habe ich begonnen, zu erzählen. Noch immer widerstrebend, denn es fällt mir bis heute schwer, darüber zu reden. Doch ich muss davon sprechen, damit es nicht vergessen wird.“

(Jacoby in: Gerhard Botz (Hg.): Schweigen und Reden einer Generation. Erinnerungsgespräche mit Opfern, Tätern und Mitläufern des Nationalsozialismus, Wien 2007, S. 52.)

Im März 1997 berichtete der Jewish Chronicle in dem Artikel „Greek Tragedy“ über Darios erste Rückkehr nach Auschwitz-Birkenau Mitte Oktober 1996 im Rahmen einer Studienreise mit Studenten, eine Erfahrung, über die Gabbai zwei Wochen später sagte: „etwas kam aus meiner Seele heraus.“ Auch sein Bruder Jaacov erhielt 1989 die Gelegenheit, mit einer Gruppe an den ehemaligen Leidens- und Schreckensort zurückzukehren, jedoch blieb er auf Wunsch seiner Frau in Israel und verstarb nur vier Jahre später.

Nach einer zweijährigen Vorbereitungszeit reiste Dario im Jahre 1999 für die Dreharbeiten zu einem britischen Dokumentarfilm ein zweites Mal nach Auschwitz-Birkenau, diesmal mit seinen beiden Cousins Shlomo Venezia aus Rom und Morris Venezia, der ebenfalls in Los Angeles lebte. Ursprünglich sollte der Film nur Darios Geschichte erzählen, jedoch machte dieser zur Bedingung, den Film nur gemeinsam mit seinen Cousins zu drehen: „denn an das, woran ich mich nicht erinnere, werden sie sich vielleicht erinnern“.

Maurice Venezia, Dario Gabbai und Shlomo Venezia vor dem Museum Auschwitz © Marcello Pezzetti 1999

Erfahrung als Interview-Partner sammelte Dario Gabbai schnell: zuerst am 7. November 1996 vor der Kamera der an der University of Southern California ansässigen „Survivors of the Shoah Visual History Foundation“ (USC Shoah Foundation Institute; in einigen Quellen falsch datiert auf den 9. Oktober 1994; ein weiteres Film-Interview für die Shoah Foundation folgte am 1. Mai 2014) und in dem von Steven Spielberg produzierten Dokumentarfilm von James Moll, „The Last Days“ (USA 1998), anschließend mit seinen beiden Cousins in Andrew Barrons bereits erwähnten äußerst sehenswerten und bewegenden Dokumentarfilm „Auschwitz- the final witness“ (GB 1999).

Nach der Jahrtausendwende war Dario Gabbai in den beiden international publikumswirksamsten TV-Dokumentationen zu sehen: im Oktober und November 2000 in der 6-teiligen Dokumentarreihe „Holokaust“ von Guido Knopp, Maurice Philip Remy und Stefan Brauburger sowie im Januar und Februar 2005 in der 6-teiligen britischen BBC-Fernseh-Dokumentation „Auschwitz: The Nazis and ‚The Final Solution’“ von Laurence Rees und Catherine Tatge. Zu beiden Filmreihen wurden kurz darauf Bücher mit Aussagen Gabbais publiziert. Schließlich war Gabbai in dem 72-minütigen Film „Finding Nico“ von Owen Prell (USA 2010), dem 15-minütigen und am 27. Januar 2015 uraufgeführten US-Kurzfilm „Auschwitz“ von James Moll, dem 93- minütigen Dokumentarfilm „A journey into the Holocaust“ von Paul Bachow (USA 2015), dem am 30.01.2016 erstausgestrahlten 44-minütigen deutschen Dokumentarfilm „Das Geheimnis der Auschwitz-Alben – Fotos aus der Hölle“ von Winfried Laasch sowie zuletzt im 90-minütigen Dokumentarfilm von Winfried Laasch und Friedrich Scherer „Ein Tag in Auschwitz“ (D 2019), der zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz am 28. Januar 2020 zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr im ZDF ausgestrahlt worden war, zu sehen.

Ein 2003 geplanter Dokumentarfilm über das Sonderkommando mit dem Titel “Evidence” von Joseph Russin mit Ausschnitten von Interviews mit Dario Gabbai und anderen Überlebenden, die für die Shoah Foundation Zeugnis abgelegt hatten, wurde bislang nicht veröffentlicht. Allerdings schrieb Michael Berenbaum einen Artikel über ausgewählte Zeugenaussagen dieses interessanten Filmprojekts. Seit März 2013 wurden zudem Interview-Ausschnitte Dario Gabbais für Online-Lektionen der USC Shoah Foundation verwendet um Gabbais Erinnerungen einem noch breiteren Publikum bekannt zu machen. Am 1. August 2014 übergab Gabbai der USC Shoah Foundation sein Privatarchiv.

In einem Interview für die Shoah Foundation beschreibt Dario Gabbai den schwierigen Weg, sich zu öffnen:

Es war viele, viele Jahre lang schwierig. Die ersten zehn Jahre, nachdem ich das Lager verlassen hatte, hatte ich praktisch jede Nacht Albträume. Es beeinflusst mich immer noch, weil ich nicht in der Lage bin, bestimmte Dinge zu tun, die ich gerne tun würde. Ich bin nicht in der Lage, bestimmte Dinge zu tun, als Folge einer psychologischen Erbschaft aus dem Konzentrationslager. Ich habe jahrelang geschwiegen und das alles für mich behalten – nur um am Leben zu bleiben – aber jetzt möchte ich der Welt meine Geschichte erzählen.“

(Gabbai in: Steven Spielberg and Survivors of the Shoah Visual Foundation: The Last Days, London 1999, p. 159; aus dem Englischen übersetzt von A. Kilian)

Im Dokumentarfilm „Auschwitz- the final witness“ spricht er schließlich von einer Form der Spaltung:

Es ist sehr sehr hart. Egal wie unsere Erscheinungsbilder sind, in uns ist jemand anderes. Unsere verwundeten Seelen werden damit sterben. Man kann diese Dinge nie vergessen.“ (aus dem Englischen übersetzt von A. Kilian)

Dario Gabbais einführender Zeugenbericht auf der Konferenz “Gray Zones: Ambiguity and Compromise in the Holocaust and its Aftermath” vom 5.-7. Februar 2004 in Claremont, Kalifornien, beeindruckte die Zuhörer so stark, dass er im Epilog zum gleichnamigen Buch ausführlich besprochen wurde. Der Epilog ist gleichsam eine Hommage an eine besondere Persönlichkeit, die viele Menschen bewegt hat:

Gabbai war und ist vieles: kultiviert (er spricht perfekt Griechisch, Italienisch und Englisch), einfühlsam, großzügig und körperlich klein. Aber es gibt noch andere Dimensionen: Er ist ein harter Mann, der dennoch tief traurig und von Schuldgefühlen geplagt ist. An jenem Februarabend, als die Konferenz über die ‚Grauzone‘ begann, sagte Gabbai mit vor Emotionen zitternder Stimme: ‚in mir befinden sich zwei Männer‘. Da ist der Mann, den die Menschen normalerweise sehen – sympathisch und bescheiden (…) – und da ist der ‚andere‘ Teil von ihm.“

(Jonathan Petropoulos and John K. Roth: Epilogue – An Intense Wish to Understand, in: Gray Zones Ambiguity and Compromise in the Holocaust and its Aftermath, New York/ Oxford 2005, p. 392, aus dem Englischen übersetzt von A. Kilian)

Verbrennungshalle mit den letzten erhaltenen Dreimuffelöfen der Firma Topf & Söhne, Krematorium Buchenwald, © Andreas Kilian 2005

Um den Schritt der Zeugenschaft überhaupt gehen zu können, musste er sich seiner Aussage aus dem Jahre 2014 für die Shoah Foundation zufolge von der anderen Seite seiner Persönlichkeit distanzieren:

Was auch immer ich getan habe, ich will das nicht auf mich beziehen, denn ich habe nichts damit zu tun. Die Sache ist die: wenn Sie das nicht getan hätten, dann wären Sie nicht mehr am Leben.“ (aus dem Englischen übersetzt von A. Kilian)

Doch einige Erinnerungen ließen sich Gabbai zufolge weder verdrängen noch erzählen. Dem Magazin “The Hollywood Reporter” berichtete er im November 2015:

Ich habe in mir Einiges, das ich nie erzählen werden kann. Ich habe so viele Dinge gesehen. Sogar jetzt würde ich gerne schreien, um es aus meinem System herauszubekommen. Aber es geht nicht weg.“ (aus dem Englischen übersetzt von A. Kilian)

Nach dem Erfolg des Oscarprämierten Spielfilms „Son of Saul“ (H 2015) von László Nemes und dem dadurch gesteigerten Interesse am Thema Sonderkommando wurde Gabbai in zahlreichen Zeitungs-Interviews und Artikeln als Sonderkommando-Überlebender verewigt und für die Öffentlichkeit zu einem der interessantesten Auschwitz-Zeugen seiner Zeit: fälschlicherweise wurde ihm bereits verfrüht – spätestens im Jahre 2015 – der Titel „letzter Überlebender des Sonderkommandos“ verliehen. Dr. Stephen D. Smith, geschäftsführender Direktor der USC Shoah Foundation, bezeichnete ihn als „einzigen Menschen auf dem Planeten“, der sagen könne, er habe das Geschehen mit eigenen Augen gesehen. Zu diesem Zeitpunkt lebten in den USA allerdings noch die beiden Augenzeugen Morris Kesselman und Emanuel Mittelman. Kesselman verstarb am 11. Mai 2016 mit 89 Jahren, Mittelman verstarb am 16. Februar 2019 in Oak Park, Michigan, im Alter von 94 Jahren.

Birkenaus Vorläufer-Ofen: Dreimuffelofen der Firma Topf & Söhne im Krematorium Buchenwald, © Andreas Kilian 2005

Anlässlich der Feierlichkeiten des 70. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz besuchte Dario Gabbai zum dritten Mal und als letzter Augenzeuge aus dem Krematorium am 26. Januar 2015 den Schauplatz des Massenmords in Birkenau.

Am 20. Oktober 1999 erschien der ausführliche Artikel von Beverly Beyette über Dario Gabbai mit dem Titel „The men who saw the Final Solution“ in der Los Angeles Times. Am Ende des Artikels werden Gabbais Worte über die Bürde seiner Erinnerungen zitiert: „Wir werden es bis zu unserem Tod mitnehmen.

Mit dem letzten Zeugen aus dem Sonderkommando ist auch ein beeindruckender Mensch verstorben, der viele Jahre lang sein Wissen vor allem jungen Menschen im Rahmen von Zeitzeugengesprächen und Filminterviews weitergegeben hat, obwohl er danach wochenlang unter Alpträumen litt.

Die Pflicht, dieses Wissen zu bewahren und zu verbreiten, wurde nun endgültig an nachfolgende Generationen übergeben. Möge Dario Gabbai von dieser Last und Verantwortung befreit sein und in Frieden ruhen. Und möge sein Tod auch an den großen Verlust der vielen anderen Sonderkommando-Überlebenden erinnern, die in aller Stille und zum Teil sogar völlig unerkannt von uns gegangen sind und damit ihr Recht auf ihre letzte Ruhe und ihren Anspruch auf Privatsphäre gewahrt hatten.

Schornstein der Dreimuffelöfen in Buchenwald, © Andreas Kilian 2005


Die Seelenqual, unter der viele Überlebende litten, beschrieb bereits der Sonderkommando-Häftling Salmen Gradowski, der den Aufstand des Sonderkommandos am 7. Oktober 1944 nicht überlebte, aber seine vergrabenen testamentarischen Aufzeichnungen mutig der Nachwelt überliefern konnte:

In dem höllischen Leben (…) hatte ich noch nie auch nur einen Tag, einen Tag, an dem ich mich in meine eigene Welt hätte zurückziehen und dort mein großes Unglück wirklich hätte sehen, fühlen, spüren können. Die Routine der systematischen Vernichtung unseres Volkes, in der ich jeden Tag lebe, überschreit und verwirrt das individuelle Unglück und stumpft alle Gefühle ab. (…) Und wer weiß, ob ich einmal werde weinen und meine schauerlichen Leiden richtig fühlen können, wer weiß?

(In: Die Zertrennung – Aufzeichnungen eines Mitglieds des Sonderkommandos. Herausgegeben von Aurélia Kalisky unter Mitarbeit von Andreas Kilian, Berlin 2019, S. 220)


(Letzte Änderung: 06.04.2020)

Hinweis: Der Autor dankt Marcello Pezzetti und Sara Berger (Fondazione Museo della Shoah, Rom) für die Zustimmung zur Veröffentlichung von zwei Fotos auf www.sonderkommando-studien.de.




     

Filip Müller ca. 1955 und 1979, Archiv Kilian

Filip Müller

(03.01.1922 Sered an der Waag – 09.11.2013 Deutschland)

 

Der leise Abschied des bekanntesten Kronzeugen aus dem

Sonderkommando von Auschwitz-Birkenau –

zum Gedenken an den einjährigen Todestag von Filip Müller

Von Andreas Kilian
 

Wer Filip Müllers Stimme einmal gehört hat, vergisst sie nie. In den 2004 veröffentlichten Tondokumenten des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses und in Claude Lanzmanns 1985 uraufgeführten Dokumentarfilm „Shoah“ wurde sie verewigt. Der tragischen Ermordung von Frauen und Kindern des Theresienstädter Familienlagers in der Nacht vom 8. Auf den 9. März 1944 setzte Müller in Lanzmanns Meisterwerk ein Denkmal. Sein berührender Weinkrampf und die vergebliche Bitte, die Kamera abzustellen, wurde zu einer der unvergesslichsten und eindrucksvollsten Szenen des ganzen Films, einer Szene, die einige Menschen zur Beschäftigung mit der Todesfabrik Auschwitz bewegt hat. Mit ihr begann im Jahre 1992 meine Forschungstätigkeit zur Geschichte der jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau und seit Juli 1995 ein freundschaftlicher Kontakt mit dem Mann, der das Bild der jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau entscheidend geprägt hat. In Filip Müller habe ich meinen Lehrer gefunden.

Filip Müller und insbesondere sein bewegender Bericht „Sonderbehandlung. Drei Jahre in den Krematorien und Gaskammern von Auschwitz“ aus dem Jahr 1979 hat Generationen von Auschwitz-Forschern geprägt. Es handelt sich hierbei um die erste in Deutschland veröffentlichte Erinnerungsschrift eines Augenzeugen, der die Massenvernichtung in den Krematorien und Gaskammern in Auschwitz- Birkenau als Häftling des jüdischen Sonderkommandos und Krematoriumskommandos über einen Zeitraum von 19 Monaten miterlebt hat. Zudem ist es der einzige Bericht eines überlebenden ehemaligen Sonderkommando- Häftlings, der die Ereignisse über einen Zeitraum von 32 Monaten beschrieb und der erste literarische Versuch einer Gesamtdarstellung der Sonderkommando-Geschichte. Damit steht Müllers Werk den Zeugnissen der bekannten Chronisten des Sonderkommandos wie Salmen Gradowski, Salmen Lewenthal und Lejb Langfuss inhaltlich in nichts nach.

Diese Leistung verdient größte Hochachtung und Wertschätzung, nicht nur, weil sich Müller für die Anfertigung seiner Erinnerungsschrift jahrelang erneut intensiv mit dem Grauen der Mordfabrik konfrontieren musste. Bescheiden wie er war, wollte er jedoch nie im Rampenlicht stehen, keinen literarischen oder historischen Erfolg, keinen Profit aus seinen Erinnerungen erzielen. Der ruhige und sanftmütige Mensch wollte aufklären und die Wahrheit ans Licht bringen, selbst wenn er sich damit gegen vorherrschende historische Darstellungen wandte, die politisch bestimmt waren. Das machte ihn unbequem, weshalb er auch nie die Aufmerksamkeit erhielt, die er verdient hätte.

Cover der deutschen Erstausgabe 1979

Bereits in Prag hielt Müller Vorträge vor Antifaschistischen Vereinigungen, er sprach weitaus früher öffentlich über seine Erlebnisse als jeder andere Sonderkommando-Überlebende. Auch in diesem Fall war Filip Müller seiner Zeit voraus, aber die Öffentlichkeit war für seine Berichte noch nicht bereit. Das Wissen und Verständnis von Auschwitz war zu jener Zeit oberflächlich, die historische Darstellung sehr tendenziös und der Wille zur Aufarbeitung und Auseinandersetzung kaum vorhanden. Darum wurde Müllers Zeugenschaft anfangs häufig nicht ernst genommen, ging man doch davon aus, dass kein Häftling das Sonderkommando überlebt hätte. Dieses Schicksal begleitete Filip Müller bis zu seinem Lebensende. Vorausgesehen hatte er dies bereits 1946: „Im Krematorium habe ich viel erlebt und Szenen gesehen, von denen die Welt niemals etwas hatte erfahren sollen. Man hatte nicht damit gerechnet, dass ich, ein Augenzeuge, alles überleben würde, aber auch ich selbst hatte niemals damit gerechnet, jemals die Freiheit wiederzusehen. Ich will und kann auch gar nicht alles bis ins einzelne schildern. Es ist viel zu viel und so grauenhaft, dass es die meisten gar nicht glauben würden. Nicht einmal ich selbst kann heute begreifen, was ich alles habe miterleben müssen.“

In einer der ersten Erinnerungsschriften eines Auschwitz-Überlebenden schrieb Fredy Bauer, der Kontakt zum Sonderkommando hatte, bereits im September 1945 Ähnliches: „Ihr, geehrte Leser, werdet niemals begreifen können, dass all dieses Grauen möglich gewesen ist. (…) Die Welt wird es mir nicht glauben aber wissen muss sie dennoch alles.“ und „Es war immer unser Wunsch das Unrecht hinaus schreien zu können, das gegen Millionen wehrloser Menschen begangen wurde.“ („Ich sing mich durch die Hölle“, Übersetzung aus dem Schwedischen: Susanne Schramm)

Als Müller meinte, seine selbst auferlegte Verpflichtung zur Aufklärung erfüllt zu haben, zog er sich vor 30 Jahren aus der Öffentlichkeit zurück. Zu diesem Zeitpunkt hatten andere Sonderkommando-Überlebende bis auf zwei Ausnahmen (Dov Paisikovic 1964 und 1975 sowie Jakov Silberberg 1980) noch nicht einmal begonnen, über ihre schrecklichen Erlebnisse außerhalb von Gerichtsverfahren zu sprechen, geschweige denn ihre Erinnerungen zu publizieren.  Die frühen Berichte von Paul Bendel, Andre Lettich und Miklos Nyiszli aus den Jahren 1946 und 1947 wurden von Überlebenden verfasst, die alle nur vorübergehend als medizinisches Betreuungspersonal des Sonderkommandos tätig waren. Von den jüdischen Komitees im Nachkriegspolen oder in den Displaced Persons Camps Europas gesammelte Aussagen ehemaliger Sonderkommando-Häftlinge wurden nur vereinzelt und in unbedeutenden kurzen Auszügen Jahrzehnte später veröffentlicht, so z.B. 1975 im Fall von Avraham-Berl Sokol und Lemke Pliszko, die sich jedoch darin nicht zu ihrer Sonderkommando-Tätigkeit bekannten.

Die Hintergründe zu Müllers Rückzug Anfang der Achtziger Jahre kennen die wenigsten. Im Gedenken an einen bewundernswert mutigen, willensstarken und standhaften Menschen sollen sie im Folgenden beleuchtet werden.

Von Zufällen und Wundern

Filip Müller wurde am 3. Januar 1922 im slowakischen Sered an der Waag geboren und Mitte April 1942 mit dem fünften RSHA- Transport und dem ersten Transport mit jüdischen Männern aus der Slowakei, in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Von seinem 1000 Menschen zählenden Transport überlebten schätzungsweise nur 10 Menschen das Kriegsende. Kurze Zeit nach seiner Ankunft in Auschwitz wurde er strafweise dem berüchtigten Krematoriumskommando im Stammlager zugeteilt. Einen Monat später entkam er diesem Todeskommando durch Bestechung, überstand die schwere Zwangsarbeit beim Aufbau des  IG-Farben-Werks und die kraftraubenden täglichen Transporte von Auschwitz-Birkenau nach Monowitz. Müller gehörte zu den ersten Häftlingen des Ende Oktober 1942 eröffneten Nebenlagers Monowitz und überlebte dort im Frühjahr 1943 die Selektion als geschwächter Häftling und seine Überstellung in das Vernichtungslager Birkenau. Dabei konnte er seine durch einen Arbeits-Unfall verursachte lebensgefährliche Verletzung verbergen und von Kameraden durch eine illegale und geheime Operation im Birkenauer Krankenbau gerettet werden. Die von Freunden organisierte Überstellung in das Kartoffelschälerkommando rettete durch Schonung erneut sein Leben. Doch die vermeintliche Sicherheit währte nur kurz: im Juli 1943 wurde Müller vom Lagerführer wiedererkannt und strafweise in das Sonderkommando einverleibt.

Auch in dieser Situation entging er einmal mehr nur knapp dem Tod, denn als Geheimnisträger erwartete ihn ohne Genehmigung grundsätzlich außerhalb des isolierten Kommandos „auf der Flucht“ der Tod. Als Heizer und Krematoriums-Facharbeiter war er jedoch in den Augen der SS vorerst zu wertvoll, um liquidiert zu werden. Im Sonderkommando überlebte er nicht nur das alltägliche Grauen in der Todesfabrik, sondern auch gefährliche Situationen wie Widerstandshandlungen und Aufruhr von vor ihrer Ermordung stehenden Opfern, Fluchtaktionen von Mithäftlingen, Schmuggelaktionen in andere Lagerteile, konspirative Treffen der Widerstandsgruppe im Sonderkommando sowie fünf Liquidierungen von Teilen des Krematoriums- und Sonderkommandos und vor allem den mutigen aber verzweifelten Aufstand des Sonderkommandos am 7.Oktober 1944. Einzelne Selektionen im Sonderkommando überlebte der umgängliche Filip Müller aber auch, weil er vom Krematoriumsleiter Hubert Busch geschützt wurde. Als erfahrener Häftling mit der niedrigen Registrierungsnummer 29236 wurde Müller im Kommando durch Funktionshäftlinge protegiert. Ihm wurde sogar ein Kapo-Posten angeboten, den der friedfertige Geiger jedoch ablehnte. Er unterhielt Kontakte zu einflussreichen Häftlingen in anderen Lagerteilen und war auch durch seine vorübergehende Vertrauensstellung als Kalfaktor im Lager privilegiert. Dadurch hatte er eine Bewegungsfreiheit, die anderen vorenthalten blieb. Seine Stellung erlaubte es ihm sogar, sich im Spätsommer 1944 von einem griechischen Mithäftling aus dem Sonderkommando, der Auftragsarbeiten als Maler durchführte, portraitieren zu lassen.

Unter Lebensgefahr versorgte er sogar drei Flüchtlinge aus Auschwitz-Birkenau mit Hilfsmaterialien und Beweismitteln aus der Todeszone um die Außenwelt über die Mordmaschinerie zu informieren. Doch die Opfer auf dem Krematoriumsgelände konnte Müller nicht retten. Dies führte ihn in eine tiefe Krise, die während der Liquidierung des Theresienstädter Familienlagers ihren Höhepunkt fand. In einem Outtake des Claude Lanzmann-Films „Shoah“ schildert Müller seine Verzweiflung während dieses tragischen Ereignisses:

„Hab ich mir gesagt, was würde überhaupt mein Leben für einen Sinn haben, wenn ich mal kommen würde, vielleicht als ein freier Mann, wenn ich niemandem begegnen würde von diesen Menschen. Da hab ich mich entschlossen, in die Gaskammer mit denen zu gehen. (…) Nach einigen Minuten kamen einige Mädchen vor mich, die waren nackt schon, die waren ausgezogen. Und da kam eine und fragte mich, ein schwarzes Mädchen, sie stellte sich vor mit Namen Jana:‘ Ich bin Jana und ich frage Dich, was hat denn Dein Freitod was Du machen willst für einen Sinn? Das hat doch keinen Sinn. Du kannst uns nicht helfen, im Gegenteil, Du musst leben und berichten, was für einen qualvollen Tod wir da erlitten haben.‘ (…) Und plötzlich kam zu mir der Kapo Kaminski und sagte mir:’Filip, was hast Du denn sowas gemacht, Du wirst doch denen so einen Gefallen nicht machen, und Dich denen selbst erlegen. Wir brauchen Dich noch. Du bist jung, Du kannst noch vieles machen und vielleicht nochmal überleben. In dem Moment ist mir viel Kraft in mich gekommen. Ich hatte wieder Sehnsucht zum Leben. Ich kann es nicht verstehen, wie es möglich war. Vorher wollte ich mir das Leben nehmen und jetzt eine große Sehnsucht. Der Kapo Kaminski hat so überzeugend auf mich gesprochen, dass es so eine große Wirkung auf mich gemacht hat. Und so hab ich die schreckliche Nacht dann überlebt.“ (Outtake des Lanzmann-Interviews mit Filip Müller, STORY RG-60.5012,  FILM ID: 3206-3215, USHMM)

Ruinen der Hofmauern zwischen den Sonderkommando-Häftlingsblöcken 11 und 13 und der Sanitärbaracke des Sonderkommandos  in Bauabschnitt B II d des KL Auschwitz-Birkenau, © A.Kilian 1994

Müller gelang es schließlich mit etwa 90 anderen Häftlingen aus dem letzten Sonderkommando während der Lager-Evakuierung am 18. Januar 1945 Birkenau unerlaubt zu verlassen und somit einer restlosen Beseitigung der unvergleichlichen Augenzeugen zu entgehen. Nach einer Übernachtung im Stammlager Auschwitz, wo die SS vergeblich nach Häftlingen des Sonderkommandos suchte, wurden die unentdeckten Geheimnisträger in andere Lager überstellt. Filip Müller überlebte die Todesmärsche bis in das Mauthausener Nebenlager Gusen, wo ihn der ehemalige Krematoriumsleiter Johann Gorges wiedererkannte aber nicht an die Lagergestapo auslieferte, obwohl auch hier die SS nach Sonderkommando-Überlebenden suchte, und von dort Mitte April 1944 bis in das Auffanglager Gunskirchen. Dort erlebte er völlig apathisch und schwer krank am 4. Mai 1945 die Befreiung durch die US-Army. Ein Fünftel der auf dem Lagergelände befreiten kranken Häftlinge überlebte ihre Entkräftung nicht. Filip Müller litt noch sein Leben lang unter den Folgen der Lagerhaft, seit Kriegsende überstand er insgesamt 13 Operationen. Unter den etwa 110 Überlebenden der schätzungsweise 2200 jüdischen Sonderkommando-Häftlinge gehört Müller zu den wenigen und insgesamt nur fünf Männern, die bereits im Jahre 1942 im Krematoriumskommando des Stammlager Auschwitz arbeiten mussten.

Filip Müller war ein bescheidener Überlebenskünstler, der seine Fähigkeit schwierigste Situationen zu überstehen, häufig herunterspielte: „dem Tod bin ich nur durch glückliche Zufälle, eigentlich durch ein Wunder entronnen. Was ich erlebt habe, erscheint mir heute unglaublich, wie ein böser Traum.“

Sein bemerkenswerter Überlebenswille beeindruckte viele Menschen, so auch den Regisseur Claude Lanzmann: In einem ZEIT-Interview aus dem Jahre 2013 wurde der Regisseur gefragt, ob der Mensch Claude Lanzmann beim Drehen manchmal an seine Grenzen gekommen sei. Lanzmann antwortete: „Ja, beim Gespräch mit Filip Müller, der als Mitglied des jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz fünf Liquidationswellen überlebt hat. Einmal, während der Dreharbeiten zu Shoah, sagte er zu mir: ‚Ich wollte leben, unbedingt leben, noch eine Minute, noch einen Tag, noch einen Monat länger. Begreifen Sie: leben.‘(…).

Filip Müller bleibt in vielerlei Hinsicht unvergessen. Wer ihn einmal erlebt hat, wird die bleibenden Eindrücke bewahren. Die Zeugnisse, die Filip Müller hinterlassen hat, machen ihn unsterblich.

Der „Kronzeuge“ vor Gericht

In Folge seiner Lagerhaft blieb Filip Müller bis 1953 arbeitsunfähig und musste in dieser Zeit meist in Sanatorien behandelt werden. Auf Wunsch des ehemaligen Auschwitz-Überlebenden und Freundes Erich Kulka gab er seinen ersten Bericht in einem Prager Sanatorium zu Protokoll. Dieser wurde auf vier Seiten bereits 1946 in der frühen Auschwitz-Darstellung „Die Todesfabrik“ von Ota Kraus und Erich Kulka (alias Schön) in tschechischer Sprache veröffentlicht. Trotz seiner schlechten gesundheitlichen Verfassung nahm Müller die Last der Zeugenschaft auf sich und sagte in den Jahren 1958 bis 1973 in mehreren Beweisaufnahmen vor Gericht aus, zudem stellte er sich in Gerichtsprozessen als Zeuge zur Verfügung, zuerst im Krakauer Auschwitz-Prozess 1947, wo er allerdings laut eigener Aussage aus Angst vor den polnischen Behörden nicht den polnischen Kapo Morawa belasten konnte, danach 1964 im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess, schließlich im zweiten Frankfurter Auschwitz-Prozess 1966. Ein wesentlicher Beweggrund seiner Zeugenschaft war aber auch die Tatsache, dass viele Gerüchte über die Massenvernichtung in Auschwitz-Birkenau im Umlauf waren. In einem Gespräch mit dem Verfasser sagte Müller im Jahr 2002 dazu folgendes: „Nach dem zweiten Weltkrieg wollte jeder von den Überlebenden ein Alleswisser sein und das geheimnisvolle Sonderkommando hat sie so gereizt, dass sie vielmals fantasiert haben. (…) Meine Aufgabe war es, zu zeigen, was sich zwischen den Wänden abgespielt hat und wie es möglich war, innerhalb von 24 Stunden fast dreißigtausend Menschen zu erledigen. Dieses Geheimnis zu zeigen, das war meine Aufgabe.“

Im Krakauer Auschwitz-Prozess trug seine Aussage gegen die Angeklagten Aumeier und Grabner zu deren Verurteilung maßgeblich bei. Im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess folgte das Gericht im Urteil des Hauptverfahrens Müllers Aussagen zur Rolle des Angeklagten Stark, in der mündlichen Urteilsbegründung des Vorsitzenden Richters bezog man sich zudem auf Müllers Aussagen zum Angeklagten Dr. Frank. Auch Müllers Angaben im Fall des Angeklagten Dr. Lucas wurden berücksichtigt. Im Fall Stark ging das Gericht auf die Glaubhaftigkeit der von Müller geschilderten Vorfälle ein: „Es spricht sogar für die Glaubwürdigkeit Müllers, dass er die auf den ersten Blick unwahrscheinlich erscheinenden Dinge so geschildert hat, wie er sie in seinem Gedächtnis bewahrt hat.“

Die Außergewöhnlichkeit von Müllers Erlebnissen sowie sein enormes Detailwissen und seine gründlichen Beschreibungen machten den ehemaligen Finanzbeamten sowohl zum Angriffsziel der Verteidigung im ersten Auschwitz-Prozess, die ihn im Verfahren gegen den Angeklagten Stark als „Schlüsselfigur“ bezeichnete und mit allen Mitteln als unglaubwürdig hinzustellen versuchte, aber auch zum bedeutenden Feindbild für Relativierer, Zweifler und Auschwitz-Leugner. Grundsätzlich störte die ehemaligen Täter und Revisionisten jedoch etwas anderes: Sie verziehen Filip Müller seine einzigartige Zeugenschaft und die Besonderheit seines Überlebens nicht. Der Angeklagte Kaduk kam so in Konfrontation mit der Aussage des Sonderkommando- Überlebenden Buki im Jahre 1962 zu der Schlussfolgerung: „Es erscheint mir ausgeschlossen, dass der Zeuge als Angehöriger des »Sonderkommandos« den Aufenthalt in Auschwitz überlebt hat. Ich weiß mit Bestimmtheit, dass die Angehörigen des Sonderkommandos von Zeit zu Zeit restlos beseitigt worden sind. Von den Sonderkommandos blieb dann niemand übrig, auch die Funktionshäftlinge fielen der Vernichtung anheim. Ich habe einmal beobachtet, wie ein Sonderkommando von Birkenau in das Stammlager geführt wurde, um dann in dem Kleinen Krematorium umgebracht zu werden.“

Doppel-Muffel-Ofen eines Einäscherungsofens im Alten Krematorium des KL Auschwitz, © A.Kilian 2004

Müller musste sein Überleben im Sonderkommando sogar vor dem vorsitzenden Richter rechtfertigen. Bis dahin war man basierend auf Legenden davon ausgegangen, dass die Häftlinge des Sonderkommandos alle drei bis vier Monate liquidiert worden wären. So waren alle Sonderkommando-Überlebenden Ausnahmeerscheinungen, mit denen ihre Umwelt nur schwer umgehen konnte und wurden dadurch erneut stigmatisiert und zum Opfer der Nachkriegsgesellschaft. Nicht selten wurden sie deshalb von Besserwissern ignoriert, belächelt und von Zweiflern ausgelacht oder beschimpft.

Müller aber konnte sich dem Albtraum Auschwitz nach seiner Befreiung nicht entziehen, daran hinderten ihn nicht nur die inneren Zustände sondern auch die äußeren Umstände: Die rasante und durch Emil Aretz 1970 eingeläutete Verbreitung der These von der sogenannten Auschwitz-Lüge, das Erstarken des Rechtsextremismus in West-Europa, die Kolportierung unzutreffender und sensationslüsterner Darstellungen sowie irriger Interpretationen über das Sonderkommando durch andere Auschwitz-Überlebende –  insbesondere durch Miklos Nyiszli (in englischer Übersetzung 1960), Alfred Fiderkiewicz (1965), Hermann Langbeins „Menschen in Auschwitz“ (1972; 1995 einen Monat vor seinem Tod auf Betreiben des Verfassers zum Teil revidiert) und das Sonderkommando-Bild der Philosophin Hannah Arendt (1963).

Auch die juristische Verfolgung der Verbrechen von Auschwitz sowie zwei schicksalhafte Begegnungen mit ehemaligen Peinigern zwangen Filip Müller dazu, wiederholt Zeugnis abzulegen. Auf dem Parkplatz einer Autobahnraststätte erkannte Müller 1961 geschockt seinen ehemaligen Krematoriumsleiter Johann Gorges wieder und erstatte Anzeige gegen ihn, woraufhin ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. Bereits 1962 vernommen, blieb Gorges jedoch bis zu seinem Tod im Jahre 1971 nahezu unbehelligt. Mitte der Siebziger Jahre erkannte Müller den ehemaligen Chef der Birkenauer Krematorien, Peter Voss, in einem deutschen Kurpark wieder, doch völlig paralysiert konnte er damals die Verfolgung nicht mehr aufnehmen. Voss wurde für seine Verbrechen in Auschwitz nie belangt, er starb ungefähr ein Jahr nach der zufälligen Begegnung mit Müller. Gelegenheit, seinen ehemals in den Krematorien eingesetzten SS-Peinigern vor Gericht gegenüberzutreten, hatte Müller jedoch nie. Er blieb Belastungszeuge für andere Repräsentanten des Vernichtungslagers. Die wenigen zwischen 1945 und 1950 überhaupt angeklagten SS-Angehörigen des Krematoriumspersonals wurden zum Teil wegen Verbrechen in anderen Lagern verurteilt, insgesamt wurden fünf Todesurteile gegen Führungspersonal der Auschwitzer Krematorien vollstreckt, das letzte in der DDR am 4.11.1950 gegen den ehemaligen Krematoriumsleiter Karl Fritz Steinberg.

Ruinen des Sonderkommando-Waschraums in der Latrinenbaracke zwischen den Häftlingsblöcken 11 und 13 in Bauabschnitt B II d des KL Auschwitz-Birkenau, © A.Kilian 1994

Das umfassende historische Zeugnis

Nach seiner Emigration in die BRD im Jahr 1969 befasste Filip Müller sich erstmals ernsthaft mit einer Veröffentlichung seiner Erinnerungen und musste dort auch keine Zensur durch die polnisch-kommunistisch geprägte Geschichtsdarstellung von Auschwitz, die den jüdischen Widerstand im Sonderkommando herunterspielte und die Rolle der polnischen Funktionshäftlinge beschönigte, fürchten. Das erste und zweite Kapitel seines Berichts wurde um das Jahr 1972 in Tschechisch niedergeschrieben und anschließend ins Deutsche übersetzt. Dabei seien Müller zufolge über 100 Seiten seines Erinnerungsberichts wieder gestrichen worden, weil er befürchtete, dass ihm die darin beschriebenen Ereignisse niemand glauben würde. Nach Gideon Greifs Veröffentlichung „Wir weinten tränenlos…“ (1995) von Interviews mit sieben ehemaligen Sonderkommando-Häftlingen wäre dies sicherlich nicht geschehen. Doch für Müllers Zeugenschaft schien die Leserschaft noch nicht bereit. Das dritte und vierte Kapitel von „Sonderbehandlung“ wurde gleich in deutscher Sprache verfasst und in den folgenden Jahren von dem Richter Dr. Helmut Freitag literarisch bearbeitet sowie emotional entschärft. Der deutschen Nachkriegsgesellschaft wollte man offenbar nicht zu viel zumuten. Erinnerungsberichte anderer Überlebender im gleichen Zeitraum, die im Ausland publiziert wurden, hatten da einen anderen, vor allem anklagenden Ton. Müllers Absicht war dies hingegen nicht.

Filip Müller brauchte insgesamt 15 Jahre für die Abfassung seiner außergewöhnlichen Erinnerungen und arbeitete davon sieben Jahre intensiv an der deutschen Fassung. 34 Jahre nach seiner Befreiung wurde seine autobiographische Erinnerungsschrift „Sonderbehandlung“ erstmals in England, den USA und Deutschland veröffentlicht, und öffentlichkeitswirksam als „einzigartiges Dokument“ und als „Zeugnis des einzigen Mannes, der das jüdische Volk sterben sah und überlebte, um zu berichten, was er gesehen hat“ vermarktet. Im Jahr 2006, 20 Jahre nachdem Müllers Buch bereits vergriffen war, erhob der ein Jahr vor Müller verstorbene Sonderkommando-Überlebende Shlomo Venezia mit seinem aus Interviewteilen zusammengesetzten Zeugenbericht den Anspruch „das erste umfassende Zeugnis eines Überlebenden“ vorgelegt zu haben, als wenn Filip Müllers Hinterlassenschaft bereits in Vergessenheit geraten wäre. So wird Altes immer wieder neu „erfunden“.

Doch der Weg zur Veröffentlichung von „Sonderbehandlung“ war steinig: Der Schriftsteller Gerhard Zwerenz machte bereits im April 1977 in verschiedenen Rundfunksendungen auf das 300-schreibmaschinenseitige Manuskript Müllers aufmerksam, jedoch ohne Resonanz. Er erinnert sich: „Überall, wo ich bisher das Manuskript zum Druck empfahl, stieß ich auf die gleiche Reaktion. Man verspricht sich geschäftlich gar nichts von einer Auflage.“

Erst zwei Jahre später hatten Zwerenz Bemühungen Erfolg, Anfang Juli 1979 wurden Filip Müllers Überlebendenmemoiren  im Münchner Verlag Steinhausen veröffentlicht und im April 1980 schließlich vom Bertelsmann-Verlag mit einer Gesamtauflage von etwa 100.000 Exemplaren herausgegeben. Müllers Erinnerungsbericht erschien jedoch nicht etwa erstmals in der deutschen Originalausgabe, sondern in englischer Übersetzung. Die britische Ausgabe wurde Mitte Mai 1979 unter dem Titel „Auschwitz Inferno. The testimony of a Sonderkommando“ im Londoner Verlag Routledge & Kegan Paul veröffentlicht, die US-amerikanische Ausgabe erschien Ende Mai 1979 unter dem Titel „Eyewitness Auschwitz. Three years in the gas chambers at Auschwitz“ im New Yorker Verlag Stein & Day.


Eingangstor zum Hof des Sonderkommando- Blocks 13, © A.Kilian 1994

Zwanzig Jahre später wurde “Eyewitness Auschwitz” im September 1999 erneut im Ivan R. Dee-Verlag, Chicago, in englischer Sprache aufgelegt, jedoch ohne das Einverständnis des Autoren. Die erste französischsprachige Ausgabe wurde (unvollständig und unpräzise übersetzt) Ende April 1980 unter dem Titel „Trois ans dans une chambre a gaz“ im Pariser Verlag Pygmalion-Gerard Watelet herausgegeben, mit einem Vorwort von Claude Lanzmann. Jenem Filmemacher und Journalisten, der ein Jahr zuvor den außergewöhnlichen Zeugen Filip Müller drei Tage lang interviewt hatte und dessen Filmaufnahmen zu einem der Höhepunkte in dem neunstündigen Meisterwerk „Shoah“ (1985) wurden.

Das ungewollte Vermächtnis und der Terror

Nach Abschluss der Dreharbeiten bat Müller den intellektuellen französischen Dokumentarfilmer schriftlich darum, seine gefilmten emotionalen Zusammenbrüche nicht zu veröffentlichen. Lanzmann ignorierte Müllers Wunsch und rechtfertigte sich 1985 indirekt in einem Interview von „Cahiers du Cinéma“: „Das Interview, das ich mit Filip Müller drehte, der im zweiten Teil des Films das Massaker an den tschechischen Familien im Lager schildert, gestaltete sich sehr schwierig; er wollte anfangs nicht darüber reden. Ich habe drei Tage mit ihm gedreht, obwohl es klar war, dass das Gespräch so nicht zu gebrauchen war. Aber ich habe seine Worte, seine Stimme über Landschaften von heute gelegt, unaufhörlich vom on ins off wechselnd.(…)“. „Ich war verpflichtet, den Film mit dem zu machen, was ich hatte. Es gab außergewöhnliche Szenen, die sozusagen den Kern bildeten, um den herum ich dann den Film aufgebaut habe, z.B. als Filip Müller das Massaker im Familienlager schildert, zusammenbricht und weint. Das ist eine ganz wesentliche Geschichte, die für mich eine Reihe von grundlegenden Dingen verkörpert: Wissen/Nichtwissen, Täuschung, Gewalt, Widerstand.“

Die Rücksichtslosigkeit Lanzmanns traf Müller schwer, insbesondere weil der Zeitzeuge nach der Veröffentlichung seiner Erinnerungsschrift „Sonderbehandlung““ zum Opfer und Haupt- Angriffsziel von Auschwitz-Leugnern und Revisionisten im In- und Ausland wurde. Von Schweden ausgehend richtete sich eine antisemitische und obszöne Hetz-Kampagne gegen Müller, die ihn und seine Familie bedrohte und terrorisierte. Niederträchtige diffamierende Flugblätter, auf denen seine vollständige Adresse und Telefonnummer abgedruckt waren, forderten seine Verurteilung als Kollaborateur und Mörder. Er wurde als Krimineller und Lügner verleumdet, erhielt Morddrohungen und wurde von einem polizeibekannten Psychopaten verfolgt, der ihm nachstellte und ihn auf offener Straße beschimpfte. Das, was Primo Levi bereits in „Die Untergegangenen und die Geretteten“ beschrieb, nämlich dass „Mit Hilfe dieser Einrichtung (…) der Versuch unternommen (wurde), das Gewicht der Schuld auf andere, nämlich auf die Opfer selbst, abzuwälzen (…)“, wurde nun tatsächlich von Rechtsextremen auf abscheuliche Weise wiederholt. Doch das von Levi 1986 suggerierte „infame Band der aufgezwungenen Mittäterschaft“ zwischen Sonderkommando und SS war ein großes Missverständnis, das der Rolle der Sonderkommando-Häftlinge und der Grauzone ihres Handlungsraums nicht gerecht wurde. Terroristische Vereinigungen verübten gezielte Anschläge, darunter Anfang 1980 ein Sprengstoffattentat auf das Landratsamt Esslingen aus Protest gegen die dortige Auschwitz-Ausstellung. In dieser unerträglichen und erschreckenden Atmosphäre befürchtete Müller nun, dass er nach Lanzmanns Veröffentlichung von „Shoah“ weltweit im Fernsehen zu sehen sein würde und noch mehr drangsaliert werden könnte. Er zog sich schließlich enttäuscht aus dem öffentlichen Leben zurück und verweigerte grundsätzlich Interviewanfragen. Seitdem gestattete Müller auch nicht mehr die Veröffentlichung von Fotos seiner Person zu Lebzeiten oder von Angaben zu seinem Aufenthaltsort. Dabei sorgte er sich weniger um sein Leben, als um das seiner Familie. Im Jahre 1997 schrieb er noch dem Verfasser: „Haben Sie bitte Verständnis dafür wo ich lebe und wo noch einige Rachsüchtige auf Ihre Chance warten.“

Filip Müller war nur einer von zwei ehemaligen Sonderkommando-Häftlingen, die dauerhaft in der BRD lebten. Einige Sonderkommando-Überlebende lebten vor ihrer Auswanderung nach Israel oder den USA in Frankfurt am Main, Stuttgart oder München, doch auch ohne ihr Schicksal in Deutschland öffentlich gemacht zu haben, lebten sie nicht ungefährlich: Henryk Tauber, einer der wichtigsten Zeugen der polnischen und sowjetischen Untersuchungskommissionen im Jahre 1945 und wie Müller ehemaliger Heizer im alten Krematorium des Stammlagers, entging 1946 nur knapp einem Mordanschlag, den sein deutscher Vermieter in München-Steinhausen mit einer Bombe geplant hatte. Das Ereignis fand sogar Erwähnung in der lokalen Presse. Die Gebrüder Dragon mussten sich im Frankfurter Bahnhofsviertel, wo sie einen Juwelier-Laden führten, sogar mit Gewalt gegen Angreifer zur Wehr setzen. Der Judenhass war mit der deutschen Kapitulation nicht untergegangen, aber er war angepasst worden, oder um mit den Worten des israelischen Psychoanalytikers Zvi Rex zu sprechen: „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.“ Die Revisionisten und Verdränger haben Müller seine Zeugenschaft nie verziehen. Der unbeugsame Mut Filip Müllers, Deutschland nicht den Rücken zu kehren, kann vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen daher nicht hoch genug gewürdigt werden.

Verwildertes Gelände hinter den ehemaligen Verbrennungsgruben von Krematorium IV (V), © A.Kilian 1992

In Memoriam

Müller wünschte sich nichts sehnlicher, als in Ruhe und Frieden zu leben, doch die Erinnerung an seine schrecklichen Erlebnisse verfolgte und belastete ihn gesundheitlich bis zuletzt. Frieden schenkte ihm seine wunderbare Familie, die sich aufopferungsvoll um ihn kümmerte, insbesondere seine Frau, mit der er 56 Jahre zusammenlebte und die ihm nach seinen eigenen Worten die Kraft zum Weiterleben gab. Sein Interesse am politischen Zeitgeschehen und an der Beschäftigung mit Auschwitz erlosch bis zuletzt nicht. Nachdem seine Freunde und Bekannten aus Auschwitz im Laufe der Jahre an den Folgen ihrer Lagerhaft verstarben, den Freitod suchten oder aus anderen Gründen verschieden, verlor Filip Müller in den letzten Jahren immer mehr den Kontakt zur Außenwelt. Von Historikern und Feinden bereits seit Jahren totgeglaubt, trotzte der bis zuletzt geistig rege Müller dem Tod mit seinem unbändigen Willen „unbedingt (zu) leben“. Filip Müller verstarb als drittältester der zu diesem Zeitpunkt letzten neun Sonderkommando-Überlebenden unerwartet im Alter von fast 92 Jahren an einem in Deutschland gedenkwürdigen Tag, dem 9. November 2013. Möge die Nachwelt seiner historischen Leistungen würdig gedenken. Wir werden sein Andenken und sein Vermächtnis in Ehren halten.


(Letzte Änderung: 09.12.2019)

Hinweise:

Dieser Artikel ist mit zum Teil anderem Bildmaterial versehen in folgender Ausgabe des Mitteilungsblattes der „Lagergemeinschaft Auschwitz – Freundeskreis der Auschwitzer“ erschienen:

Kilian, Andreas: Ein leiser Abschied. Zum Gedenken an Filip Müller. Nachruf in: Mitteilungsblatt der Lagergemeinschaft Auschwitz, Freundeskreis der Auschwitzer, 34.Jg. (2014), S. 26-39.

Der Autor dankt der Lagergemeinschaft Auschwitz, Freundeskreis der Auschwitzer e.V., Münzenberg, für die Zustimmung zur Veröffentlichung des Artikels auf www.sonderkommando-studien.de.

Eine gekürzte Version des Artikels wurde in englischer Übersetzung veröffentlicht:

Kilian, Andreas: In Memoriam Filip Müller, in: Holocaust and Genocide Studies (Fall 2015) 29 (2): 348-350. Translated from the German by Peter Lande.




      

Shlomo Venezia ca. 1939 und 1997, Archiv Kilian und © A. Kilian 1997

Shlomo Venezia

(29.12.1923 Saloniki – 01.10.2012 Rom)

 

Über die Erinnerungen Marika Venezias an das Grauen über den Tod hinaus

Über ein Familienleben mit Auschwitz nach der Befreiung

Von Andreas Kilian

Vor 60 aufmerksamen Zuhörerinnen fand am 29.06.2016 im Kulturzentrum zakk Düsseldorf ein bewegendes Zeitzeuginnen-Gespräch statt, das vom Bildungswerk Stanislaw Hantz e.V. organisiert und von Roland Vossebrecker einfühlsam moderiert wurde. Nach 19 Monaten reiste die 77-jährige Italienerin Marika Venezia zum zweiten Mal nach Deutschland um Interessierten öffentlich über ihr Leben mit Auschwitz als Witwe des ehemaligen Sonderkommando-Überlebenden Shlomo Venezia zu berichten.

Marika war regelrecht mit Auschwitz verheiratet. Sie bezeichnet sich selbst als „Zeugin des Zeugen“: „Ich hab gesehen er war immer ein bisschen traurig. Aber ich habe ihn nicht gefragt.“ Shlomo bezeichnete seinen Zustand im Dokumentarfilm „Sklaven der Gaskammer“ (SWR 2000) selbst als „Krankheit ohne Namen“. Doch man habe damals nicht darüber gesprochen, sagt sie lakonisch.

Marika Venezia und Roland Vossebrecker, © A. Kilian 2016

Eine Heilung für die Krankheit fanden sie auch nicht. 15 Jahre lang habe sie nicht genau gewusst, was ihr Mann in Auschwitz gemacht habe. Erst später erfuhr sie langsam von seinen Aufgaben im Entkleidungsraum des Krematoriums, den Räumungen der Gaskammer, vom Festhalten der Erschießungsopfer, Haareschneiden der vergasten Frauen und Zerstampfen der Knochenreste. „Ich konnte das nicht einmal glauben. Ich hatte noch nie so etwas gehört (…) und konnte das nicht verstehen.“ kommentiert sie das Gehörte heute noch fassungslos. Ihre drei Söhne erfuhren von Shlomos Erlebnissen sogar erst  aus einem 10-minütigen TV-Beitrag. Seine schrecklichen Alpträume, die Folgen seiner aus dem Lager stammenden TBC-Erkrankung, seine Freudlosigkeit und Zurückgezogenheit ertrug Marika wie eine unveränderbare Gegebenheit, aber sie räumt auch ein: „Es war für mich schwer als junges Mädchen. (…) Nie sind wir tanzen gegangen, nichts Verrücktes haben wir gemacht.“  Schicksalsergeben erklärt sie ihre Haltung mit den Worten „Das habe ich mir ausgesucht. Er sollte nur glücklich sein.“ Im gemeinsamen Nachwuchs habe sie eine Botschaft gesehen: mit den Worten „Du hast gewonnen!“ habe sie Shlomo aufbauen wollen.

Shlomo Venezia und Henryk Mandelbaum während der Dreharbeiten in Rom, © A. Kilian 2000

Marikas Bericht handelt nicht nur von den Auswirkungen des Sonderkommando-Traumas auf die Familienangehörigen, wie dies schon Karl Fruchtmann in seinem filmischen Meisterwerk „Ein einfacher Mensch“ (D 1985) über die in Israel porträtierte Familie Yakov Zylberbergs getan hat, sondern insbesondere von der innigen Liebe zu Shlomo Venezia, der sie als 30-jähriger Mann im zarten Alter von 15 Jahren kennen- und lieben gelernt hatte. Bis zu seinem Tod waren sie 56 Jahre lang verheiratet und unzertrennlich.

„Ich hätte Alles für ihn gemacht, damit er zufrieden ist, damit er beruhigt sein soll.“ sagt sie aufopferungsvoll, als wenn es das Selbstverständlichste auf der Welt wäre. Sie spricht für eine Generation Ehefrau, mit der sich gegenwärtig nur noch wenige identifizieren können. Marika, die selbst bei ihrer Großmutter aufwuchs, erinnert sich voller Bewunderung und Verehrung: „Für mich war er Alles: Mutter, Vater, Bruder.“ Mit dem lebenserfahrenen und KZ-traumatisierten Mann sei sie „alt geworden in einem Moment“. „Aber ich wollte keinen anderen“ schwärmt sie. Shlomo sei ein „sehr guter Mann“ gewesen, fasst Marika zusammen. „Er hat zwanzig Jahre für mich gekocht, er war so perfektionistisch und ordentlich, immer gut gekleidet und hat mir sehr viel geholfen.“ Sie gewährt dem Publikum Einblicke in ein Privatleben nach der Todesfabrik, wie das ansatzweise bereits dem Film von Andrzej Gajewski über Henryk Mandelbaum (PL 1991) gelungen ist. Er sei eine starke Persönlichkeit gewesen, die ihre Kinder sehr streng aber liebevoll erzogen habe. In seinem 2008 auch auf Deutsch erschienenen Buch „Meine Arbeit im Sonderkommando Auschwitz“ dankt Shlomo seiner Frau für die Kindererziehung wiederum mit den Worten: „Ich hatte das große Glück, eine sehr intelligente Frau zu haben, die das alles für mich übernommen hat.“ Inzwischen wurde das Buch in 23 Sprachen veröffentlicht und damit zum am häufigsten übersetzten Sonderkommando-Bericht. Mit 57 Gedenkstättenfahrten nach Auschwitz war Shlomo Venezia der zweite Sonderkommando-Überlebende, der nach seiner Befreiung so zahlreich an seinen Leidensort zurückgekehrt war und am Tatort über die Mordfabrik als direkter Augenzeuge berichtete (Henryk Mandelbaum doppelt so häufig). Seit 1993 wurde er dabei meist von Marika begleitet, die über ihre erste Reise sagt, sie habe sich gefühlt „als wenn ich schon da gewesen wäre“.

Marika und Shlomo Venezia in ihrem Geschäft im Zentrum Roms, © A. Kilian 2000

Als Marika im März 2002 erstmals bereit war, ihre Geschichte für das Buch „Zeugen aus der Todeszone“ publizieren zu lassen, konnte sie sich nicht vorstellen, jemals nach Deutschland zu reisen. Die Lücke, die durch Shlomos Tod am 1. Oktober 2012 entstand sowie ihre positiven Erfahrungen mit Deutschen änderten ihre Vorbehalte in den letzten Jahren allerdings. „Jeden Tag gibt es etwas, was meinen Mann an das Lager erinnert, jeden Tag. Daher gehört es eben auch zu meinem Leben.“ sagte sie seinerzeit.  Die Erinnerungen sind Marika geblieben. Inzwischen begleitet sie vier Mal im Jahr italienische Gruppen alleine nach Auschwitz. Dann wird sie zu Shlomos Stimme und erfüllt damit seinen letzten Willen, im Gedenken an die Opfer authentisch darüber zu berichten, was in den Mordstätten Auschwitz-Birkenaus geschah. Während weltweit nur noch drei ehemalige Sonderkommando-Häftlinge das Geschehen bezeugen können, ist Marika Venezias selbstlose Aufklärungsarbeit gegen Revisionismus, Auschwitz-Leugnung und Antisemitismus ein ehrenwertes Vorbild im Engagement für Menschlichkeit, Toleranz und Versöhnung.

Der viertletzte und jüngste der Überlebenden, Morris Kesselmann, starb am 11. Mai 2016 im Alter von 89 Jahren.

Shlomo Venezia und Luigi Sagi, Begleiter seiner ersten Gedenkstättenfahrt und Sohn eines Opfers des Sonderkommando-Aufstands; © A. Kilian 1997


(Letzte Änderung: 09.12.2019)

Hinweise:

Dieser Artikel ist mit zum Teil anderem Bildmaterial versehen in folgender Ausgabe des Mitteilungsblattes der „Lagergemeinschaft Auschwitz – Freundeskreis der Auschwitzer“ erschienen:

Kilian, Andreas: Zeugin des Zeugen. Über ein Familienleben mit Auschwitz nach der Befreiung. In: Mitteilungsblatt der Lagergemeinschaft Auschwitz, Freundeskreis der Auschwitzer, 36.Jg., H. 1 (2016), S. 4-6.

Der Autor dankt der Lagergemeinschaft Auschwitz, Freundeskreis der Auschwitzer e.V., Münzenberg, für die Zustimmung zur Veröffentlichung des Artikels auf www.sonderkommando-studien.de.




   

Henryk Mandelbaum 1945 und 1998, Archiv Kilian und © A. Kilian 1998

Henryk Mandelbaum

(15.12.1922 Olkusz – 17.06.2008 Bytom)

„Jestem unikatem / Ich bin einmalig“

 

Zum Tode von Henryk Mandelbaum

Von Andreas Kilian

Mit Henryk Mandelbaum ist am 17. Juni in Bytom der in Polen und Deutschland bekannteste Überlebende des jüdischen Sonderkommandos Auschwitz gestorben. Der erste freundschaftliche Kontakt zwischen Andreas Kilian (dem Verfasser des folgenden Nachrufs) und damit einem Mitglied der Lagergemeinschaft Auschwitz – Freundeskreis der Auschwitzer geht auf das Jahr 1994 zurück. Andreas Kilian war damals freiwilliger pädagogischer Mitarbeiter an der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Oswiecim/Auschwitz und koordinierte für die Aktion Sühnezeichen – Friedensdienste Studienaufenthalte von deutschen Gruppen. Sehr schnell nach seiner Bekanntschaft mit Henryk Mandelbaum sei ihm deutlich geworden, versichert Kilian, dass Henryk nicht nur ganz besondere Erlebnisse zu berichten hatte, sondern auch ein außergewöhnlicher Mensch mit einer faszinierenden Weltanschauung war.

Henryk Mandelbaum wurde 1922 im polnischen Olkusz als Sohn einer armen jüdischen Familie geboren. Nach der Besetzung Polens durch die Deutschen wurde seine ostoberschlesische Heimatstadt 1939 in das Deutsche Reich einverleibt und Familie Mandelbaum im Rahmen der nationalsozialistischen Judenverfolgung 1941 in das offene Ghetto nach Dabrowa Gornicza verbracht, wo er als Maurer in einer deutschen Baufirma Zwangsarbeit leisten musste. Vor der Liquidierung dieses Ghettos wurde seine Familie Ende 1942 in das Ghetto nach Sosnowice verlegt. Während dieser „Umsiedlungsaktion“ flüchtete Henryk und lebte unter falschem Namen in wechselnden Verstecken, bis er Ende März 1944 von einem Volksdeutschen Bekannten in Bedzin erkannt und denunziert wurde. Während seine Eltern inzwischen in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort ermordet wurden, wies ihn die Gestapo in das Gefängnis von Sosnowice ein, von wo er am 22. April 1944 mit einem Transport nach Auschwitz überstellt und die Häftlingsnummer 181 970 auf seinen linken Unterarm eintätowiert wurde.

Drei Liquidationsaktionen und den Häftlings-Aufstand überlebt

Einige Wochen später wurde Henryk aus der Quarantäne in das berüchtigte Sonderkommando eingewiesen, das in den Krematorien von Auschwitz-Birkenau die Ermordeten aus den Gaskammern zerren, ihre Körper in Öfen und Gruben verbrennen und die Asche restlos beseitigen musste. Die Gefangenen des Sonderkommandos unterschieden sich von allen anderen Häftlingen im Lager, da sie als einzige im Zentrum der Vernichtung eingesetzt wurden. Wegen seiner Körperkraft wurde Henryk als Leichenschlepper in die Krematorien überstellt und musste die Toten in den Verbrennungsgruben einäschern. Isoliert von Häftlingen anderer Arbeitskom­mandos musste Henryk acht Monate lang das alltägliche Grauen systematischen Mordens miterleben.

Henryk Mandelbaum in Brzezinka, © A. Kilian 1998

Als Augenzeugen der Vernichtung sollten die Sonderkommando-Häftlinge nach der Beendigung von Mordaktionen und im Rahmen von Strafmaßnahmen der SS selbst getötet werden. In einem verzweifelten Aufstand ver­suchten sich Sonderkommando-Häftlinge am 7. Oktober 1944 an ihren Peinigern zu rächen und die Vernich­tungsanlagen zu zerstören. Die Revolte scheiterte und endete in einem Blutbad. Henryk überlebte sie wie durch ein Wunder. Er zählt zu den wenigen Häftlingen des Kommandos an den Krematorien, der drei Liquidierungsaktionen und den Sonderkommando-Aufstand überlebte.

Als Ende Oktober 1944 die Gaskammern in Birkenau zum letzten Mal benutzt wurden, erwartete das Sonderkommando nun seine vollständige Liquidierung, doch gelang es den letzten Überlebenden am 18. Januar 1945 aus ihrer Isolierbaracke auszubrechen und sich unter andere Häftlinge in die Evakuierungskolonnen des Lagers zu mischen. Auf dem Todesmarsch in das Konzentrationslager Mauthausen gelang Henryk in Jastrzebie Zdroj schließlich die Flucht. Er gehört damit zu den wenigen Mutigen, insgesamt neun bekannten Sonderkommando-Häftlingen, die auf dem Todesmarsch flüchteten.


Henryk Mandelbaum auf dem Gelände exhumierter Massengräber in Brzezinka, © A. Kilian 1997

Nach der Befreiung immer wieder Rückkehr nach Auschwitz

Kurz nach der Befreiung Schlesiens durch die Rote Armee kehrte er nach Auschwitz zurück und trug als einer der ersten von insgesamt fünf Überlebenden des Sonderkommandos vor einer sowjetischen Untersuchungskommission zur Aufklärung der nationalsozialistischen Verbrechen in Auschwitz bei. Seine Aussage aus dem Jahre 1945 gilt heute als verschollen. Der erste dokumentierte Erinnerungsbericht für die Sammlung des Staatlichen Auschwitz-Museums wurde erst im Jahre 1971 aufgenommen. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde Mandelbaum von den Historikern des Auschwitz-Museums ignoriert, obwohl er regelmäßig die Gedenkstätte aufsuchte und Kontakt aufnehmen wollte. Erst der polnische Journalist Jan Poludniak verarbeitete Mandelbaums Erinnerungen auch filmisch mit den beiden Kurz-Dokumentationen „Kadencja“ und „Zaglada“. Diese beiden Zeugnisse aus dem Jahre 1988 sind in der Sonderkommando-Filmgeschichte zwei der frühesten Bild- und Ton-Darstellungen von Zeitzeugen überhaupt. Sie sind von vergleichbarer Bedeutung wie die ersten und vorausgegangenen Filmzeugnisse, die Interviews mit Dov Paisikovic in dem Dokumentarfilm der BBC „the world at war“ (GB 1975) und mit Filip Müller in Claude Lanzmanns „Shoah“ (F 1985), oder auch dem Porträt von Jacob Zylberberg in Karl Fruchtmanns Film „Ein einfacher Mensch“ (BRD 1986) sowie der kurzen Filmreportage „pamiec …“ (PL 1986) mit Alter Fainzylberg. Nur wenige Sonderkommando-Überlebende schafften es, an den Ort des grauenhaften Verbrechens zurückzukehren. Henryk war regelmäßig dort, Auschwitz zog ihn geradewegs an, wie er zu sagen pflegte.

Erst als die prominenten polnischen nichtjüdischen Auschwitz-Überlebenden, die sich als „Zeitzeugen“ zur Verfügung stellten immer weniger wurden, das Schicksal der Juden in Auschwitz nach der politischen Wende in Polen nicht mehr relativiert oder verschwiegen wurde und die Geschichte des Sonderkommandos in den Blickpunkt der Auschwitz-Forschung rückte und offen bearbeitet werden konnte, wurde Henryk Mandelbaum für das Auschwitz-Museum und die internationale Jugendbegegnungsstätte in Oswiecim interessant und ernst genommen. Jedoch noch 1995 wurde es nicht für nötig gehalten, ihn bei den Feierlichkeiten des 50. Jahrestags des Sonderkommando-Aufstands als unmittelbaren Zeugen im Gedenkprogramm einen Platz zukommen zu lassen. Der unschätzbare Wert seiner Berichte und seine außergewöhnliche Wirkung auf Besuchergruppen aus dem Ausland wurde leider erst nach langer Zeit, nämlich seit 1998 erkannt, als Henryk in den Kreis der Auschwitz-Überlebenden aufgenommen wurde, die sich regelmäßig für Gespräche mit Gästen der Jugendbegegnungsstätte zur Verfügung stellten.




Henryk Mandelbaum in Brzezinka © A. Kilian 1998

 

Henryk Mandelbaums Bedeutung für die Sonderkommando-Forschung

Die Lagergemeinschaft Auschwitz konnte Henryk in den vergangenen Jahren als Zeitzeugen für die Begleitung ihrer Studienfahrten und als treuen Freund gewinnen. In den letzten zehn Jahren seines Lebens erschöpfte sich Henryk unermüdlich durch regelmäßige Gespräche mit Jugend- und Erwachsenengruppen, vor allem deutschen. Während er noch in den achtziger Jahren von US-amerikanischen Institutionen als besonderer „Zeitzeuge“ erkannt wurde und bereits vereinzelt amerikanische Gruppen durch Auschwitz begleitete, wurde er nun auch vermehrt nach Deutschland eingeladen, um dort – oftmals an der Seite seines Freundes und Auschwitz-Überlebenden Staszek Hantz – von Stadt zu Stadt zu reisen und über sein Schicksal und das der Auschwitz-Häftlinge zu berichten. Kein Sonderkommando-Überlebender stellte sich so lange für so viele Vorträge zur Verfügung wie Henryk Mandelbaum.


Henryk Mandelbaum in Frankfurt am Main © A. Kilian 2004

Von insgesamt 2200 Sonderkommando-Häftlingen in Auschwitz-Birkenau überlebten nur etwa 110 Mann das Kriegsende. Mandelbaum war der einzige, der seit seiner Befreiung von Anfang an dazu bereit war, über das Erlebte öffentlich zu berichten (was in den ersten Jahrzehnten jedoch niemand hören wollte), und der in seinem Heimatland Polen bis zu seinem Tod lebte. Vermutlich nur zwei Überlebende von ehemals 50 polnischen Sonderkommando-Überlebenden emigrierten nicht in das Ausland. Seit den späten neunziger Jahren gehörte Henryk Mandelbaum neben Shlomo Venezia zu den einzigen beiden Sonderkommando-Überlebenden, die interessierten Menschen an den Originalschauplätzen, auf dem ehemaligen Gelände der Krematorien und Vernichtungsanlagen, von ihren Erinnerungen berichteten. Nach seinem Tod sprechen heu­te von den insgesamt noch 11 verbliebenen ehemaligen Sonderkommando-Häftlingen nur noch drei überhaupt öffentlich über das Geschehene.

Henryk Mandelbaum an der Ofenruine von Krematorium IV (V) © A. Kilian 2004

Henryks Vermächtnis findet sich heute in Radio- und Zeitungsinterviews, Dokumentarfilmen, Büchern sowie einer Foto-Ausstellung über sein Leben wieder. Er war der in den internationalen Medien am stärksten vertretene Sonderkommando-Überlebende, den es je gab. Er stand gerne im Mittelpunkt und scheute sich nicht, aus dem Inneren der Hölle von Auschwitz zu berichten, selbst dann nicht, als er dafür verurteilt und verlacht wurde, weil ihm niemand glaubte. Sein furchtloses Auftreten kann nicht hoch genug geschätzt werden: Im Lager legte er sich mit Funktionshäftlingen an, half Kameraden in anderen Lagerab­schnitten mit Medikamenten und Nahrungsmitteln, sabotierte den Goldraub der SS, indem er Wertsachen im Ascheteich versenkte. Nach dem Krieg musste er sich mit Antisemiten und Auschwitz-Leugnern auseinandersetzten; als Ehemann einer deutschen Frau war er zudem mit antideutschen Ressentiments konfrontiert. Henryk hatte kein einfaches Leben und trotzdem blieb er seinem inneren Auftrag treu, Zeugnis von den Verbrechen in Auschwitz abzulegen – auch wenn es lange Jahre dauerte, bis seine Berichte anerkannt und er geschätzt wurde als das, was er war: ein außergewöhnlicher Mensch, ein Unikat, ein einmaliger Mensch. Henryk verstarb an den Folgen einer Herzoperation im Alter von 85 Jahren. Noch eine Woche vor seinem Tod sprach er vor Berufsschülern der BBS 6 aus Hannover und blühte dabei auf. Aus der Begegnung mit jungen Menschen schöpfte er Kraft und Lebensenergie. Trotz gesundheitlicher Probleme kämpfte er bis zuletzt für den Frieden und für seine Wahrheit und sagte stets, er werde über Auschwitz Zeugnis ablegen, bis er tot umfallen würde. Henryk sollte recht behalten.

                   

Henryk Mandelbaum in seinem Garten in Gliwice, mit Historiker Krzysztof Antonczyk und Anderen bei der Aufklärungsarbeit in Brzezinka © A. Kilian 1995, 1997

Wir danken Henryk für seine aufopferungsvolle Kraft, uns seine Erfahrungen und Erlebnissen mitzuteilen und uns vorzuleben, wie ein Mensch unerschütterlich und gegen alle Widerstände für seine Überzeugung seinen Weg gehen kann: für Frieden und Versöhnung auf der Welt. Henryk hinterlässt eine große Lücke, die nicht zu füllen ist. Wir werden seine Herzlichkeit, die ihn liebenswert machte, seine unerschöpfliche Lebensfreude, die an­stecken konnte, seinen einmaligen Humor, der uns zum Lachen brachte und seine unermüdlichen beispiellosen Versöhnungsbemühungen schmerzlich vermissen.


(Letzte Änderung: 09.09.2008)


Hinweise:

Dieser Artikel ist mit zum Teil anderem Bildmaterial versehen in folgender Ausgabe des Mitteilungsblattes der „Lagergemeinschaft Auschwitz – Freundeskreis der Auschwitzer“ erschienen:

Kilian, Andreas: „Jestem unikatem/ Ich bin einmalig“ Zum Tode von Henryk Mandelbaum. Nachruf in: Mitteilungsblatt der Lagergemeinschaft Auschwitz, Freundeskreis der Auschwitzer, 28.Jg., H.1, (2008), S. 8-12.

Der Autor dankt der Lagergemeinschaft Auschwitz, Freundeskreis der Auschwitzer e.V., Münzenberg, für die Zustimmung zur Veröffentlichung des Artikels auf www.sonderkommando-studien.de.

Eine Kurzfassung von Henryk Mandelbaums Porträt wurde mit dem Leporello der Aufklärungs-Kampagne „Gegen das Vergessen“ von shoa.de veröffentlicht.

    

Titelblatt sowie Text und Foto Andreas Kilians im Leporello der Aufklärungskampagne von © shoa.de 2004

    

Pressefotos der Aufklärungskampagne von © shoa.de 2004

www.sonderkommando-studien.de dankt der Redaktion von shoa.de, insbesondere Herrn Stefan Mannes, für die Kooperation und die Genehmigung zur Verwendung der Pressefotos. Weitere Hintergrundinfos über die Kampagne finden sich auf: https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/die-kampagne-gegen-das-vergessen-des-arbeitskreis-shoa-de-e-v/

Der Autor dankt Henryk Mandelbaum und seiner Frau Lydia für ihr langjähriges Vertrauen und die vielen gemeinsamen Gesprächs-Stunden in den Jahren 1994 bis 2006.




Lemke Pliszko in Givat Hashlosha, © ARD 2000

Lemke Pliszko

(24.12.1918 Wysokie Mazowieckie – 24.05.2007 Givat Hashlosha)

Von Dr. Gideon Greif

Am 24. Mai 2007 verstarb Lemke Pliszko, er war alt, krank und müde von seinem traumatischen, schmerzhaften und anstrengenden Leben.

Lemke Pliszko war in seiner Person ein Bauer. Viele Eigenschaften, die dieser Beruf zumeist mit sich bringt, wies sein Charakter auf: er war unkompliziert, untheatralisch, direkt, einfach (im guten Sinne), stark und seelisch sowie physisch robust. Zweifellos waren dies Charakterzüge, die ihn in Auschwitz retteten und ihn zu einer Führungsperson machten. Die Stärke seiner Persönlichkeit war der Grund, warum er auch in Zeiten von Krankheit und Leid bis zu seinem letzten Atem immer ein bescheidenes Lächeln auf seinem Gesicht trug. Bis zu seinem letzten Tag hat er die Hoffnung und die Lebensfreude, die er innehatte und wahrscheinlich auch in Auschwitz Teil seiner Persönlichkeit war, nie verloren. Lemke war kein typischer polnischer Jude, sofern es diesen überhaupt gibt. Er war sehr säkular, auch vor seiner Zeit in Auschwitz. Er war vom religiösen Judentum distanziert, selbstbewusst, mutig und eng mit seiner Heimat, der polnischen Umgebung verbunden. Als ich Lemke zum ersten Mal traf, mochte ich nicht glauben, dass er Häftling in Auschwitz war. Er war ganz und gar kein typischer Überlebender, vielmehr stellte er einen Gegensatz zu ihnen dar.

Lemke Pliszkos Arbeitsplatz im „Kdo. 58-B. Heizer Krematorium II“, © A. Kilian 2017

Geboren am 24.12.1918 in Wisokie, Polen, kam er als junger Mann von 25 Jahren nach Auschwitz. Das genaue Datum seiner Ankunft ist bekannt: es war der 22. Januar 1943, als ein Transport aus Zambrow ihn mitsamt seinen Eltern und seinen acht Geschwistern in das Konzentrationslager in der Nähe von Krakau brachte. Bis zu diesem Tag wusste er nichts über Auschwitz, nichts über die Vernichtungsmaschinerie, die die Deutschen entwickelt hatten, doch mit seiner Ankunft wusste er, dass ihn und seine Familie nichts Gutes erwarten würde. Aus den Waggons gezerrt, fand eine Selektion unter dem Gesichtspunkt des Alters statt. Die Jungen wurden zu Fuß nach Birkenau geschickt, während die Älteren und die Kinder mit Autos und Lastwagen gefahren wurden. Allesamt zu den Duschräumen in Birkenau geschickt, befürchtete Lemke Pliszko, dass er und sein Bruder nun vergast werden würden, doch nichts dergleichen geschah, es handelte sich lediglich um eine gewöhnliche Dusche. Pliszko erinnert sich daran, mit seinem Bruder zusammen in der Dusche gestanden zu haben. Nach diesem Schrecken wurden beide zum Quarantäneblock gebracht, hier blieben sie 10 Tage und erfuhren von den anderen Häftlingen, dass sie ihre Familie nicht mehr wiedersehen würden. Pliszko wurde kurz danach zum Sonderkommando ausgewählt, er wurde dazu herangezogen, die Kleidung, die gesamten Sachen der Opfer zu sortieren und diese dann in Pakete zu schnüren. Sofort wusste er, dass die Kleider den ermordeten Juden gehörten, er sah es an den Papieren und persönlichen Gegenständen, die sich noch in den Taschen der Kleider befanden. Bis zur Fertigstellung des Krematoriums 2 hatte er diese Aufgabe zu erledigen. Noch im Jahr seiner Ankunft wurde das neue Gebäude fertig. Dort sortierte er vor allem die Kleidung der Opfer. Verwandte hat er bei seiner Arbeit niemals getroffen, vermutlich wurden sie alle am Tag ihrer Ankunft sofort vergast. Während seiner gesamten Zeit als Häftling des Sonderkommandos dachte er nie an Flucht oder Selbstmord; er war immer davon überzeugt, dass er dieser Hölle nicht entrinnen kann und in ihr sterben wird. Die Angst begleitete ihn und die anderen Häftlinge die gesamte Zeit, Angst mit den Opfern zu sprechen, sie zu warnen, Angst vor den Bestrafungen, die die Deutschen für sie bereit hielten in Fällen des Regelverstoßes. In zahlreichen Interviews beschreibt Pliszko, wie die Angst den gesamten Ablauf seiner Arbeit beherrschte, aber auch, wie sich die Sonderkommando-Häftlinge an diese schreckliche Situation gewöhnten, gewöhnen mussten und später dort sogar neben den Leichen saßen, dabei aßen oder schliefen.

Ruine des Sonderkommando- Blocks 13, © A.Kilian 1994

Im Jahr 1944 entwickelt sich im Lager Auschwitz eine Kampfgruppe, die einen allgemeinen Aufstand plant, in dem auch die Sonderkommando Häftlinge teilnehmen sollten. Aufgrund sehr unterschiedlicher Interessen zwischen den jüdischen und nichtjüdischen Häftlingen entschieden sich die Sonderkommando-Häftlinge einen selbständigen Aufstand zu machen. Das Hauptproblem war die Besorgung von Waffen. Eine wichtige Quelle war die Munitionsfabrik „Union Metallwerke“, in der mehrere jüdische Häftlinge, Männer und Frauen, arbeiteten. Roza Robota, die in der Bekleidungkammer arbeitete, hat den Kontakt mit den Frauen hergestellt, und diese Frauen haben Sprengstoff herausgeschmuggelt und zum Sonderkommando weitergeleitet. Diese haben vom Sprengstoff einige Dutzend Handgranaten vorbereitet. Durch diesen gelangten die Häftlinge des Sonderkommandos an Sprengstoff. Jede Nacht, wenn das Sonderkommando ins Lager kam um die Toten zu holen, schmuggelten sie Sprengstoff aus dem Lager heraus. Der Sonderkommando-Aufstand war eine mutige Aktion, währenddessen alle direkten Teilnehmer des Sonderkommandos gefallen sind, 451 Männer. Lemke hat überlebt, da er nicht direkt teilgenommen hat. Sein Bruder, der kein Mittglied im Sonderkommando war, wurde trotzdem während des Aufstandes erschossen. Seine Rolle in der Vorbereitungsphase, die sehr bedeutend war, hat Lemke stets relativiert, doch aufgrund der Geheimschriften seiner Kameraden wurde schnell offensichtlich, welch bedeutende Rolle er hier einnahm. Obwohl er im Sonderkommando eine bedeutende Rolle spielte – erst als Kapo, später dann als Oberkapo – sprach er ungern über seine Macht, die diese Funktion mit sich brachte. Er hat sich selbst in Interviews immer als einfaches Mitglied des Sonderkommandos vorgestellt. Lemke hatte sich immer am Rande der Geschichte positioniert, nie im Zentrum.

Lemke Pliszko konnte ähnlich wie andere ehemaligen Sonderkommando-Häftlinge erst in einer spaäten Zeit seines Lebens über seine Erlebnisse sprechen. Nicht nur weil es schwer war und nach wie vor ist, solch schreckliche Erlebnisse in Worte zu fassen, sondern auch weil man ihnen zumeist nicht geglaubt hat. Selbst seiner Familie hat Pliszko lange nichts von seinen Aufgaben in Auschwitz erzählt: „Meine Frau hat nichts gewusst. Auch meine Kinder haben nichts gewusst. Meine Frau ist gestorben ohne zu wissen was ich in Auschwitz gemacht habe. Meine Tochter hat durch irgendeine Zeitung etwas herausbekommen. Da habe ich ihnen schon mehr Einzelheiten erzählt. (…) Ich hatte keine Angst, nur davor, dass die Leute einfach nicht verstehen werden.“ (1) Dennoch, auch wenn es ihm schwer fiel mit seiner Familie darüber zu sprechen, so hielt er doch Kontakt mit anderen ehemaligen Sonderkommando – Häftlingen, die dann vorbeikamen um mit ihm ein Glas oder zwei zu nehmen. Auch noch Jahrzehnte danach kann Pliszko nicht vergessen, sieht die Bilder von Auschwitz vor sich, wie ein Großteil der ehemaligen Häftlinge. Noch bis zu seinem Tode lag er nachts wach und musste an die schrecklichen Erlebnisse dieser Zeit denken, gequält von den Bildern in seinem Kopf.

Als ich die Trauerrede auf seiner Beerdigung hielt und sah, wie überrascht seine Familie über sein Leben war, verstand ich, dass Lemke tatsächlich kein Wort über seine Arbeit im Sonderkommando verloren hatte.

Als alten, kranken Mann, der kaum Geld für seine Medikamente hatte, habe ich Lemke Pliszko als edlen Mann kennen gelernt: Er hat sehr unter der Haltung der israelischen Regierung gelitten, die nicht genug finanzielle Hilfe an die Überlebenden zahlen wollte, doch er hat stets seine Würde behalten, war kein gebrochener Mann. Mein Versuch für eine zusätzliche finanzielle Unterstützung zu sorgen scheiterte, die Mühlen der Bürokratie mahlten langsam und schwerfällig.

Aufgeregt habe ich Lemke nur ein einziges Mal erlebt, als ich ihm von einem anderen Interview mit einem griechischen Zeitzeugen erzählte und dieser Lemke beschuldigte, andere, in der Hierarchie des Sonderkommandos unter ihm stehende Häftlinge geschlagen zu haben. Ihm war wichtig, dass die Nachwelt richtig von ihm dachte und so hat er sich mit allen Mittel gegen diese Verleumdung gewehrt. Die Bedeutung dieser Interviews und der Richtigstellung historischer Fakten war ihm stets ein wichtiges Bedürfnis.

Eingangstor zum Hof des Sonderkommando- Blocks 13, © A.Kilian 1994

Bis zu seinem Tode lebte Lemke Pliszko im Kibbutz Givat Hashlosha unter einfachen Umständen. Seine drei Kinder besuchten ihn oft und Lemke genoss den Empfang von Gästen in seinem Haus, so bereitete er stets seine „Latkes“ zu, in dessen Genuss jeder Besucher und gar das ganze Kibbutz kam. Gerne verbrachte er seine Zeit mit Sportprogrammen aus dem Fernsehen, besonders leidenschaftlich verfolgte er Fußball, auch aktiv hat er als junger Mann viel Sport getrieben.

Als Lemke Pliszko am 24. Mai 2007 verstarb, war er 89 Jahre alt.

Wenn ich ein passendes Zitat auswählen müsste, das meine Begegnungen mit Lemke Pliszko charakterisieren soll, würde ich den folgenden Satz auswählen. Wenn im Judentum der leblose Körper begraben wird, spricht der Rabbiner folgende Worte: “ Denn sie Erde sind und in die Erde zurückkommen.“ Lemke gehörte zu dieser Erde, als ein Mann, der mit beiden Beinen auf dem Boden geblieben war. Außerdem sagte sein Enkelsohn über ihn:

„Mein Großvater war ein Mensch, der sich um andere sehr gesorgt und gekümmert hat. Sich um andere Menschen kümmern, das war eine starke Seite seines Charakters. Er hat auch sehr gerne andere Leute gefüttert. Außerdem war er sehr zynisch, ich denke, dass er das Leben nicht zu ernst genommen hat. Er war ein sehr fleißiger Mensch, er hat gerne gearbeitet. Ich bin überzeugt davon, dass die Verschlechterung seines Gesundheitszustandes in den letzten Jahren damit verbunden ist, dass er nicht mehr arbeiten konnte. Mein Großvater war ein sehr witziger Mensch, obwohl er im Sonderkommando in Auschwitz war. Er hat oft Witze erzählt, viel gelacht und auch viele Dummheiten im Kibbutz gemacht. Die stärksten Züge seines Charakters waren seine Hilfsbereitschaft und sein Zynismus. Außerdem möchte ich noch sagen, dass mein Großvater immer in jede Sache involviert war, er war nie apathisch gegenüber etwas, das ihn aufgeregt hat oder gegenüber einem Unrecht, das er gesehen hat. Er war sehr moralisch und gutmütig.“ (2)

Auch wenn Lemke nun verstorben ist, seine gute Seele und sein Lächeln werden uns auf unserem weiteren Weg stets begleiten.


Anmerkungen von Dr. Greif:

(1)         Pliszko, Lemke, Interview mit GG vom 09.05.2003, aus: Privatarchiv GG.

(2)         Interview mit Amos Pliszko am 26.05.08, Privatarchiv GG.

 

Hinweis:

Der Herausgeber dankt Dr. Gideon Greif, den besten Kenner von Lemke Pliszkos Lebens- und Leidensgeschichte, für die Genehmigung, diesen Nachruf online auf SoKoS zu veröffentlichen. Dr. Greifs Nachruf wurde exklusiv zur Veröffentlichung in diesem Informationsportal zur dauerhaften Erinnerung an Lemke Pliszko verfasst.

Der Herausgeber dankt der ARD für die Genehmigung, das Foto Pliszkos aus dem Dokumentarfilm „Sklaven der Gaskammer“ auf www.sonderkommando-studien.de zu veröffentlichen.


(Letzte Änderung: 09.09.2008)



    

Abraham Dragon 1947 und 1995, APMO, Nr. neg. fot. 21464/1 und © A. Kilian 1995

Abraham Dragon

(18.06.1919 Zuromin – 24.04.2007 Ramat Gan)

Von Dr. Gideon Greif

Abraham Dragon gehörte zu den wenigen Menschen, die das Sonderkommando von Auschwitz-Birkenau überlebt haben und die bis zu ihrem Tod trotz innerlichem Widerstrebens bereit waren, sich immer wieder neu an die Schrecken während dieser Zeit zu erinnern und sie seiner Umgebung mitzuteilen, indem er sich für Interviews zur Verfügung stellte.

Geboren wurde er am 18. Juni 1919 in einer kleinen Stadt neben Melava-Scharz Sakeira, genannt Zuromin (Sichelberg) in Polen. Als Kind einer Handwerkerfamilie von Malka und Daniel Beckermann, begann er bereits mit 13 Jahren zu arbeiten um Geld für die Familie zu verdienen. Nach Ausbruch des Krieges 1939, Abraham Dragon war 20 Jahre alt, wurde er und seine Familie von den deutschen dazu gezwungen am Abend des Yom Kippur – dem Tag der Sühne und Vergebung, dem höchsten jüdischen Feiertag – eine Liste mit den Namen der jüdischen Bürger der Stadt zu erstellen. Alle Juden wurden in das Warschauer Ghetto deportiert, das zu dieser Zeit noch nicht zugemauert war. Durch die enge Zusammenarbeit von Abraham und Shlomo war es ihnen möglich, Lebensmittel in das Ghetto zu schmuggeln.

Nach dem Aufruf der Nazis, alle Juden sollten sich in der jüdischen Gemeinde versammeln, wurden sie in die Lager geschickt; die beiden Brüder konnten jedoch nach Plonsk fliehen, denn sie hatten bereits geahnt, dass die Menschen deportiert werden sollten. Doch nur einen Teil der Familie konnten die Brüder nachkommen lassen, der Vater und die Schwester verstarben noch in Warschau. Die Mutter und zwei Geschwister wurden getrennt von ihm und Shlomo früher nach Auschwitz deportiert. Nach mehrtägiger Fahrt kam Abraham Dragon mit seinem Bruder am 7. Dezember 1942 nachts in Auschwitz-Birkenau an, er erhielt dort die Nummer 80360. Beide wurden sofort für das Sonderkommando ausgewählt. Deren Aufgabe war es, die Menschen der ankommenden Transporte in die Gaskammern zu bringen und anschließend die Leichen in die Gruben neben den Bunkern zu befördern, wo sie verbrannt wurden.

Am Tag darauf wurden acht Personen ausgewählt, die den Stubendienst des Sonderkommandos übernehmen sollten. Shlomo und Abraham Dragon waren unter ihnen. Ihre Aufgabe war es, das Essen und andere Notwendigkeiten für die Sonderkommandohäftlinge im Block zu besorgen und zu verteilen, sowie den Block sauber zu halten. Außerdem war er bei großen Transporten verantwortlich für die Sortierung der Kleider der ankommenden Menschen. Als Stubendienst musste Abraham nicht permanent schwere körperliche Arbeit verrichten und war auch nicht den Temperaturen, was besonders im Winter so gefährlich war, ausgesetzt. Trotzdem befand er sich, wie auch die anderen Sonderkommandohäftlinge, in ständiger Lebensgefahr, denn die SS hatte nie gezögert den Inhaftierten zu verdeutlichen, dass sie liquidiert werden sollten um zu verhindern, Zeugen der Verbrechen zu haben. Abraham Dragon kann trotz der Arbeit, die er ausführen musste, immer betonen, wie wichtig ihm das Zusammensein mit seinem Bruder Shlomo war, der ihn vor allem durch seine körperliche Überlegenheit unterstützen konnte.

Abraham berichtete aber auch, wie die Sonderkommandohäftlinge insgesamt sich gegenseitig unterstützten, sowohl was die körperlichen, als auch die seelischen Kräfte anbelangte. „Wir waren wie eine Familie, denn wir wussten, was morgen kommen kann. Worüber sollten wir uns denn streiten? Wir haben zusammen gelitten.“ (1) Einen Häftling, der trotz der Umstände versuchte die jüdischen Riten und Gesetze einzuhalten, unterstützen die anderen Sonderkommandohäftlinge wo es ihnen möglich war und errichteten sogar am Sukkot eine Laubhütte neben dem Krematorium.

Abraham und Shlomo Dragon in Frankfurt-Zeilsheim 1947, © APMO, Nr. neg. fot. 21464/1, 1947

Als er und sein Bruder in einen Transport zu einem anderen Lager gehen sollten, zog sich Abraham Dragon eine nicht schnell heilende Verletzung zu und beide wurden von der Liste gestrichen. Hinterher wurde bekannt, dass alle 200 Personen sofort erschossen wurden. Seine Krankheit war also in diesem Zusammenhang lebensrettend.

Am 18. Januar 1945 begannen die Todesmärsche. Abrahams Bruder Shlomo gelang die Flucht und Abraham wurde allein nach Mauthausen gebracht, wo er am 6. Mai 1945 in Ebensee in einem Nebenlager befreit wurde.

Sein Ziel war nun Israel, denn er ging kaum noch von der Möglichkeit aus, sein Bruder könnte überlebt haben. In Italien, wo er sich für drei Monate aufhielt, erfuhr er über Umwege, dass Shlomo am Leben war und sie konnten sich in Salzburg wiedertreffen. „Von da an waren Shlomo und ich immer zusammen, bis zum heutigen Tag. Wir sind dann [am 28.12.1949] zusammen nach Israel gegangen und blieben immer zusammen. Nur während der Zeit nachdem er geflohen war vom Todesmarsch, waren wir getrennt voneinander.“ (2)

In Israel heiratete Abraham Dragon Simcha, eine reizende Frau, die aus Saloniki stammte. Sie führten ein angenehmes, gastfreundschaftliches Haus in Ramat Gan. Abrahams Bruder, der ledig war, wohnte weiterhin mit bei der Familie Dragon, was ein Beweis ist für die enge Verbundenheit der Geschwister, obwohl sie ganz unterschiedliche Charaktere hatten – Abraham war der Bescheidene, Introvertierte, Langsame, während sein Bruder Shlomo Charisma und Abenteuerlust ausstrahlte.

Mein Eindruck war immer, dass er alles vergessen und sich nicht mit den Erinnerungen beschäftigen wollte. Und trotzdem wussten seine Kinder und auch deren Freunde von seiner Zeit als Sonderkommandohäftling. Nicht nur ihnen hat er ausführlich von seinen Erlebnissen berichtet.

Shlomo Dragon, Gideon Greif, Simcha und Abraham Dragon in Ramat Gan, © A. Kilian 1995

Abraham hat wenig gesprochen – die Bühne hatte er für seinen Bruder frei gelassen. Er war aber nie passiv, auch nicht in Auschwitz und meine Annahme war immer, dass Abraham derjenige ist, der für die Rettung der beiden verantwortlich war. Bestimmt war er derjenige, der seinen impulsiven Bruder Shlomo gebremst und gewarnt hat als Shlomo sein Temperament nicht bremsen konnte. Abraham war mehr moderat, mehr konservativ und bewusst ist er hinter den Kulissen geblieben. Simcha, die Witwe von Abraham über ihren Mann:

„Abraham und Shlomo waren sehr unterschiedlich. Abraham war ein ruhiger Mann, der es sehr liebte den Menschen zu helfen. Er war ein perfekter, hingebungsvoller Familienmensch. Auch Shlomo half den Menschen gerne – aber anders als Abraham. Wo Abraham die Hilfe ruhig gegeben hat, wollte Shlomo, dass seine Hilfe anerkannt wird und dass man über sie spricht. Shlomo war ein mutiger Mann, viel mehr als Abraham. Er war auch mehr aggressiv als Abraham. Shlomo war ein Mann mit einem sehr starken Charakter, viel stärker als Abraham. Beide Brüder waren sehr fleißig. Obwohl sie einiges gemeinsam hatten, waren sie sehr unterschiedlich. Abraham war ein gutmütiger Mann, mit einem goldenen Herz. Er hatte nichts Böses in seiner Natur und war auch sehr bescheiden. Shlomo war anders. Abraham war ein guter Mensch, ein „Mensch“, wie man sagt. Er hatte nie jemandem Unrecht angetan.“ (3)

Abraham verstarb am 24.04.2007 im Alter von 87 Jahren in Israel.

Anmerkungen von Dr. Greif:

(1)         Interview mit Gideon Greif vom 2.1.2004 in Ramat Gan/Israel.

(2)         Interview mit Gideon Greif vom 3.8.04, Ramat Gan/Israel.

(3)         Interview mit Simcha Dragon am 26.5.08, Ramat Gan/Israel.

 

Hinweis:

Der Herausgeber dankt Dr. Gideon Greif, den besten Kenner von Abraham und Shlomo Dragons Lebens- und Leidensgeschichte, für die Genehmigung, diesen Nachruf online auf SoKoS zu veröffentlichen. Dr. Greifs Nachruf wurde exklusiv zur Veröffentlichung in diesem Informationsportal zur dauerhaften Erinnerung an Abraham Dragon verfasst.


(Letzte Änderung: 09.09.2008)



    

Abraham Balbin ca. 1927 und 1999, Archiv Kilian und © A. Kilian 1999

Abraham André Balbin

(12.05.1909 Tomaszow- Mazowiecki – 11.09.2003 Nancy)

„Continuons la lutte“

Ein Nachruf von Julien Daniel Attuil, dem Enkel von M. Balbin seligen Angedenkens

Il y aurait beaucoup à écrire sur Abraham André Balbin, sur tout ce qu’il a vécu, sur tous les combats qu’il a soutenus au cours de ses quatre-vingt-quatorze ans de vie. Officiellement né en mai 1909 à Tomaszow en Pologne, il aura vu, de son petit mètre soixante et ses yeux bleu-délavé,  la Démocratie remplacer la Barbarie en Europe ; il aura pleuré la paix succédant à la terreur ; et la joie de voir marcher son arrière-petite-fille aura peut-être supplanté l’horreur des camps.

Élevé en Pologne dans l’amour de ses parents et de ses nombreux frères et sœurs, la religion tient une place importante dans son éducation. Au sortir de l’adolescence, la misère et les pogroms le poussent à quitter sa campagne polonaise pour rejoindre la France, patrie des libertés. Il prend alors sa vie en main et crée son petit atelier de confection. Ces années sont aussi celles du militantisme au sein du Parti, de la création du « 55 » et d’une jeunesse où il rêve à un monde plus juste. Viendra ensuite le nazisme, la déportation, les camps, la cohabitation pendant trois ans avec la mort qui lui enlève ses parents, sa sœur, son beau-frère et leurs trois enfants dont sa nièce Eva, qu’il a vu rentrer dans la chambre à gaz sans rien pouvoir faire. Rescapé des camps de la mort grâce à sa volonté, à sa soif de vivre mais aussi à la chance et, selon lui, à sa petite taille, il laisse à Auschwitz une partie de lui-même. A la Libération, malgré la perte des siens et l’horreur vécue, la flamme qui brûle en lui n’est pas éteinte, il veut continuer à vivre et à se battre. Son mariage avec Juliette lui donne Liliane et Daniel. Il monte aussi sa petite boutique de confection qui avec le temps et beaucoup d’investissement fait de lui un homme réputé pour ses costumes de qualité. Vient enfin le temps de la retraite, où il voyage beaucoup, vers l’Ouest comme vers l’Est, pour connaître le monde, s’imprégner des cultures et des civilisations. Survivant de l’horreur, témoin curieux et engagé de son siècle il nous a quitté le 11 septembre dernier.

Abraham Balbin im TV-Interview © ARD 2000

Tailleur il était resté

Au-delà d’une succincte biographie, j’aimerais écrire « quelques mots », comme il me l’avait demandé avant de mourir, sur l’Homme qu’il a été pour moi, sur les petites histoires qui me restent de lui.

Il m’a confié un jour qu’il avait toujours souhaité être philosophe, penseur ou écrivain mais que son manque de maîtrise du français l’en avait empêché, alors tailleur il était resté. Mais c’était un tailleur philosophe, un tailleur écrivain, un tailleur humoriste. Il avait toujours le talent de raconter la petite histoire, l’anecdote appropriée – le plus souvent en yiddish – pour nous faire sourire, rire et réfléchir. Mais il était aussi là pour dire qu’une veste était mal coupée ou que des couleurs n’allaient pas ensemble.

Lorsque j’ai appris à conduire, il m’a conseillé de ne pas me préoccuper de ce qui se passe derrière car les autres le faisaient pour moi, il valait mieux regarder devant. Si je n’ai heureusement jamais appliqué ce conseil dans ma conduite automobile, je n’en pas moins retenu la leçon de trouver mon chemin et m’intéresser à l’avenir, à demain.

Il a été pour certains un camarade, militant infatigable d’un idéal communiste où il rêvait de voir les hommes fraternels et heureux. Mais au-delà de toute idéologie c’était un monde meilleur auquel il aspirait. Conscient de l’importance de chaque acte, il luttait au niveau local pour faire avancer les choses, pour faire progresser la solidarité et la fraternité. La politique avait une place importante dans sa vie, il aimait discuter avec chacun pour échanger mais aussi pour essayer de convaincre. Car s’il avait toujours le sourire et s’il aimait à plaisanter, il n’en restait pas moins un homme déterminé dans ses idées, parfois à la limite de l’entêtement.

Abraham Balbin als Zeitzeuge auf einer Veranstaltung ca. 1995, © J. Attuil

Trop de questions

Il a été pour d’autres un compagnon, dans le sens originel du terme de celui avec qui on partage le pain. Dans le camp malgré la faim, la souffrance et la peur, il a, à de nombreuses reprises, donné un bout de son pain, de sa soupe ou de ses vêtements pour aider un autre connu ou inconnu, jeune ou vieux. Au milieu de ce monde déshumanisé où certains hommes tentaient de réduire d’autres à des chiffres, à leur enlever toute humanité, il a fait partie de ces fous qui continuaient à croire à la nécessité du partage, de la solidarité ; de croire en l’Homme et en sa bonté.

André Balbin était aussi un historien de la vie qui sans relâche racontait son vécu heureux ou malheureux. Il était toujours là pour prendre la parole pendant une conférence, pour témoigner dans les écoles, pour discuter avec tous. Et tous ceux qui ont croisé sa route se souviennent de lui comme un petit bonhomme affable et souriant qui parlait un français parfois approximatif avec un petit accent yiddish et avec lequel il était si agréable de discuter.

Juif, il l’était, mais encore une fois, à sa manière. Il aimait à raconter comment, dès son plus jeune âge, il cherchait des explications sur Dieu et la religion. Déjà curieux et déterminé, il posait trop de questions à ses enseignants et mettait en doute ce qui, pour les autres, était accepté comme acquis. Il avait sa foi à lui, rejetant toute pratique religieuse sans pour autant la renier. Il cultivait ce lien étroit avec le judaïsme, cet attachement à la culture, à la tradition dont il avait hérité et dont il se sentait proche.

Au-delà, André Balbin était mon grand-père, celui qui m’a appris à voir le monde avec ses yeux, à partager avec tous, à défendre le plus faible, à aimer la vie. Il était présent pour m’apprendre les échecs comme pour m’expliquer le monde, pour me laisser grandir comme pour me montrer la voie. C’était un grand-père admirable qui savait aimer et donner sans compter, c’était mon héros.

Quatre-vingt quatorze années lui ont permis d’accomplir beaucoup, même si certains de ses rêves restent inachevés. A nous désormais de poursuivre le chemin qu’il nous a tracé avec la même force, le même courage, le même amour et la même générosité. Que sa mémoire nous éclaire, que son souvenir nous guide vers ce monde plus juste pour lequel il s’est tant battu.

Tu peux te reposer mon Papy, tes efforts n’ont pas été vains nous sommes là pour continuer la lutte.

Ton petit-fils qui t’aime,

Julien Daniel Attuil


Abraham Balbin nach einem Interview © A. Kilian 2000

Hinweis:

Der Nachruf von Julien Attuil wurde im Gemeindeblatt “Blick of the 55” der Hashkenazischen Jüdischen Gemeinde zu Nancy im Mai 2004 veröffentlicht. Wir danken M. Attuil, der Familie von M. Balbin seligen Angedenkens sowie der Jüdischen Gemeinde in Nancy für ihre Genehmigung zur Veröffentlichung des Artikels auf www.sonderkommando-studien.de. Wir danken M. Attuil zudem für die Genehmigung der Veröffentlichung von zwei Fotos aus dem Familienbesitz.

Der Herausgeber dankt der ARD für die Genehmigung, das Foto Balbins aus dem Dokumentarfilm „Sklaven der Gaskammer“ auf www.sonderkommando-studien.de zu veröffentlichen.

Anmerkungen:

Erinnern ist eine Form der Begegnung“

(Khalil Gibran)

André Balbin hat sein Leben bis zum letzten Atemzug aktiv gelebt und war mir ein treuer Freund.

Die vielen gemeinsam verbrachten Stunden in Nancy werden mir unvergesslich bleiben. M. Balbins reger Geist hat mich inspiriert und das für sein hohes Alter ungewöhnlich große Engagement hat mich immer wieder aufs Neue begeistert. André Balbins Lebens- und Willenskraft sowie sein ausgezeichnetes Erinnerungsvermögen waren schlicht und ergreifend bewundernswert. Er liebte Heinrich Heines Gedichte und konnte eine große Anzahl von ihnen fehlerfrei rezitieren, obwohl er diese vor immerhin über 80 Jahren von seinem Jiddisch- Lehrer beigebracht bekam und niemals Deutsch- Unterricht hatte. „Der Asra“ war sein Lieblingsgedicht und auch folgendes Lied von Heinrich Heine rezitierte er gern:

Anfangs wollt ich fast verzagen,

Und ich glaubt, ich trüg es nie;

Und ich hab es doch getragen –

Aber fragt mich nur nicht, wie? 

Der Film „Sklaven der Gaskammer“ und das Buch „Zeugen aus der Todeszone“ erinnern an André Balbins Erlebnisse in Auschwitz- Birkenau. Beide Arbeiten haben ihm viel bedeutet. Sein letzter Wunsch war, beide Werke einem französischen Publikum zugänglich zu machen und es gelang ihm sogar, die Uraufführung des Films in Nancy mit einer Simultanübersetzung zu initiieren. Tragischerweise verstarb André Balbin drei Tage vor diesem Ereignis, so dass die Veranstaltung schließlich zu einer bewegenden Gedenkveranstaltung für André Balbin wurde. An diesem Tag haben wir von einem herzensguten Menschen Abschied genommen, der vielen ein großer Lehrer war.

In größter Hochachtung vor dem weisen, lebendigen und liebenswerten 1,50m großen Menschen André Balbin danke ich ihm und seiner Familie für das entgegengebrachte Vertrauen und für ihre aufrichtige Freundschaft.

Wir alle vermissen André Balbin sehr.

Au revoir mon cher ami,

Andreas Kilian

Abraham Balbin mit seiner Ehefrau, © A. Kilian 1999


(Letzte Änderung: 11.09.2004)




    

Samuel Hejblum ca. 1941 und 2001, Archiv Kilian

Samuel Hejblum

(10.08.1925 Lokow – 07.05.2003 Cannes)

von Joe Nisenman und Inge Pénot – Eberhardt

Voici le témoignage de Joe Nisenman, un ami d’enfance de Samuel Hejblum.

Sam Hejblum fut l’un de mes meilleurs copains.

Nous avons fréquenté ensemble l’école de la rue Tlemcen dans le 20e arrondissement de Paris. Cette école fut l’une des premières communales où nous avons posé une plaque à la mémoire des enfants déportés parce que nés juifs et exterminés à Auschwitz.

Adolescents, nous fréquentions les quartiers Ménilmontant et Belleville à Paris où nous vivions heureux malgré les difficultés de logement et de la vie modeste de nos parents. C’était d’ailleurs la vie de toutes les familles…..juives…… de ces quartiers.

Samuel Hejblum ca. 1945, Archiv Kilian

 

Sam Hejblum fut déporté comme moi-même à Auschwitz.

Il y a retrouvé d’abord son oncle et également son père. « C’est terrible pour un père d’avoir son enfant près de lui dans cet enfer » , …..dit-il souvent. L’oncle de Sam avait la possibilité de l’aider et grâce à cette aide, il a pu parfois partager un peu de soupe avec des copains qu’il connaissait de Paris.

J’ai retrouvé mon ami Sam après notre rapatriement en France.

Lors de la libération des camps, il avait été blessé et fut amputé de son pouce gauche.

Malgré cet handicap, il s’est mis courageusement au travail et  ceci grâce à son camarade  Philippe Vodka, lui aussi rescapé d’Auschwitz , qui avait un atelier de confection à Paris. Celui-ci s’était bien rappelé de l’aide que Sam lui avait apporté au Camp.

Sam m’ayant présenté à son copain Philippe, je fus moi-même introduit dans cette entreprise ce qui m’a permis de commencer de gagner ma vie.

En 1953, Sam a épousé Germaine Wagensberg, une ancienne déportée comme lui et ils ont fondé une famille.

Depuis, ils ont toujours œuvré tous les deux pour la Mémoire et le Souvenir de tous ces hommes, femmes et enfants qu’il a vus gazés, puis brûlés dans les fours crématoires.

Samuel et Germaine Hejblum resteront toujours dans ma mémoire.

Cannes, le 3 mars 2005

Joe Nisenman

Joe Nisenman, ein Jugendfreund von Samuel Hejblum erinnert sich.

Sam Hejblum war einer meiner besten Kameraden.

Gemeinsam besuchten wir die Grundschule in der rue Tlemcen im 20. Arrondissement von Paris. Sie war eine der ersten Schulen, in der wir eine Gedenktafel angebracht haben für die aus rassischen Gründen deportierten und in Auschwitz ermordeten jüdischen Kinder.

Unsere Jugend verbrachten wir trotz der engen Wohnverhältnisse und des bescheidenen Lebens unserer Eltern glücklich und zufrieden in den Pariser Stadtvierteln Ménilmontant und Belleville. So einfach wie wir lebten übrigens alle Familien in diesem Teil von Paris.

Sam Hejblum wurde wie auch ich nach Auschwitz deportiert.

Dort stieß er zuerst auf seinen Onkel und fand auch seinen Vater wieder. „Wie furchtbar für einen Vater, mit seinem Kind in dieser Hölle leben zu müssen“, sagte er oft.

Dem Onkel war es möglich, Samuel zu helfen, und dieser Hilfe hatten wir es zu verdanken, dass er manchmal seinen Kameraden, die er von Paris her kannte, ein paar Löffel von seiner Suppe abgeben konnte.

Ich habe meinen Freund Sam nach unserer Rückkehr nach Frankreich wiedergesehen.

Bei der Befreiung aus dem Konzentrationslager war er verletzt worden, und man musste ihm, wenn ich mich recht erinnere, den rechten Daumen amputieren. (1) Trotz dieser Behinderung machte er sich unverdrossen an die Arbeit und zwar in einem Schneideratelier, das seinem Freund Philippe Wodka (2) gehörte, der Auschwitz ebenfalls überlebt hatte; das Atelier lag im Pariser Viertel Le Marais. Sein Besitzer hatte nicht vergessen, dass Samuel ihm während seiner Haft im Lager geholfen hatte. Nachdem Sam mich seinem Freund Philippe vorgestellt hatte, bekam auch ich Arbeit in dessen Betrieb, so dass ich zum ersten Mal selbst meinen Lebensunterhalt verdienen konnte.

Samuel Hejblum ca. 1941, Archiv Kilian

1953 hat Samuel Germaine Wagensberg (3) geheiratet, eine Deportierte wie er selbst,

und sie gründeten eine Familie. Seit dieser Zeit haben beide keine Mühe gescheut, Zeugnis abzulegen und die Erinnerung an all die Männer, Frauen und Kinder wach zu halten, die vor ihren eigenen Augen vergast und dann in den Krematorien verbrannt worden waren.

Ich werde Samuel und Germaine Hejblum nie vergessen.

Cannes, den 3. März 2005

Joe Nisenman

Übersetzung ins Deutsche und Anmerkungen: © Inge Pénot – Eberhardt, 2005


Anmerkungen vom 15. März 2005:

(1)    In Wirklichkeit handelte es sich um den linken Daumen, für Samuel, der Linkshänder war, umso schlimmer.

(2)    Den Familiennamen habe ich erst am 7. März von Frau Hejblum erfahren,

(3)    Der Mädchenname von Germaine Hejblum


Inge Pénot – Eberhardt erinnert an Samuel Hejblum

Ich habe Samuel Hejblum und seine Frau Germaine 1999 kennen gelernt, als ich im Raum Cannes/ Nizza nach Zeitzeugen Ausschau hielt, denn ich begann im Schuljahr 1998/99 damit, am Collège in Mougins ein deutsch-französisches Gedenk- Projekt auszuarbeiten.

Über Geschichtskollegen, die jedes Jahr Überlebende der Konzentrations- und Vernichtungslage in ihren Unterricht einladen, habe ich dann Verbindung zu dem Ehepaar Hejblum aufgenommen, die meiner Bitte ohne Zögern nachgekommen sind.  So fand im Januar 2000 das erste Treffen mit meinen Schülern statt, bei dem vor allem Samuel von seinen traumatischen Erinnerungen an die Deportation und die Jahre in Auschwitz-Birkenau berichtete.

Was ich an ihm immer wieder bewundert und geschätzt habe, war seine unermüdliche Bereitschaft, über das Inferno dieses Vernichtungslagers Zeugnis abzulegen, obwohl dabei jedes Mal wieder alte Wunden aufgerissen wurden. Noch nie zuvor hatte ich es erlebt, dass Schüler jemandem zwei Stunden lang mit so viel Anteilnahme und Interesse zugehört hatten!

Mit sehr viel Feingefühl wägte Samuel ab, was er seinem jungen Publikum – die Schüler waren 14 bis 16 – zumuten konnte; das absolute Unvorstellbare verschwieg er vor ihnen.

Nachdem er am 7. August 1942 aus Frankreich kommend – 3 Tage vor seinem  17. Geburtstag – mit seiner Mutter, seinem Bruder und einer Tante nach einem unmenschlichen Transport in überhitzten Viehwagons eingeliefert  worden und sofort dem Begrabungskommando zugeteilt worden war, musste er jeden Augenblick darauf gefasst sein, die Leichen seiner Mutter und seines kleinen Bruders, die gleich bei der Ankunft auf Lastwagen zu den Gaskammern transportiert worden waren, unter den in sich verkrallten leblosen Körpern zu entdecken.

Ehemaliger Fußweg von der ersten Selektionsrampe zum Lager Birkenau, © A. Kilian 1994

Vor diesem Hintergrund mutet das Glück, das Samuel während seines Lageraufenthalts danach hatte, fast wie eine Legende an.

Nach Aussagen von Serge Klarsfeld ist er der einzige Überlebende des Transports  Nr. 15  vom 5. August 1942, mit dem die bei der ‚Razzia des Vel d’Hiv’ vom 16./17. Juli von der französischen Gendarmerie zusammengetriebenen jüdischen Häftlinge nach Auschwitz gelangten: „Vor Auschwitz habe ich nie einen Deutschen zu Gesicht bekommen“, sagte er meinen Schülern. Dort wurde ihm die Matrikelnummer 57 177 eintätowiert. –  Wie konnte er der Todesmaschinerie entrinnen?

Immer wieder hat Samuel die wundersamen Zufälle geschildert, die ihn am Leben erhalten haben.

Da war zunächst die Zuteilung zur „Maurerschule“ nach den 2 furchtbaren Anfangswochen im Sonderkommando, wo die meisten der Arbeitssklaven nach kurzer Zeit liquidiert wurden.

Dann erkrankte er an Typhus und wurde in die Quarantaine nach Auschwitz I transportiert.

Dort trifft er zuerst seinen Onkel Erko und bald danach einen Freund, der seinen Vater kennt. Dieser war bereits mit einem der ersten Transporte, dem Convoi Nr. 5 am 28. Juni 1942 deportiert worden. Er hatte unterdessen eine leitende Funktion im Kommando „Kanada“ und wurde von den SS-Leuten respektiert.

Seine Jugend, die Solidarität unter den Mithäftlingen, und der Wille zum Widerstand trugen natürlich auch dazu bei, dass Samuel Hejblum den harten körperlichen Anforderungen und dem psychischen Druck standhalten konnte.

Zum Abschluss die Anekdote, die sich meinen Schülern besonders eingeprägt hat:

Eines Tages wird Samuel im Lager von einem jungen SS – Mann herausgefordert:

„ Wer ist der Stärkere von uns zweien?“

„ Sie natürlich!“ lautet Samuels  vorsichtige Antwort.

„Nein, wirklich! Ich möchte mich mit dir messen. Greif mich an! Schlag zu!!!“

Samuels Kommentar den Schülern zugewandt:

„Natürlich hatte ich Angst, SS-Leute könnten vorbeikommen und uns sehen. Deshalb zögerte ich. Plötzlich schlägt der SS-Mann so zu, dass ich zu Boden gehe.

Da kamen mir die schrecklichen Bilder von meiner vergasten Mutter und meinem Bruder in den Sinn , ich holte aus und boxte ihn mit aller Kraft in das Sonnengeflecht (Solar Plexus)

und er fiel um. Ich hatte eine Riesenangst, ich könnte ihn vielleicht getötet haben.“

Aber nach einer Weile stand er auf und sagte:

„Klar, DU bist der Stärkere!!!“

Und verschmitzt lachend fügte Samuel hinzu:

„Seht ihr, ich glaube, in den Annalen der Deportation bin ich der einzige, der einen SS-Mann

(ko) geschlagen hat!“

Ruine des zweiten provisorischen Gaskammern-Bunkers, © A. Kilian 1993

Leider ist Samuel Hejblum am 7. Mai 2003 von uns gegangen. Seitdem sieht es seine Frau Germaine als ihre Pflicht an, die Rolle der Zeitzeugin in seinem, aber als Auschwitz-Überlebende auch in ihrem eigenen Namen zu übernehmen. So bin ich ihr sehr dankbar dafür, dass sie durch das Zurückgreifen auf ihre persönlichen Erlebnisse meinen Schülern des Lycée Carnot in Cannes nach unserer deutsch-französischen Gedenkstättenfahrt nach Berlin und Auschwitz-Birkenau im Februar/März 2004 in langen Gesprächen geholfen hat, das dort Gesehene und Gefühlte besser begreifen und verarbeiten zu können.

Die Güte und Menschlichkeit von Samuel fehlen uns allen, die wir das Glück hatten, ihn kennen, lieben und schätzen zu lernen.

Cannes, den 6. März 2005

Inge Pénot – Eberhardt

Professeur d’allemand


Hinweis :

Wir danken den Autoren Joe Nisenman und Inge Pénot – Eberhardt, dem unbezahlbaren und selbstlosen Engagement von Mme Inge Pénot – Eberhardt sowie Mme Germaine Hejblum – der Witwe von Samuel Hejblum seligen Angedenkens –  für die exklusive Erstellung der Nachrufe sowie für deren Zustimmung zur Veröffentlichung auch der Privatfotos auf www.sonderkommando-studien.de.

Samuel Hejblums Erinnerungen können auszugsweise in der Sonderkommando-Monografie „Zeugen aus der Todeszone“ nachgelesen werden: Erich Friedler, Barbara Siebert, Andreas Kilian. Zeugen aus der Todeszone. Das jüdische Sonderkommando in Auschwitz, Lüneburg 2002.

Möge die Erinnerung an diesen außergewöhnlichen und liebenswerten Menschen noch lange Zeit erhalten bleiben und ihm in naher Zukunft mit der Übersetzung und Veröffentlichung von „Zeugen aus der Todeszone“ auch in seiner Heimat ein würdiges Denkmal gesetzt werden.


(Letzte Änderung: 20.03.2005)



    

Shlomo Dragon 1947 und 1995, APMO, Nr. neg. fot. 21464/1 und © A. Kilian 1995

Shlomo Dragon

(19.03.1922 Zuromin –  .10.2001 Ramat Gan)

Von Dr. Gideon Greif

Eines Tages im Oktober 2001 erhielt ich einen sehr traurigen Anruf von Fr. Simcha Dragon, der Ehefrau von Abraham Dragon. Die Nachricht, die ich von ihr erhielt, traf mich völlig unvorbereitet. Ich erfuhr vom Tod von Abrahams Bruder, Shlomo. Ich war schockiert, da mir ständig von der Familie erzählt wurde, dass Shlomo nur eine leichte Krankheit hätte und sich wieder erholen würde. Später sagte man mir, dass das die Methode der Familie Dragon gewesen sei, Shlomos Krankheit zu verschleiern, um zu verhindern, dass er es weiß. Ich war mir ganz sicher, dass er sich wieder erholen würde – schließlich kann ein Mann, den Auschwitz nicht zerstören konnte, nicht einfach so durch eine dumme Krankheit sterben! Aber ich wurde schwer enttäuscht. Als Shlomo verstarb, fühlte ich, dass ein Stück Geschichte ausgelöscht wurde.

Shlomo Dragon, Gideon Greif, Simcha und Abraham Dragon in Ramat Gan, © A. Kilian 1995

Shlomo Dragon wurde im Jahr 1922 in Zeromin, Polen, in einer Stadt 100 km nordwestlich von Warschau, geboren. Seine Eltern hießen Daniel und Malka (geborene Beckermann). Shlomo war gezwungen im Alter von 13 Jahren die Schule zu beenden und musste gemeinsam mit seinen Eltern, die Schneider und Schuhmacher waren, arbeiten.

Als der Krieg ausbrach wurden Shlomo und Abraham zur Sklavenarbeit rekrutiert und später nach Nowy Dwor und schließlich ins Ghetto von Warschau deportiert. Dort blieben sie etwa ein Jahr lang. Bereits im Warschauer Ghetto konnte Shlomo seinen einzigartigen Mut unter Beweis stellen: Er war gemeinsam mit seinem Bruder Abraham aktiv im Schmuggeln von Nahrung für die hungrigen Juden im Ghetto, was eine sehr gefährliche Tätigkeit war. Sie brachten Nahrung ins Ghetto, die sie in den umliegenden Dörfern gekauft hatten. Eines Tages wurde Shlomo verhaftet und zur Gestapo gebracht. Er wurde geschlagen und gefoltert, aber es gelang ihm zu überleben und zwei Tage später wurde er wieder freigelassen. Die Brüder beschlossen das Ghetto zu verlassen und gingen nach Plonsk. Es gelang ihnen sogar, ihre Mutter, ihre kleine Schwester und ihren kleinen Bruder Nach Plonsk zu bringen. Ihr Vater war bereits krank und konnte das Warschauer Ghetto nicht verlassen. Später kamen er und die kleine Schwester ums Leben. Der kleine Bruder war vorerst in einem Waisenhaus und dann im Plonsker Ghetto untergebracht, von wo er mit 400 anderen jüdischen Kindern 1942 nach Auschwitz deportiert wurde.

Abraham und Shlomo gingen vom Plonsker Ghetto in die umliegenden Dörfer um dort zu arbeiten.

Nachdem sie gehört hatten, dass die Juden in den “Osten” deportiert würden, beschlossen sie, alle anderen Juden zu begleiten. Zuerst brachten die Deutschen die Juden ins Ghetto Mlawa, von wo am 5. Dezember 1942 der erste Transport abging, der zwei Tage später, in der Nacht vom 6.auf den 7. Dezember 1942, in Auschwitz ankam. Einige Tage später wurden sie für das neue Sonderkommando “selektiert”, das das alte Sonderkommando am Tage von dessen Ermordung ersetzte. Shlomo erhielt die Häftlingsnummer 80359 und sein Bruder Abraham die Nummer 80360.

Zuerst arbeiteten sie in den provisorischen Gaskammern, den sogenannten “Bunkern” in Birkenau, später im Krematoriums-Gebäude Nr. IV in Birkenau. Während Abraham die meiste Zeit die Kleidung der ermordeten Juden sortierte, war Shlomo in verschiedenen Aufgabenbereichen, wie dem Herausziehen der Leichen aus den Gaskammern, dem Verbrennen der Körper und – gemeinsam mit Abraham – der Reinigung der Sonderkommando-Baracken eingesetzt. Sie waren jedoch nicht das einzige Brüderpaar im Sonderkommando. Es gab mindestens zehn weitere Brüder wie sie. Aber die Dragons überlebten neben den Gebrüdern Weinkranz die längste Zeit im Sonderkommando. Sie stärkten und ermutigten sich gegenseitig, arbeiteten und litten gemeinsam. Sie waren vor ihrer Ankunft nach Auschwitz verschieden, mussten aber gemeinsam bestehen und überleben.

Shlomo Dragon war ein außergewöhnlicher Mensch, auch unter seinen Kollegen im Sonderkommando. Zuallererst war seine körperliche Statur sehr eindrucksvoll – er war sehr stark, groß, schlank und sehr athletisch, auch noch als älterer Herr. Wer ihn sah, musste alle bekannten Vorstellungen von den Juden in der Diaspora aufgeben, da Shlomo die Antithese zu dem schwachen, passiven und ängstlichen Juden war. Shlomo Dragon war dagegen tapfer, mutig, stolz und bestimmend. Auf diese Weise verhielt er sich auch als Mitglied im Sonderkommando. Ich hatte immer den Eindruck, dass Shlomo der Anführer war, obwohl Abraham der ältere Bruder ist. Shlomos Persönlichkeit war viel stärker, viel zäher. Shlomo war der Anführer, Abraham der Geführte. Shlomo war der Praktiker, der Mann von Welt. Sein Bruder Abraham war die gesamte Zeit während des Holocaust mit ihm zusammen. Diese Brüder waren ein perfektes Paar und sie waren völlig verschieden: Alles was Shlomo war, war Abraham nicht.

Shlomo Dragon während Film- Dreharbeiten mit Gideon Greif im Museum Auschwitz, 1993, © APMO, Nr. neg. fot. 21399/1

Shlomo war genau der Mensch, der niemals seine Hoffnungen und seinen Optimismus im Krematorium verlieren würde. Als Kämpfer im Geist verlor er nie seinen Mut und seinen Willen zum Leben. Er war bestimmt nicht eines der Mitglieder des Sonderkommandos, die zu „Robotern“ oder „lebenden Maschinen“ wurden.

Ich traf Shlomo und seinen Bruder zum ersten Mal in den späten achtziger Jahren. Shlomo machte sofort einen starken Eindruck auf mich: er war selbstbewusst, gesprächig, extrovertiert, also das genaue Gegenteil von seinem Bruder. Shlomo war immer begierig darauf, mir alles über das Sonderkommando im Detail zu erklären. Er wusste tatsächlich sehr viel, da er, gemeinsam mit seinem Bruder, beinahe alle möglichen Aufgaben im Krematoriumsgebäude gemacht hatte: Das Reinigen der Baracken der Sonderkommando-Häftlinge, das Herausziehen der Leichen aus den Gaskammern, das Verbrennen der Leichen, das Schütten der Asche in den Fluss, und andere Aufgaben. In all unseren zahlreichen Interviews war er dominant und übernahm immer die Führung im Gespräch. Wohingegen Abraham still und schüchtern war. Shlomo war dagegen laut, präsent, aktiv. Shlomo war zudem geistesgegenwärtig. Er war dazu imstande die Ereignisse zu ordnen – die Ereignisse ordneten nicht ihn.

Die Interviews stellten mir eine Person dar, die sogar in der Hölle von Auschwitz aktiv war, und keine, die aufgab und zusammenbrach. Shlomo hatte eine Persönlichkeit, die sogar die Deutschen nicht ignorieren konnten. Ich kann ihn mir vorstellen, wie er von den SS-Männern fast alles erreichen konnte was er wollte, für sich und für seinen Bruder.

Shlomo war der einzige Überlebende des Sonderkommandos, der ein Junggeselle blieb und keine Kinder hatte. In der Gruppe der Überlebenden der Sonderkommando-Leute ist das eine außergewöhnliche Tatsache. Auch die Tatsache, dass er mit seinem Bruder Abraham und dessen Frau Simcha zusammenlebte machte ihn einzigartig.

1993 machte ich einen Dokumentarfilm über das Sonderkommando in Birkenau (Unglücklicherweise, aus finanziellen Gründen, bis heute unvollendet). Shlomo, Abraham und Simcha waren unter den Überlebenden, die ich beschlossen hatte zum Filmen mitzunehmen.

Ich machte die Interviews mit den Überlebenden genau an der Stelle, an der sie gearbeitet hatten und als Mitglieder des Sonderkommandos aktiv waren. Das war das Prinzip meines Films: die historischen Szenen exakt zu rekonstruieren. In den Szenen über historische Ereignisse war Shlomo sehr Überzeugend. Er gab mir brillante Interviews und erkannte sofort alle Orte und Stellen. Er hatte einen speziellen Charme als er vor der Kamera stand. Er füllte den Rahmen mit der Stärke seiner Persönlichkeit aus. Als ich ihn darum bat uns den Punkt, an dem er die „Geheimen Schriften“ der Sonderkommando-Mitglieder gefunden hatte, zu zeigen zögerte er nicht eine Sekunde: Sofort ging er zu der Stelle – nicht weit vom Eingang zum Gebäude des Krematoriums III, — und zeigte der Kamera den Ort. Shlomo war der erste der diese Stelle im Februar 1945 ausfindig machte und die Sowjetische Untersuchungskommission, die nach Auschwitz gekommen war um die Verbrechen der Deutschen in Auschwitz zu untersuchen, mit diesem wichtigen historischen Material versorgte.

Aus der Zeit als ich in Birkenau filmte erinnere ich mich lebendig an die folgende Episode:

Am zweiten Tag der Aufnahmen kam ich mit der Crew zu dem „Roten Häuschen“, der früheren primitiven Gaskammer. Dort traf ich Prof. Marcello Pecetti, ein italienischer Historiker. Marcello kam zu uns und begann mit mir über verschiedene Angelegenheiten betreffend das Sonderkommando zu sprechen. Plötzlich erwähnte er den Namen Shlomo Dragon. Als ich das hörte war ich mir sicher, dass er Shlomo in der Nähe bemerkt hätte. Aber dann sprach er von Shlomo als Person, die vor langer Zeit gestorben war und wollte wissen wo er eine bestimmte Aussage von ihm aus dem Jahr 1945 finden kann. Ich reagierte überrascht: „Sie können eine direkte Antwort auf ihre Frage von Shlomo, der hier ist, ihnen gegenübersteht, bekommen“. Marcello wurde blass, außerstande zu glauben, dass der historische Held vor ihm steht. Er zögerte einen Moment, bis er realisierte, dass ich keinen Witz gemacht hatte. Er ging dann langsam auf Shlomo zu und begann mit ihm zu sprechen. Vor kurzem habe ich mich mit Marcello in Birkenau wieder getroffen, in der Nähe der Überreste des Krematoriumgebäudes II, und er brachte diese Episode wieder in unsere Erinnerung.

Als ich das erste Mal von Shlomos Krankheit erfuhr war ich mir ganz sicher, dass er sie überwinden und sich wieder erholen würde.

Unglücklicherweise war die Natur stärker als Shlomo. Als ich von seinem Tod hörte sagte ich zu mir selbst: ein starkes Stück Geschichte ist für immer verloren. Nichtsdestotrotz, sein Kampf für Leben, persönliche Würde und die Würde seiner Kameraden im Sonderkommando – wird niemals vergessen werden.



Hinweise:

Der Herausgeber dankt Dr. Gideon Greif, den besten Kenner von Abraham und Shlomo Dragons Lebens- und Leidensgeschichte, für die Genehmigung, diesen Nachruf online auf SoKoS zu veröffentlichen. Dr. Greifs Nachruf wurde exklusiv zur Veröffentlichung in diesem Informationsportal für die dauerhafte Erinnerung an Shlomo Dragon verfasst.

Ein ausführliches Interview mit Shlomo Dragon und seinem Bruder kann auszugsweise in dem Buch von Gideon Greif „Wir weinten tränenlos…“ nachgelesen werden (TB-Ausgabe: Frankfurt am Main 1999). Ein Protokoll von Shlomo Dragons frühen Erinnerungen, das von den polnischen Untersuchungsbehörden am 10., 11. und 17. Mai 1945 angefertigt wurde, ist in dem Buch „Die Zahl der Opfer von Auschwitz“ von Franciszek Piper (Oswiecim 1993) enthalten.



Zeugen der Untersuchungskommission: Henryk Tauber und Shlomo Dragon vor der Desinfektionskammer des Effekten-Lagers I in Auschwitz, 1945, Originalabzug im Archiv Kilian


Anmerkungen von A. Kilian:

Es bleibt zu hoffen, dass die erwähnten eindrucks- und wertvollen Filmaufnahmen aus dem Jahre 1993 in naher Zukunft einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können und die emotionalen und physischen Strapazen der Dreharbeiten damit für die letzten Überlebenden eines Tages Ihren Zweck erfüllen werden.

Shlomo Dragon seligen Angedenkens wird allen, die die Ehre hatten, ihn persönlich kennen zu lernen, in ewiger Erinnerung bleiben. Für die Sonderkommando-Forschung ist er aufgrund der Dauer seiner Kommando-Zugehörigkeit, seiner Funktion im Sonderkommando und der Rolle in der Widerstandsgruppe im Sonderkommando bereits seit 1945 einer der wichtigsten Augenzeugen. Trotz seiner Bereitschaft, umfassend über seine Erlebnisse und die Ereignisse im Sonderkommando Zeugnis abzulegen, hat er viele Informationen und Erinnerungen aus unterschiedlichen Gründen mit ins Grab genommen. Zu Recht wiederholt Gideon Greif daher in seinem Nachruf das Bedauern, das ein Stück Geschichte für immer verloren gegangen sei.

Zudem sind Shlomo Dragons Aussagen vor der sowjetischen Untersuchungskommission und ein Teil seiner Fundsachen bedauerlicherweise bis in die Gegenwart verschollen geblieben. Das Auffinden dieser bedeutenden Quellen ist eine der wichtigsten Aufgaben in der Sonderkommando-Forschung.


(Letzte Änderung: 05.06.2005)




   

David Olère 1938 und ca. 1980, © Privatarchiv Alexandre und Marc Oler

David Olère

(19.01.1902 Warszawa – 21.08.1985 Noisy-le-Grand)

 

My Father

by Alexandre Oler (1930-2010)

When my father, David Olère, returned home from Germany in June 1945, there was not much left of him but his eyes. The rest of his emaciated body bore more resemblance to a ghost than a human being

He had been liberated a month earlier by the US army. Like so many others, he had been on death marches; unlike the others, however, he had also observed sights such as no other survivor had beheld.

What he had seen had never happened before. There was no point of reference for what he had witnessed. He could not speak of it. He had no words with which to describe it, although he was fluent in five languages. He could not share his experience with us, his family – we would never have understood.

But my father realized that his personal ability lay not in narrating the story of what had happened, but in depicting it in visual form, using his artistic talents to show the world how the Jews had suffered – and at whose hands.

David Olère already worked as a professional artist before the war, and was well known as a designer of posters and stage sets in both Berlin and Paris during the years 1925-1940. The pre-and post-war paintings and sculptures not related to the Holocaust belong to private collections or to the Trocadero – the National Museum of the Cinema in Paris.

He embarked upon his visual testimony in 1946, producing drawings and site-plans with almost photographic precision. Later, he expressed himself more emotionally in large oil canvases. Some of the nude women portrayed in the gas chambers or being carried to the crematoria bore the image of his wife, my mother.

Most of the drawings are currently under the care of either the Yad Vashem Art Museum and Remembrance Authority in Jerusalem, Israel, or the Ghetto Fighters Museum near Acco, Israel. A collection of eighteen large oil on canvas is at the Museum of Jewish Heritage in Battery Park, New York, facing the Statue of Liberty. The rest of my father’s Holocaust drawings are spread around several museums in France.

Life was not easy in our tiny house in a small village on the outskirts of Paris. The dining-room was also the workshop, and the walls were covered from floor to ceiling with designs, sketches and wet canvases. Sculptures that had been broken by vandals lay in pieces on the kitchen table. My mother suffered several nervous breakdowns and it was not easy for her even to talk to my father as he thought he would not live long enough to accomplish his “duty”. He remained within the barbed-wire fence and we, on the outside, could not get through to him.

David und Alexandre Oler, Juli 1938 © Privatarchiv Alexandre Oler

In the first years after the liberation he found only incomprehension, if not indifference: people were preoccupied by their own problems. Later, matters deteriorated still further when a handful of “intellectuals”, headed by a French university professor, came out with the theory that “all that” had never existed, and was mere Zionist propaganda. Among them was a University professor who had received much public notice in France and abroad as the first Holocaust denier. My father, however, who had witnessed the horrors of the Holocaust at first hand, could not interest the press or the television in his visual testimony.

My mother and I argued with him that denial was preferable to indifference and would provoke positive reaction – as in fact later proved the case. The effect of the apparition of revisionism in France gave motivation to David Olère to sculpt till 1983- 1984 despite serious Health problems – to sculpt to try to replace his nine broken and stolen sculptures, at least by smaller ones. My father died in 1985 at the age of 83.


Hinweis:

Wir danken Alexandre Oler für die exklusive Zusammenstellung seiner Erinnerungen sowie für seine Zustimmung zur Veröffentlichung des Texts und auch der beiden Privatfotos auf www.sonderkommando-studien.de. Zudem sei an dieser Stelle Marc Oler für die Genehmigung der Veröffentlichung des Fotos seines Großvaters aus dem Jahre 1980 sowie für seine hilfreiche Unterstützung herzlich gedankt.


(Letzte Änderung: 30.12.2005)