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Inhaltsübersicht:

 

Interview- Sammlung: „Wir weinten tränenlos…“ von Gideon Greif

 

Sachbuch: „Zeugen aus der Todeszone“ von Eric Friedler, Barbara Siebert, Andreas Kilian

 

Erinnerungsbericht: „Sonderbehandlung“ von Filip Müller

 

Erinnerungsbericht: „Im Jenseits der Menschlichkeit“ von Miklos Nyiszli

 

Manuskript: der konspirative Brief Marcel Nadjarys

 

Bildband: „Vergessen oder Vergeben?“ von Alexandre Oler, David Olère

 

Die Rubrik „Literatur“ im Internetportal Sonderkommando-Studien.de, Stand: 2005




Interview- Sammlung: „Wir weinten tränenlos…“

Kurzrezension zu Gideon Greifs Standardwerk

Ein zeitloses Nachschlagewerk der tragischen und traumatischen Erinnerungen

 

Die jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau sind bis in die Gegenwart Thema zahlreicher Legenden und Vorurteile geblieben. Dies liegt vor allem daran, dass man bis vor kurzem kaum etwas über das Innenleben dieses Arbeitskommandos und seiner Häftlinge wusste. Im Januar 1995 wurde erstmals ein Werk veröffentlicht, das Erinnerungen von sieben Überlebenden des jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau gesammelt vorlegte und sich dieser Forschungslücke in der Historiographie des größten nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagers annahm: Gideon Greifs vielbeachtetes Buch mit dem ausdrucksstarken und bewegenden Titel „Wir weinten tränenlos…“.

    

Vermutlich nur bis zu 110 Häftlingen gelang es zu überleben – 110 von schätzungsweise 2200 Männern, die zwischen Mai 1942 und Januar 1945 zur Arbeit im Kommando „der lebenden Toten“ gezwungen wurden. Gegenwärtig leben noch 18 ehemalige Sonderkommando-Häftlinge. Von den 110 Überlebenden haben nur weniger als die Hälfte (45%) überhaupt Zeugnis abgelegt. Von ihnen konnte Greif 24 Zeugen interviewen. Etwa ein Drittel der Befragten kommt in Greifs Buch zu Wort, das seit Januar 1999 in der überarbeiteten Ausgabe des Fischer Taschenbuchverlags vorliegt.

In Gideon Greifs Band berichten sieben von schätzungsweise zwanzig Überlebenden, die zwischen Sommer 1946 und Ende 1949 in Eretz Israel ihre neue Heimat fanden. Die Auswahl und Zusammenstellung ihrer Aussagen gibt einen relativ guten Überblick über die Zwangsarbeit des Sonderkommandos, da diese Überlebenden unterschiedlicher sozialer und nationaler Herkunft waren sowie Funktionen in verschiedenen Arbeitsgruppen hatten. Somit ergibt Greifs Interview-Sammlung eine recht gute Zusammenstellung der verschiedenen Arbeitsgruppen im Sonderkommando, liefert eine genaue Darstellung des Ablaufsschemas der Vernichtungsaktionen sowie detaillierte Informationen über die Vernichtungseinrichtungen und ihre Technik.

Bisher bleibt dieser Band das einzige Beispiel gesammelter Interviews mit ehemaligen Sonderkommando-Häftlingen weltweit. Die restlichen zwei Drittel der gesammelten Aussagen, die Greif systematisch in 18-jähriger und unermütlicher Arbeit gesammelt und aufgezeichnet hat, warten bisher noch vergeblich auf einen Verleger und auf ihre Erstveröffentlichung. Die Edition weiterer Interviews mit anderen Überlebenden wäre wünschenswert und sogar eine wichtige  und notwendige Grundlage für weitere Forschungszwecke, alle Veröffentlichungs-Versuche scheiterten jedoch bisher aus „verlagswirtschaftlichen“ Gründen. Diese Dokumente sollten der Öffentlichkeit 10 Jahre nach der Erstveröffentlichung von „Wir weinten tränenlos…“ nicht länger vorenthalten werden. Möglicherweise ist die mangelnde Unterstützung des Projekts aber auch ein Indiz für die Ignoranz der Entscheider.

Neben der ersten Gesamtdarstellung der Geschichte des jüdischen Sonderkommandos, der im zuKlampen-Verlag im Oktober 2002 erschienenen Monographie „Zeugen aus der Todeszone“, ist Greifs Werk das einzige erhältliche Buch in deutscher Sprache, das aus dem innersten Zirkel der Todesfabrik Auschwitz, dem „Innern der Hölle“ (Gradowski) und „der Grauzone“ der Shoah (Levi) berichtet. Neun Jahre nach der Erstveröffentlichung ist Greifs Werk nach wie vor eine unverzichtbare Quelle für die intensive Beschäftigung mit der Massenvernichtung an den europäischen Juden, ein zeitloses Dokument sowie eine eindringliche Arbeit, in der immer wieder längst verdrängte Details beim Lesen neue Aufmerksamkeit hervorrufen.

Greifs Interview- Sammlung ist ein Nachschlagewerk der Erinnerungen an das Grauen in der Todeszone, das nicht von historischen Kommentaren unterbrochen oder in größere und komplizierte Zusammenhänge eingebettet wird. Dieses bewährte Konzept macht das Buch für jeden leicht lesbar und für Interessierte unbedingt lesenswert.

Diese aktualisierte und gekürzte Buchbesprechung, die auf dem Beitrag von Andreas Kilian: Stimmen aus dem „Herz der Finsternis“. Zur Bedeutung von Gideon Greifs Interview-Sammlung: „Wir weinten tränenlos…“, in: Mitteilungsblatt der Lagergemeinschaft Auschwitz, Freundeskreis der Auschwitzer, 19.Jg., H.1, (1999), S.9-19, beruht, wurde auf www.amazon.de veröffentlicht.


(Letzte Änderung: 18.07.2004)

Buchbesprechung

Zur Bedeutung von Gideon Greifs Interview- Sammlung: „Wir weinten tränenlos…“  Augenzeugenberichte des jüdischen „Sonderkommandos“ in Auschwitz. Überarbeitete Ausgabe, Frankfurt/M. 1999.

Von Andreas Kilian

Stimmen aus dem „Herz der Finsternis“

Die jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau sind bis in die Gegenwart Thema zahlreicher Legenden und Vorurteile geblieben. Dies liegt vor allem daran, dass man bis vor kurzem kaum etwas über das Innenleben dieses Arbeitskommandos und seiner Häftlinge wusste. Im Januar 1995 wurde erstmals ein Werk veröffentlicht, das Erinnerungen von sieben Überlebenden des jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau gesammelt vorlegte und sich dieser Forschungslücke in der Historiographie des größten nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagers annahm: Gideon Greifs vielbeachtetes Buch mit dem ausdrucksstarken und bewegenden Titel „Wir weinten tränenlos…“.

Vermutlich nur bis zu 110 Häftlingen gelang es zu überleben – 110 von schätzungsweise 2200 Männern, die zwischen Mai 1942 und Januar 1945 zur Arbeit im Kommando „der lebenden Toten“ gezwungen wurden. Die vielsagende Bezeichnung geht auf Dr. Miklos Nyiszli, den Pathologen Josef Mengeles und ehemaligen Häftling des Sektionskommandos in Krematorium I, zurück.

Gegenwärtig leben noch 18 ehemalige Sonderkommando-Häftlinge. Von den 110 Überlebenden haben nur weniger als die Hälfte (45%) überhaupt Zeugnis abgelegt. Von ihnen konnte Greif 21 Zeugen (Stand: 1999; bis 2001: 24 Zeugen) interviewen. Etwa ein Drittel der Befragten kommt in Greifs Buch zu Wort, das seit Januar 1999 in der überarbeiteten Ausgabe des Fischer Taschenbuchverlags vorliegt.

Im Oktober 1999 erschien zudem eine zweite überarbeitete und erweiterte Ausgabe erstmals in hebräischer Sprache. Die Ausgabe unterscheidet sich von der Fischer-Taschenbuch-Ausgabe durch ein weiteres Interview mit dem Überlebenden Jaacov Silberberg, ein zusätzliches Foto des Interviewten sowie durch eine neue historische Einleitung und einen erweiterten Anmerkungsapparat.

   

Die restlichen zwei Drittel der gesammelten Aussagen Gideon Greifs warten bisher noch vergeblich auf einen Verleger und auf ihre Erstveröffentlichung.

Das Sonderkommando und sein Schicksal

 

Mit der Inbetriebnahme des ersten Krematoriums im Stammlager Auschwitz am 15. August 1940 entstand gleichzeitig ein Teilaufgabenbereich der Häftlingsarbeitsgruppe, die zweieinhalb bis drei Jahre später in den neuerbauten Birkenauer Krematorien nur noch als „Sonderkommando“ bezeichnet wurde. Im Juni 1942 bestand das „Kommando Krematorium“ aus drei polnischen und drei jüdischen Heizern sowie aus fünf jüdischen Häftlingen, die als, nach ihrem Vorarbeiter Fischl benannten, „Fischl-Kommando“ die Spuren der Vernichtungsaktionen beseitigen und die Leichen der Vergasten zur Einäscherung vorbereiten mussten. Das „Fischl-Kommando“ wurde kurze Zeit später mit den Heizern des Krematoriums vereinigt und von der Abteilung Arbeitseinsatz der Lagerverwaltung unter dem Namen „Krematoriums-Kommando“ geführt. Von diesem Kommando überlebten nur zwei Häftlinge. Parallel dazu existierte seit Mai 1942 in Birkenau ein als „Begrabungskommando“ bezeichnetes reines Sonderkommando, das aus 200 bis 250 slowakischen Juden gebildet wurde, die in dem ersten provisorischen Vergasungsbunker in Birkenau und zu drei Vierteln bis drei Fünfteln zum Ausheben und Zuschütten der Massengräber eingesetzt wurden.

Zweimuffelofen im Alten Krematorium, © A. Kilian 2004

Nach der Inbetriebnahme des zweiten provisorischen Vergasungsbunkers Ende Juni 1942 wurde noch im September 1942 die Begrabungsaktion eingestellt und am 21. September mit der sogenannten „Enterdungsaktion“ und der Verbrennung unter freiem Himmel begonnen. Das zu diesem Zweck auf etwa 400 jüdische Häftlinge vergrößerte Arbeitskommando nannte man fortan „Sonderkommando“. Bevor das gesamte Kommando am 9. Dezember 1942 vollständig liquidiert wurde, gelang es schätzungsweise zehn französischen, holländischen und slowakischen Juden unbemerkt in ein anderes Arbeitskommando, hauptsächlich zum Kommando „Buna“, zu wechseln und so zu überleben.

Am 9. Dezember 1942 begann in Auschwitz-Birkenau die Geschichte desjenigen von Greif erforschten jüdischen Sonderkommandos, das aus etwa 300 polnischen und litauischen luden gebildet wurde und nach der hohen Zuteilung von französischen, griechischen und ungarischen Juden am 22. August 1944 den Höchststand von 874 Häftlingen erreichte. Seit der Inbetriebnahme der vier neuen Krematorien in Birkenau zwischen März und Juni 1943 bis zur Einstellung der Vergasung in den provisorischen Vergasungsbunkern 1 und 2 und der Einstellung der Leichenverbrennung in Gruben im Sommer 1943 wurden die Krematoriums- und Sonderkommandos vereinigt, von der Abteilung Arbeitseinsatz als „Kommando Krematorium“ verzeichnet, aber sowohl von den Häftlingen als auch von der SS als „Sonderkommando“ weiterhin bezeichnet. Sonderkommando und Krematoriumskommando waren somit identisch. Dies änderte sich vorübergehend nach der erneuten Inbetriebnahme von Bunker 2 zwischen Mai und September 1944, als Häftlinge von den Krematorien abgezogen wurden, um wieder als reines Sonderkommando tätig zu werden.

Zu den Aufgaben des Sonderkommandos gehörte es, die Opfer in den Auskleideräumen zu „empfangen“ und in die Gaskammern zu führen. Nach der Ermordung mussten die Häftlinge des Kommandos die Leichen aus den Kammern räumen und diese säubern. Auch waren sie gezwungen, den toten Frauen das Haar abzuschneiden, den Ermordeten Goldzähne und Zahnprothesen auszubrechen und die Leichen nach versteckten Wertsachen in den Körperöffnungen zu untersuchen. Des Weiteren hatte das Sonderkommando den Entkleidungsraum aufzuräumen, die Leichname in die Öfen zu schieben, sie in den Verbrennungsgruben aufzuschichten oder sie in die bereits in Brand gesetzten Gruben zu werfen. Anschließend mussten die Gruben gesäubert, die nicht vollständig verbrannten Knochen zertrümmert, die Asche in Gruben und später in den Flüssen Weichsel und Sola beseitigt werden. Bei Erschießungen gehörte es des Weiteren zur „Arbeit“ einzelner Sonderkommando-Häftlinge die Opfer festzuhalten.

Im Hintergrund Gelände von Bunker 1 und der benachbarten Scheune, © A. Kilian 1995

„Schwarze Arbeit“ des Holocaust


Die Arbeiten dieses isoliert untergebrachten Kommandos waren streng geheim. Das Krematoriumsgelände war Sperrgebiet und von anderen Häftlingen und SS-Angehörigen nur mit Sonderausweis oder Sonder-Erlaubnis betretbar. Darum war alles, was sich in der Todeszone abspielte, für den „gewöhnlichen“ Häftling mehr oder weniger geheimnisvoll und alles, was ein Häftling außerhalb des Sonderkommandos darüber in Erfahrung bringen konnte, blieb nur Anschauung von einem entfernten, distanzierten Standpunkt aus. Den entscheidenden Unterschied definierte Jaacov Gabai in Greifs Interview mit den Worten:

Wer im Lager arbeitete, sah täglich den Tod vor seinen Augen, Schläge und alle überlebensmöglichen anderen Tragödien, aber wir sahen das Furchtbarste vom Furchtbaren. Wir machten die schwarze Arbeit des Holocaust.

Einschubwagen des dritten Doppelmuffelofens im Alten Krematorium, © A. Kilian 2004

Geheimnisse verlangen nach Aufklärung und das Sonderkommando schleuste Informationen in das Häftlingslager und von dort über die Widerstandsbewegung an die Außenwelt. Einige Widerstandsgruppen innerhalb des Lagers profitierten daher nicht nur von den vom Sonderkommando weitergereichten Wertsachen, sondern auch von deren Geheiminformationen. Das Sonderkommando als Quelle dieser Informationen wurde dabei vom Nachrichtendienst der Lagerwiderstandsbewegung verschwiegen. Das was über das Sonderkommando bekannt wurde, wurde interpretiert, verstümmelt, verkam zu Gerüchten, zu sogenannten Latrinenparolen. Diese haben in der Auschwitz-Literatur häufig Eingang gefunden und blieben unwidersprochen, was eine Berichtigung durch die Menschen herausforderte, die über das Geschehen zuverlässigere Zeugnisse ablegen können. Abgesehen von den wenigen beteiligten ehemaligen SS-Angehörigen, die nach Kriegsende nur selektiv und unfreiwillig Einblick in das Geschehen ermöglichten, verbleiben somit nur noch die wenigen Überlebenden der Sonderkommandos als zuverlässige Zeugen, von denen Jaacov Gabai sagte:

Wir waren die einzigen, die die Tragödie der Juden mit eigenen Augen sahen.“

Die dritte Gruppe an Zeugen des Auschwitzer Judenmords in den Vergasungsanlagen waren die Ermordeten selbst. Ihre erschütternden Todesschreie und einige einzelne ergreifende, nicht verstummen wollende letzten Worte wurden von den Überlebenden der Sonderkommandos überliefert. Die Stimmen aus dem „Herz der Finsternis“ stammen aus einer Zwischenwelt, der Übergangszone vom Diesseits in das Jenseits. Die Welt des Sonderkommandos stellt die Endstation dessen dar, was unter dem Begriff „Holocaust“ oder „Shoah“ verstanden wird.

Die Unfassbarkeit des Überlebens


Ehemalige Auschwitz-Häftlinge anderer Kommandos sowie ehemalige SS-Angehörige hielten es für unmöglich, dass Sonderkommando-Häftlinge überlebt haben sollen. Oswald Kaduk, Rapportführer im Stammlager Auschwitz, machte dies in folgendem Kommentar während des Frankfurter Auschwitz-Prozesses deutlich:

Es scheint mir ausgeschlossen, dass der Zeuge (Filip Müller, d.Verf.) als Angehöriger des Sonderkommandos den Aufenthalt in Auschwitz überlebt hat. Ich weiß mit Bestimmtheit, dass die Angehörigen des Sonderkommandos von Zeit zu Zeit restlos beseitigt worden sind. Von den Sonderkommandos blieb dann niemand übrig, auch die Funktionshaftlinge fielen der Vernichtung anheim.“

In Wirklichkeit gab es nachweislich bis Ende 1942 wie bereits erwähnt nur eine vollständige Liquidierung des Sonderkommandos: am Vormittag des 9. Dezember 1942 in der Gaskammer von Krematorium I. Danach kam es mehrfach zu Teilliquidierungen: am 24. Februar 1944 wurde die Hälfte des Kommandos vernichtet, am 23. September 1944 waren es 25 Prozent, und nach dem Aufstand im Sonderkommando am 7. Oktober 1944, dem 70  Prozent der Aufständischen zum Opfer fielen, wurden am 26. November 1944 die Hälfte der Überlebenden ermordet. Dies erklärt, warum sich unter den 100 Sonderkommando-Häftlingen, denen es am 18. Januar 1945 gelang, sich der Lagerevakuierung anzuschließen, zahlreiche „alte Häftlingsnummern“ befanden, die sich bereits seit Ende 1942 oder Anfang 1943 in diesem Kommando befanden. Von den 26 griechischen Juden, die Mitte Mai 1944 in das Sonderkommando eingewiesen wurden und am 18. Januar 1945 auf Evakuierungsmarsch gingen, erlebten vermutlich nur 11 das Kriegsende. Von den letzten etwa 60 polnischen und litauischen Juden überlebten vermutlich 50 Mann. Für ehemalige Sonderkommando- Häftlinge ist es selbst nur schwer zu glauben, dass sie das Grauen monatelang durchlebt und überlebt haben. Der unbewusste Wunsch, alles nur einen bösen langen Traum sein zu lassen, blieb und bleibt ihnen aber unerfüllt.

Chronisten der „Todesfabrik“


In Gideon Greifs Band „Wir weinten tränenlos …“ berichten sieben von schätzungsweise zwanzig Überlebenden, die zwischen Sommer 1946 und Ende 1949 in Eretz Israel ihre neue Heimat fanden. Unter ihnen befinden sich drei Griechen: Josef Sackar (geb. 1924 in Arta), Shaul Chasan (1924 in Saloniki) und Leon Cohen (1910 in Saloniki – 1989 gest.); ein Grieche, der die italienische Staatsbürgerschaft besaß: Jaacov Gabai (1912 Athen – 1991); zwei Polen: die Gebrüder Abram (1919 Zuromin) und Szlama Dragon (1922 Zuromin); sowie ein Litauer: Eliezer Ajzenszmidt (1921 Lunna). Die Auswahl und Zusammenstellung ihrer Aussagen gibt einen relativ guten Überblick über die Zwangsarbeit des Sonderkommandos, da diese Überlebenden Funktionen in verschiedenen Arbeitsgruppen hatten. Sie wurden als Leichen-„Schlepper“ (Chasan), als „Dentist“ (Cohen), als Ofenmuffel-„Einschieber“ (Gabai), als „Elektriker“ (Ajzenszmidt) , als „Stubendienste“ (Gebrüder Dragon), als Hilfspersonal und Aufräumdienst im Auskleideraum (Sackar) eingesetzt. Somit ergibt Greifs Interview-Sammlung eine recht gute Zusammenstellung der verschiedenen Arbeitsgruppen im Sonderkommando, eine genaue Darstellung des Ablaufschemas der Vernichtungsaktionen und liefert detaillierte Informationen über die Vernichtungseinrichtungen und ihre Technik.

Zalmen Gradowski (geb. 1909 in Suwalki – ermordet 1944 in Auschwitz-Birkenau), einer der wenigen, mindestens sieben Mann zählenden Chronisten „inmitten des grauenvollen Verbrechens“ und selbst Häftling des Sonderkommandos, leitete seine tagebuchähnlichen Notizen mit folgenden Worten ein: „Der Interessierte findet in diesem Dokument wichtiges Material für einen Historiker.“ Ein anderer Chronist der Ereignisse in der „Todesfabrik“ Auschwitz-Birkenau, Zalmen Lewental (l918Ciechanow-1944), erachtete es als seine historisch begründete Pflicht, Beweise des Verbrechens der Nachwelt des Mikrokosmos Auschwitz zu hinterlassen. Sein befristetes Dasein als „Geheimnisträger“ widmete er der Dokumentation des Unvorstellbaren und „alles weitere“, so kommentierte er, „überlasse ich den Historikern und Wissenschaftlern“.

Ruine von Krematorium IV(V), © A. Kilian 1991

Das historische Bewusstsein nicht nur der Chronisten im Sonderkommando war außerordentlich hoch. Dies belegen nicht nur die zukunftsorientiert motivierten, konspirativen Tätigkeiten einzelner Sonderkommando-Häftlinge in Auschwitz-Birkenau und der verzweifelte Aufstand des von der Vernichtung bedrohten Sonderkommandos am 7. Oktober 1944, sondern auch die unmittelbar nach der Befreiung von Überlebenden abgelegten Zeugnisse vor verschiedenen Untersuchungskornmissionen, die Zeugenaussagen in mindestens vier Gerichtsprozessen in Polen, Deutschland und Osterreich, und nicht zuletzt die von neun Überlebenden in verschiedenen Sprachen veröffentlichten Erinnerungsschriften, sowie die von Gideon Greif publizierten Interviews. Seinen gemeinsam mit der Handschrift nach der Befreiung von Auschwitz aufgefundenen Brief vom 6. September 1944 schließt Gradowski mit einem letzten hoffnungsvollen Willen, der an „die zukünftige Welt des Friedens“ gerichtet war: „Möge die Zukunft über uns anhand meiner Notizen ihr Urteil abgeben, und möge die Welt wenigstens einen Tropfen, ein Minimum dieser tragischen Welt. In der wir lebten, erblicken.“ Gradowski, der selbst schon die Hoffnung aufgegeben hatte die Befreiung zu erleben und zu den 451 Opfern des Sonderkommando- Aufstands von 1944 gehörte, konnte nicht ahnen, dass etwa 70 Häftlinge des letzten Sonderkommandos das Kriegsende überleben würden. Die seinen Anspruch umschreibenden Worte behalten jedoch auch für die von Gideon Greif gesammelten und herausgegebenen Aussagen ihre Gültigkeit.

Vorurteile und Diffamierungen


Tatsächlich wurden die geheimen und zwischen Februar 1945 und Oktober 1980 aufgefundenen Handschriften erst relativ spät veröffentlicht. Ebenso erging es den meisten der Erinnerungsschriften ehemaliger Sonderkommando- Häftlinge. In Unkenntnis der Geschichte der jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau fiel das Urteil Außenstehender jedoch relativ negativ aus, besonders in Israel sowie in Nord- und Mittelamerika, wo insgesamt etwa zwei Drittel aller Auschwitz- Überlebenden ihre neue Heimat fanden. Auschwitz-Überlebende anderer Arbeitskommandos bezichtigten die Sonderkommando-Häftlinge der Mittäterschaft an den Verbrechen. Aus eigener Erfahrung kann Abram Dragon darüber berichten:

Vor vier Jahren (Mitte der 80er Jahre, d.Verf.) waren wir in Tiberias in Urlaub. Dort begann eine Überlebende aus Auschwitz in aller Öffentlichkeit von ihren Eindrücken aus ihrer Häftlingszeit zu erzählen. Unter anderem äußerte sie auch :.Die jüdischen Sonderkommando- Häftlinge waren große Mörder und sind zu bestrafen. Sie waren fast so schrecklich wie die Deutschen.‘ Derartige Ansichten hatte ich schon in der Vergangenheit gehört. Und sie sind heute noch in gewissem Maße verbreitet.“

Der Eichmann-Prozess in Jerusalem1961 verschärfte die „öffentliche Meinung“ über das Sonderkommando. Obwohl kaum jemand richtig Bescheid wusste über diese Häftlingsarbeiter. Hannah Arendt leistete ihren nicht unbedeutenden Beitrag dazu. Als Prozessbeobachterin schrieb sie:

Die Artikel 10 und 11des Gesetzes zur Bestrafung von Nazis und ihrer Helfershelfer von 1950 sind offenbar im Hinblick auf jüdische ,Kollaborateure‘ entworfen worden. Überall waren beim eigentlichen Vernichtungsprozess jüdische Sonderkommandos beschäftigt gewesen, sie hatten strafbare Handlungen begangen, um sich vor einer unmittelbaren Lebensgefahr zu retten, und die Judenältesten hatten kooperiert, weil sie dachten, sie könnten damit schlimmere Folgen verhüten.“

Vermutlich meinte manch einer, die Häftlinge des Sonderkommandos seien durch ihr Schicksal noch nicht genug gestraft gewesen. Tatsächlich wurden in Israel mehrere ehemalige Angehörige des jüdischen Ordnungsdienstes in den Ghettos nach zitiertem Gesetz angeklagt und einige sogar verurteilt. Auschwitzer Häftlinge des Sonderkommandos wurden allerdings nicht belangt. Nach ihrer Darstellung der „direkten Handreichungen zur Vernichtung der Opfer“ durch jüdische Kommandos, ließ sich Arendt zumindest noch zu einer Diffamierung des Sonderkommandos hinreißen:

Das alles war zwar grauenhaft, aber ein moralisches Problem war es nicht. Die Selektion und Klassifikation der Arbeiter in den Lagern wurde von der SS getroffen, die eine ausgeprägte Vorliebe für kriminelle Elemente hatte; es konnte sich da in jedem Fall nur um die Auswahl der Schlechtesten handeln.“

Wen wundert es demnach noch, dass die von der SS zu „Geheimnisträgern“ Verdammten ihr Geheimnis weiterhin bewahrten, um sich selbst vor den gängigen Verleumdungen zu schützen und weil sie sich schuldig fühlten – schuldig, weil sie das Grauen überlebt haben.

Mit Verweis auf Gideon Greifs Gespräche kann Arendts These grundlegend widersprochen werden. Die moralischen Dilemmata der Sonderkommando- Häftlinge stellen einen wichtigen Aspekt in Greifs Buch dar. Weil dieser zumeist nicht berücksichtigt wurde, führten allein die erzwungenen Tätigkeiten des Sonderkommandos zur Verurteilung seiner Häftlinge und regten zu phantasiereichen Schreckensvorstellungen an. An ihrer Verbreitung beteiligte sich selbst der angesehene und als seriöser Forscher bekannte ehemalige Auschwitz-Häftling Hermann Langbein. Seine teilweise sehr tendenziöse und diffamierende Darstellung der Sonderkommando-Häftlinge in seinem Werk „Menschen in Auschwitz“ wurde in der Neuausgabe von 1995 durch die Streichung des folgenden Satzes entschärft und zum Teil revidiert:

Mitglieder des Sonderkommandos haben dem halben Kind (Jehuda Bacon, d.Verf.) erzählt, dass eine Frau, die drei Minuten tot ist, so wie eine lebendige ist‘ – sie haben sich an Leichen vergangen.“

Ascheteich neben Krematorium III(IV), © A. Kilian 1991

Damit forderte Langbein erstmals einen öffentlichen Protest von Sonderkommando-Überlebenden heraus. Kurz vor seinem Tode zeigte er sich nach 16 Jahren schließlich einsichtig und veranlasste die Herausnahme des besagten Zitats.

Die erzwungenen „Arbeiten“ der Sonderkommandos waren lange Zeit nicht für die Öffentlichkeit und selbst nicht für den engsten Familienkreis der Kommando-Überlebenden bestimmt. Zuerst hielt man sie nicht für glaubwürdig, erklärte sie sogar für verrückt. Dann blieben die Berichte über das Innenleben der „Todesfabrik“ und die Erinnerung an die letzten Lebensminuten von hunderttausenden europäischen Juden besonders in der israelischen Gesellschaft tabuisiert. Auch diese wenig bekannte und kaum ins Bewusstsein gerufene Problematik wird in Greifs Werk thematisiert. Die Arbeit an den Krematoriumsöfen, Verbrennungsgruben und in den Gaskammern war ein Schreckensgespenst für alle Betroffenen, die Angehörige verloren hatten, nicht nur für die Überlebenden selbst.

Das Unverständnis für die tragische und ausweglose Situation im Sonderkommando führte selbstgerechte Kritiker zu der Darstellung der Sonderkommando-Häftlinge als Tiere und Bestien. Die ehemalige Auschwitzer Häftlingsfrau Krystyna Zywulska teilte wie viele andere auch diese Ansicht und berichtet, wie sie von einem anonym gebliebenen Sonderkommando-Häftling im an Krematorium Ill benachbarten Effektenlager „Kanada II“ belehrt wurde:

Du glaubst, dass im Sonderkommando lauter grausame Leute sind. Ich versichere dir, dass diese Leute wie alle anderen sind – bloß viel unglücklicher.“

„Es wird euch niemand glauben“


Jahrzehntelang schwiegen daher die ehemaligen Häftlinge der jüdischen Sonderkommandos aus Furcht vor Anschuldigungen anderer Überlebender, aus Selbstschutz vor moralischen Verurteilungen und aus Scham für die demütigende Zwangsarbeit, die sie ertragen mussten. Diese Scham zu erzeugen, das war von den Deutschen beabsichtigt. Es gehörte zum nationalsozialistischen Vernichtungskonzept, Juden vor ihrer Ermordung zu demütigen und zu peinigen, zu demoralisieren und zu entmenschlichen. Selbst als Zwangsarbeiter litten die Sonderkommando-Häftlinge unter bedrückenden Gewissensnöten: Religiöse Juden schämten sich beim Anblick nackter Frauen. Der jüdische Toten- und Trauerritus wurde in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern unter Todesstrafe verboten und mit Füßen getreten. Die Nicht-Einhaltung des „kwod ha-met“, des respektvollen Verhaltens gegenüber den Verstorbenen, verursachte bei vielen Gewissenskonflikte. Schon das Anschauen eines Toten wurde von der jüdischen Tradition als unvereinbar mit dem „kwod ha-met“ betrachtet. Gegen den Grundsatz des Respekts vor dem Verstorbenen wurde im Prinzip auch verstoßen, wenn die Leichen mit Gürteln oder Spazierstöcken aus den Gaskammern gezerrt und wie Tierkadaver in den Aufzug und in die Verbrennungsgrubengeworfen wurden.

Das jüdische Gesetz verbietet die Verstümmelung des Körpers. Die Autopsien im Sektionsraum von Krematorium I und später in Krematorium IV waren nach jüdischer Vorschrift ebenso verboten wie die Eingriffe an toten Körpern, die mit dem Trennen der verhakten Leichen in den Gaskammern, dem gewaltsamen Abnehmen von Finger- und Ohrringen, oder dem Ausbrechen der Goldzähne und Zahnprothesen verbunden waren. Der Raub des Zahngolds und das Abschneiden des Frauenhaares missachtete das Recht der Verstorbenen auf Unversehrtheit. Es war ein Akt der Leichenfledderei. Das Durchsuchen der Körperöffnungen nach Wertsachen wurde von Einzelnen sogar als Leichenschändung angesehen.

Mit alldem musste ein Sonderkommando-Häftling zurechtkommen und leben. Der allgegenwärtige und alltägliche Tod war keine Alternative. Das Ausbleiben des „Ziduk Ha-Din“ und des „Kadisch“, der jüdischen Trauergebete, war für viele unerträglich und eine große Strafe. Die Arbeit des Sonderkommandos widersprach den Vorschriften der „Chewra Kadischa“, der jüdischen Beerdigungsgesellschaft. „Kohanim“, Angehörigen der ältesten heiligen Familie Israels, den „Tempeldienern“, war der Umgang mit Leichen verboten, doch im Sonderkommando konnte sich ihr Nachkomme Leon Cohen als „Dentist“ dieser Arbeit nicht entziehen.

Knochensplitter auf dem Gelände von Bunker 2, © A. Kilian 1991

Das seelische Leid aller Häftlinge der jüdischen Sonderkommandos und besonders der Gesetzesgelehrten und Religiösen im Sonderkommando war unermesslich. Die Einäscherung der Toten wurde nach jüdischem Brauch als unnatürliches und übereiltes Mittel, sich des Leichnams einer Person zu entledigen, abgelehnt und aufgrund der biblischen Vorstellung verurteilt, dass der Körper in seinen ursprünglichen Zustand zurückkehren und in die Erde gelegt werden müsse. Sollten Sonderkommando-Häftlinge wie durch ein Wunder zufällig entkommen und überleben, so würden sie sich für ihre Arbeiten schämen müssen und das Erlebte nicht preisgeben. Zweitens rechneten die Deutschen zu Recht mit einer Verhaltensweise, die ein SS-Angehöriger einem Häftling des „Sonderkommandos 1005“ in Skidel folgendermaßen umschrieb:

Ihr werdet ohnehin nicht überleben, doch wenn ihr am Leben bleiben solltet und darüber berichtet, so wird es euch niemand glauben.“

Dies war nicht nur während der deutschen Besatzungszeit, sondern noch viele Jahre nach der Befreiung Wirklichkeit und beeinflusste die oftmals ablehnende Haltung der Überlebenden zur Berichterstattung stark.

Das Schweigen wird gebrochen


Zwischen Anfang der achtziger und Anfang der neunziger Jahre setzte eine Wende ein. Viele Sonderkommando- Überlebende fanden sich nunmehr bereit, öffentlich Zeugnis abzulegen. Die Erinnerung nahm mit zunehmendem Alter der Betroffenen nun wieder einen immer bedrohlicher werdenden Platz in ihrem Leben ein. Die offizielle, staatlich oder individuell praktizierte Erinnerungspolitik, die offene Aufarbeitung des Geschehens und das wissenschaftliche Interesse der Historiker, Psychologen, Soziologen und Naturwissenschaftler, das Alter der Überlebenden und der Tod ehemaliger Kameraden, aber vor allem das Anwachsen der Holocaust-Leugnung in Europa und den USA, veranlassten sie, ihr Schweigen zu brechen.

Der Auschwitz-Überlebende Erich Kulka war der erste, der Anfang der Achtziger Jahre gezielt ehemalige Sonderkommando- Häftlinge in Israel und den USA ausfindig machte und einige von ihnen interviewte. Systematisch gelang dies jedoch erst seit 1985 Gideon Greif. Der 1951 in Tel Aviv „nachgeborene“ Historiker des Forschungsinstituts und Pädagogischen Zentrums an der Gedenkstätte „Yad Vashem“ in Jerusalem benötigte viele Jahre, um das Vertrauen der Überlebenden und ihre Bereitschaft auszusagen zu gewinnen und um bisher unbekannte Überlebende aufzuspüren. Das Andenken an ihre ermordeten oder bereits  verstorbenen Kameraden im Sonderkommando, die Erinnerung an den Ablauf der vollständigen Vernichtung unschuldiger Opfer, das Bedürfnis der Selbstrechtfertigung und die Überwindung erstickender Erinnerungen mögen diesen Sinneswandel bewirkt haben.


Hinweis:

Vorliegende Buchbesprechung erschien mit anderem Bildmaterial versehen unter dem Titel: Stimmen aus dem „Herz der Finsternis“. Zur Bedeutung von Gideon Greifs Interview-Sammlung: „Wir weinten tränenlos…“, in: Mitteilungsblatt der Lagergemeinschaft Auschwitz,

Freundeskreis der Auschwitzer, 19.Jg., H.1, (1999), S.9-19.

Die Arbeit basiert auf zwei unveröffentlichten Aufsatzmanuskripten:

1.) Kilian, Andreas: „Resignation und moralisches Wertesystem in der Lebenswelt der Mitglieder des jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau“: Eine Stellungnahme (zu Gideon Greifs Beitrag: „Die moralische Problematik der „Sonderkommando“- Häftlinge), Frankfurt am Main 1995;

2.) Kilian, Andreas: Entwicklungsgeschichte der jüdischen Sonderkommmandos in Auschwitz- Birkenau und Problematik der Quellenlage: (Neue Forschungsergebnisse zur Frühgeschichte der Sonderkommandos in Birkenau), Frankfurt am Main 1995.

Die Fischer- Taschenbuchausgabe, auf die sich die Rezension bezieht, wurde von Andreas Kilian überarbeitet. Zudem flossen in die Bearbeitung der 2. Auflage Korrekturen von Werner Renz (Fritz-Bauer-Institut, Frankfurt am Main) ein. Der erste Abschnitt der historischen Einleitung in der hebräischen Ausgabe sowie die Mehrheit der Anmerkungsergänzungen wurden ebenfalls von Andreas Kilian erarbeitet.

Einige Zahlenangaben in dem vorliegenden Artikel wurden nach neuesten Forschungsergebnissen aktualisiert.


(Aktualisierte Fassung und Letzte Änderung: 18.07.2004)

 

Ehemaliges Gelände der Verbrennungsgruben hinter Krematorium IV(V), © A. Kilian 1991

Sachbuch: „Zeugen aus der Todeszone“

Pressetext

Sie lebten in der Todeszone, sind Zeugen der Geschichte und bis heute Gefangene ihrer Erinnerungen.

Eric Friedler, Barbara Siebert, Andreas Kilian

Zeugen aus der Todeszone

Das jüdische Sonderkommando in Auschwitz

416 Seiten, zahlreiche s/w-Abb.

Die erste Monographie zur Geschichte des jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz

„Das ist eine Krankheit ohne Namen“, sagt Shlomo Venezia. In seinen Träumen sieht er noch immer die verzweifelten Gesichter der Menschen in den Gaskammern. Shlomo Venezia gehört zu dem kleinen, heute noch lebenden Kreis der Häftlinge des jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau.

In den Gaskammern dieses Vernichtungslagers ermordete die SS Hunderttausende Menschen. In Gang halten mussten diese Todesfabrik jedoch hilflose Arbeitssklaven – die jüdischen Häftlinge des Sonderkommandos.

Wie wurde der Massenmord in Auschwitz-Birkenau wirklich ausgeführt? Einige der wenigen Überlebenden des Sonderkommandos geben Antwort. Sie waren – außer den Tätern – die einzigen Augenzeugen. Die SS zwang sie, die Opfer in den Auskleideräumen zu erwarten, ihnen zu helfen, damit es schnell ging. Sie mussten nach der Vergasung die Leichen zu den Öfen schleppen und verbrennen. Wer sich weigerte, wurde ermordet. Doch in der Todesfabrik ging es nicht nur um Massenvernichtung, sondern auch um die Ausbeutung des Menschen bis zum Letzten. Die Sonderkommando-Häftlinge mussten den Leichen die Goldzähne ziehen und die Haare abschneiden. Kleider, Geld, Schmuck, Zahngold, Haar und sogar die Asche der Toten – all dies brachte Gewinn für die SS und den NS-Staat.

Im innersten Zirkel der Todesmaschinerie wurden die Männer zur Sklavenarbeit gezwungen. Sie, die jüdischen Häftlinge im Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau, erlebten unfassbare Grausamkeiten durch die SS. Sie wurden Augenzeugen der Massenvernichtung und Ausbeutung der Juden. Nur wenige von ihnen überlebten und fanden Kraft und Worte, um darüber zu berichten. Die Interviews mit den Männern des Sonderkommandos und mit ihren Angehörigen zeigen, dass die ehemaligen Häftlinge die Todeszone von Birkenau bis heute in sich tragen.

Den Autoren ist es gelungen, Überlebende des Sonderkommandos zu bewegen, über das Grauen in der Todeszone zu sprechen. Diese Interviews waren eine wichtige Quelle für das Buch, das erstmals die Entwicklungsgeschichte des Sonderkommandos detailliert darstellt und auf dem neuesten Forschungsstand die Zusammenhänge aller Vorgänge um das Sonderkommando im KL Auschwitz-Birkenau erklärt.

Eric Friedler, geboren 1971 in Sydney/Australien, ist Journalist. Als Autor und Regisseur realisierte er zahlreiche Dokumentarfilme. Mehrere Jahre war er als Redaktionsmitglied für die ARD-Sendung Report Baden Baden/Mainz tätig. Heute ist er Redakteur in der Abteilung Kultur des NDR Fernsehens.

Barbara Siebert, geboren 1964, studierte Ethnologie. Nach dem Magister absolvierte sie eine Ausbildung als Hörfunkjournalistin. Seitdem arbeitet sie als freie Journalistin und Autorin für Fernsehen und Rundfunk der ARD.

Andreas Kilian, geboren 1974, war Freiwilliger der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste in Auschwitz. Er studierte Neuere Geschichte und Literaturwissenschaft und arbeitet gegenwärtig als freier Mitarbeiter für die Claims Conference Zwangsarbeiter-Fonds.


(Letzte Änderung: 01.10.2002)

Pressestimmen zur ersten Sonderkommando-Monografie

 

REZENSIONEN IN FACHZEITSCHRIFTEN:

    

„The authors dedicate considerable attention to efforts at resistance by the Sonderkommando, giving a much fuller treatment of that subject than has hitherto been available. (…) Zeugen aus der Todeszone is ultimately both more original, treating the history of the Jewish Sonderkommando in far greater detail, and more morally persuasive. Their account of the organized efforts at re-sistance by the Sonderkommandos not only makes for gripping reading but also makes abundantly clear the degree to which the SS succeeded in removing the members of the Sonderkommando almost entirely from the realm of moral choice.”

Book Review by Devin O. Pendas, The Journal of Modern History, Vol. 79, No. 2 (June 2007)

“Überhaupt verlangt die Lektüre des Buches dem Leser einiges ab. Umso höher ist es den Autoren anzurechnen, dass sie den Gesamtkomplex auf sachliche, ja geradezu nüchterne Weise behandeln. (…) das Buch (ist) in stilistischer Hinsicht durchaus gelungen. Es ist verständlich verfasst und genügt gleichzeitig wissenschaftlichen Standards.“

HistLit 2008-1-101, Armin Owzar, in: H-Soz-u-Kult 06.02.2008

„In the light of the foregoing, the form of the work by the three German authors must be acknowledged to be innovative, because it is the first extensive, thoroughgoing treatment of the issues connected with the history of the Sonderkommando. (…) The strength of the book is the unique material it cites, mostly interviews with surviving prisoners, which comes from the private collections of the authors. Some of this material has never been published and is valuable addition on some themes in the history of the Sonderkommando. (…) It must be emphasized that the authors put a good deal of effort into verifying the accounts available to them in such a way as to show the especially complex issues concerning the specific nature of life in the closed “death zone” in an honest way, while at the same time avoiding both supererogatory reveling in the cruelty, and controversial subjects. (…) This book (…) will surely constitute a basis for the perception of the history of the special Kommando from KL Auschwitz in the perspective of the coming years.”

Book Review by Igor Bartosik, Auschwitz Studies 27 (2015)

AUSGEWÄHLTE PRESSESTIMMEN:

„Das Buch hält die Balance zwischen wissenschaftlicher Darstellung und einer erzählerischen Entfaltung des Geschehens. Minutiös rekonstruieren die Autoren Tagesabläufe und Entwicklungsprozesse des Mordens. Spürbar wird jene gespenstische Apathie, in die sich die Sonderkommando-Häftlinge hineinflüchteten, und zugleich ihr zäher Überlebenswille.“

Süddeutsche Zeitung, 14.03.2003

„Die Autoren verknüpfen die Geschichte des Sonderkommandos überzeugend mit der gesamten Geschichte des Lagers Auschwitz. In angemessener nüchterner Sprache und zugleich mit beklemmender Intensität schildern sie den konkreten Ablauf des Holocaust und das Schicksal jener Menschen, die Sklavenarbeit in der Hölle auf Erden verrichten mussten. (…) Es kann als Standardwerk zur Geschichte des jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz bezeichnet werden.“

Kölner Stadtanzeiger, 28.01.2003

„Die erste detaillierte Darstellung der Geschichte des Sonderkommandos von Auschwitz (…). Ausgehend von Interviews mit Überlebenden und Aufzeichnungen, die die Häftlinge des Sonderkommandos vor ihrer Ermordung in die Nähe der Krematorien vergraben konnten, ist ihnen eine außergewöhnliche präzise Rekonstruktion der Ereignisse gelungen. Dabei haben Friedler, Siebert und Kilian viel Sorgfalt darauf verwendet, auch die überlieferten Beispiele von Verweigerung und Widerstand (…) darzustellen.“

Frankfurter Rundschau, 27.11.2002

„Der erste umfassende Bericht über die Geschichte des Sonderkommandos, der erschütternde und bisher unbekannte Einblicke vermittelt.“

Kölnische Rundschau, 24.11.2002

„Das Buch dokumentiert, was eigentlich unbeschreiblich ist: den Alltag des industriellen Massenmords.“

Das Parlament, 27.01.2003

„Die Rekonstruktion des unvorstellbaren Grauens gelingt den Autoren. (…) Dieses Buch schildert die unvorstellbare Maßlosigkeit der nationalsozialistischen Untaten in einer Eindringlichkeit, angesichts derer jeder, wie auch immer geartete, NS-Vergleich in der aktuellen Tagespolitik widerwärtig und geschmacklos ist.“

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.02.2003

„(…) und es gehört zu den besonderen Verdiensten dieses Buches, dass es mit einigen Mythen aufräumt, die den Diskurs über Auschwitz heute bestimmen. Es zeigt Auschwitz als ein Geschehen, dass sich jeder Eindeutigkeit entzieht.“

Süddeutsche Zeitung

 „Eindringlich, sensibel und dennoch sachlich und unsentimental.“

Kölner Stadtanzeiger

„Den Autoren gelingt eine sachliche Schilderung, ohne Pathos, ohne Moralisierung und ohne übertriebene Emotionalisierung. Das ist angesichts der heiklen Materie eine nicht zu unterschätzenden Leistung.“

Im Gespräch. Hefte der Martin Buber-Gesellschaft

„Den Autoren des Buches (…) ist es gelungen, neben überlieferten Beispielen von Verweigerung und Widerstand das selbst auferlegte Schweigen einiger Mitglieder des Sonderkommandos zu durchdringen und dem Leser Einblicke zu verschaffen, die kein Geschichtsbuch liefern kann.“

Neu-Isenburger Anzeiger

„In einer erschütternden und schonungslosen Dokumentation eines lange tabuisierten Themas werden die Zusammenhänge aller Vorgänge um das Sonderkommando dargestellt. (…) Die Autoren haben mit Überlebenden gesprochen, zugleich vermitteln sie den neuesten Stand der (keineswegs abgeschlossenen) Forschung zum Vernichtungskomplex Auschwitz“

Münchner Merkur

HÖRFUNK:

„’Möge die Zukunft über uns anhand meiner Notizen ihr Urteil abgeben’, schrieb einer der Chronisten des jüdischen Sonder-kommandos in einem Brief an die Nachwelt, (…) ‚Und möge die Welt’, fährt er fort, ‚wenigstens ein Minimum dieser tragischen Welt, in der wir lebten, erblicken.’ Das Buch ‚Zeugen aus der Todeszone’ erfüllt, Jahrzehnte danach, die letzte Hoffnung dieses Mannes: Es gibt einen Einblick in das Unvorstellbare.“

WDR3 (Hörfunk): Meinungen über Bücher

„Die in diesem Buch dokumentierten erschütternden Protokolle Überlebender des Sonderkommandos offenbaren die Möglichkeiten und zugleich Grenzen von Zeugenschaften für die Geschichtswissenschaft. (…) Umso wichtiger sind Bücher wie dieses, die versuchen, den kategorischen Imperativ neu zu definieren. Denn es besteht die Pflicht, ohne Unterlass für jene zu sprechen, die nicht sprechen konnten.“

Deutschlandfunk

„Es gibt Geschichten, die sind schwer zu hören und noch schwerer zu erzählen. Eines der schwierigsten Kapitel in der Geschichte des Holocaust trägt den Titel ‚Das jüdische Sonderkommando’. Kaum jemand wagte bisher, sich mit den Männern auseinander zu setzen, die, selbst Opfer, an der Beseitigung der Opfer mitarbeiteten. Eric Friedler, Barbara Siebert und Andreas Kilian haben Überlebende des jüdischen Sonderkommandos befragt, ihre Geschichte recherchiert und daraus ein Buch gemacht, das jede und jeder lesen sollte, der meint, er wüsste schon alles über Auschwitz.“

WDR3 (Hörfunk): Meinungen über Bücher

„Mit ‚Zeugen aus der Todeszone’ liegt erstmals eine lesenswerte Monographie über das jüdische Sonderkommando in Auschwitz vor, inhaltlich umfassend und den Opfern in jeder Beziehung gerecht werdend.“

Webwecker Bielefeld

„Die detaillierten Antworten, die ehemalige Mitglieder des jüdischen Sonderkommandos den Autoren dieses Buches auf die Frage nach ihrer Arbeit gaben, provozieren immer wieder die schwierigste aller Fragen: Warum haben sie diese Arbeit getan? Warum haben sie sich nicht geweigert? Eric Friedler, Barbara Siebert und Andreas Kilian versuchen weder, eine eindeutige Antwort darauf zu finden, noch fällen sie ein Urteil über die kranken, von Depressionen und Schuldgefühlen gequälten Überleben-den, mit denen sie gesprochen haben. Es ist ein großes Verdienst dieses Buches, dass es das Verhalten und das Leid dieser Männer in den Zusammenhang stellt, der beides verursachte. Es zeigt sehr anschaulich, dass die Hölle von Auschwitz-Birkenau vielschichtig war, dass es keinen Ausgang gab, und dass die Todesmaschinerie auch über die noch Lebenden Gewalt ausübte.“

WDR3 (Hörfunk): Meinungen über Bücher

„Dreizehn Jahre lang haben die Autoren den Bereich Sonderkommando erforscht und die erste Gesamtdarstellung dieses besonders grauenhaften Kapitels der an sich schon schrecklichen Geschichte von Auschwitz erstellt. (…) Eindrucksvolle Geschichten, die mehr fesseln als alle abstrakten Zahlen und Fakten.“

ORF (Hörfunk): Ö 1 – Kontext – Sachbücher in Themen

„Die von Eric Friedler, Barbara Siebert und Andreas Kilian dokumentierten Zeugenaussagen aus der Todeszone von Auschwitz bemühen sich um ein anderes, komplexeres Bild. Sie analysieren ein Trauma.“

Deutschlandfunk – Politische Literatur, 11.11.2002

FERNSEHEN:

„Dazu ist jetzt im zuKlampen-Verlag die erste Aufarbeitung und Geschichte der jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau erschienen.“

Kulturzeit (3Sat), 11.11.2002

„Es ist schon belastend das zu lesen, aber die Berichte dieser Häftlinge, die in den Krematorien gearbeitet haben, die erzählen doch sehr viel von den Grundlagen der menschlichen Existenz und auch von der Freude am Leben. Ich kann nur empfehlen, das zu lesen was diese Leute, die das durchgemacht haben, im Rückblick auf diese schrecklichen Jahre ihres Lebens sagen. “

Willkommen im Club – Menschen und Bücher 2002 (Vox)


(Online eingestellt am: 21.08.2004, aktualisiert am: 01.04.2008)


Ofen-Überreste in der verwilderten Ruine von Krematorium IV(V), © A. Kilian 1992

Hintergrundinformationen

 

Zeugen aus der Todeszone

ist die weltweit erste Gesamtdarstellung zur Geschichte der jüdischen Sonderkommandos im nationalsozialistischen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und die umfangreichste Rekonstruktion eines Arbeitskommandos in der Auschwitz-Literatur.

Das Buch beschreibt detailliert die grauenvollen Vorgänge in den Auschwitzer Krematorien sowie die Entwicklung der Massenvernichtung in Auschwitz-Birkenau und analysiert die spezifischen Lebens- und Arbeitsbedingungen im „Kommando der lebenden Toten“.          

„Die Häftlinge des Sonderkommandos teilten ein Trauma: Sie waren nicht nur Zeugen und hilflos ausgelieferte Werkzeuge der Massenvernichtung, sondern lebten in dem ständigen Bewusstsein, dass auch sie von den Deutschen zur Vernichtung bestimmt waren. (…) Unter dieser ständigen allgemeinen Todesdrohung, die noch dadurch verschärft wurde, dass immer wieder einzelne Sonderkommando-Häftlinge durch grausame Willkürakte der SS ihr Leben verloren, reichte der persönliche Zeithorizont der Männer zumeist nur wenige Stunden in die Zukunft. Überlebende Sonderkommando-Häftlinge beschrieben, dass man in dieser extremen Situation nur noch für den Moment lebte, alles andere zählte nicht mehr.“

(TB-Ausgabe 2005, 1. Aufl.)

„Zeugen aus der Todeszone“ stellt jedoch nicht nur historische Abläufe und Prozesse dar, sondern bietet tiefe Einblicke in das Innenleben der Häftlingsgemeinschaft und untersucht zudem soziologische und psychologische Probleme.

„Apathie angesichts der Massenvernichtung, Betäubung durch Alkohol, purer Überlebenswille, der sich auf nichts anderes richtete, als darauf, das eigene Leben kurzzeitig zu sichern, aber auch individueller sowie gemeinsamer, konspirativ organisierter Widerstand gegen die Täter – all dies fand sich im Sonderkommando. Jeder einzelne Häftling musste letztlich – falls er sich nicht zum Selbstmord entschließen konnte – eigene Überlebensstrategien entwickeln, um die Situation, der er ausgeliefert war, ertragen zu können. Diese Strategien wurzelten in ihrer Herkunft und ihren Lebenserfahrungen vor ihrer Zeit als Sonderkommando-Häftlinge.“

Besondere Aufmerksamkeit wird der Untersuchung der Widerstandsbewegung im Sonderkommando gewidmet. Das Buch berichtet minutiös über den einzigen bewaffneten Aufstand im KL Auschwitz und liefert eine detaillierte Darstellung der12-monatigen Vorbereitungen.

„Viele Sonderkommando-Häftlinge versanken in Apathie und Hoffnungslosigkeit. Doch nicht alle waren bereit, vor der SS zu kapitulieren und kampflos zu sterben. Seit etwa Herbst1943 plante eine kleine Gruppe innerhalb des Sonderkommandos einen Aufstand. Diese Männer wussten, dass sie damit ihre eigenen Überlebenschancen minimierten. Trotzdem schlossen sie sich zusammen, knüpften aus ihrer Isolation heraus Kontakte zur Widerstandsbewegung im Lager und wagten immer wieder ihr Leben, um sogar Sprengstoff in die Krematorien einzuschleusen. Die gemeinsamen Planungen, die Hoffnung, zumindest an einigen der verhassten SS-Angehörigen blutig Rache nehmen zu können und mit einem Aufstand des Sonderkommandos ein historisches Fanal gegen den Massenmord zu setzen, hielt diese Männer am Leben.“

Der Frage nach dem Überleben im Sonderkommando wird ebenso nachgegangen, wie den Folgen des Erlebten nach Kriegsende und dem Schicksal der traumatisierten Überlebenden.

„Auch für mich ist Auschwitz in meinem Leben immer präsent. Ich denke nicht jeden Tag daran, aber es ist einfach da. (…) Jeden Tag gibt es etwas, was meinen Mann an das Lager erinnert, jeden Tag. Daher gehört es eben auch zu meinem Leben.“

Ehefrauen der ehemaligen Sonderkommando-Häftlinge wird in dem Band ein eigenes Kapitel gewidmet, denn gerade sie können angemessen über die innerfamiliären Probleme durch und mit Auschwitz berichten.

„Als andere Jugendliche in seinem Alter tanzen gingen, da war er im Lager. Und ich glaube, das zu wissen, war für unsere Kinder nicht leicht. Wir wollten nicht, dass sie traurig sind, aber ich glaube, auch sie tragen etwas von diesem Schmerz in sich.“

Die Monografie „Zeugen aus der Todeszone“ ist das Ergebnis einer 13-jährigen Forschungsarbeit und basiert auf der Auswertung aller wesentlichen Quellen zum Thema.

Fotos von 25 ehemaligen Sonderkommando-Häftlingen und 4 SS-Angehörigen, 11 dokumentarische Originalaufnahmen sowie ein Lagerplan auf dem neuesten Forschungsstand bereichern den Band, geben den Zeugen ein Gesicht und vermitteln eine Vorstellung von den beschriebenen Tatorten.

    

(dt. Erst-Ausgabe 2002)                         (tschechische Edition 2007)

Zitate von 35 ehemaligen Häftlingen und 4 SS-Angehörigen, darunter 10 eigenständig geführte Interviews mit Augenzeugen aus dem Sonderkommando, machen das umfangreiche Werk zu einer unverzichtbaren Quelle für die Beschäftigung mit dem Thema.

Die dtv-Taschenbuchausgabe enthält zudem im Anhang eine ausführliche Liste mit 415 Personenangaben und Informationen zu den Lebensdaten ehemaliger Sonderkommando-Häftlinge sowie ein ausführliches Verzeichnis von 40 bei den Krematoriums-, Vergasungs- und Verbrennungsanlagen eingesetzten SS-Angehörigen. Bisher unzugängliche Informationen können damit erstmals der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. Die Opfer werden damit aus ihrer Anonymität gerissen und namhaft gemacht. Ihrem Andenken ist das Standardwerk gewidmet.

Friedler, Eric/ Siebert, Barbara/ Kilian, Andreas: Zeugen aus der Todeszone. Das jüdische Sonderkommando in Auschwitz. Überarbeitete Ausgabe, München 2005.


Hinweis:

Dieser Text von Andreas Kilian wurde erstmals im Presseheft zum Film „Die Grauzone“ veröffentlicht. Sonderkommando-studien.de dankt dem bfilm-Verleih, Berlin, für die freundliche Kooperation.


(Letzte Änderung: 09.12.2004)

Erinnerungsbericht: „Sonderbehandlung“

Pressetext

Filip Müllers Buch aus dem Jahre 1979 ist das frühe und einzigartige Zeugnis eines tschechoslowakischen Auschwitz-Überlebenden, der das Innenleben der Vernichtungsanlagen mit eigenen Augen gesehen hat und als Häftling des „Sonderkommandos“ zur Arbeit im Rahmen der „Sonderbehandlung“ in der Mordfabrik gezwungen worden war. „Sonderbehandlung“ war die deutsche Tarnbezeichnung für die Massenvernichtung von Juden in den Gaskammern und Verbrennungsanlagen. Als einer von nur wenigen Augenzeugen hat Müller nicht nur alle Liquidierungen dieses Todeskommandos überlebt, sondern auch eines der bedeutendsten Zeugnisse über den Massenmord hinterlassen. Es ist das erste umfassende Zeugnis eines „Geheimnisträgers“ aus dem Sonderkommando und ein erschütterndes Zeitdokument.  Im Vergleich zu seinem Bericht in Claude Lanzmanns Dokumentarfilm „Shoah“ und seinen Aussagen gegen SS-Angehörige in verschiedenen Gerichts-Prozessen enthält sein Buch die umfangreichste Sammlung seiner authentischen Erinnerungen an die Welt der „Sonderbehandlung“. Nach der Ausstrahlung seiner Aussage in Claude Lanzmanns Film im deutschen Fernsehen (1986) hat Filip Müller nie wieder öffentlich über das Thema gesprochen.

Filip Müller wurde 1922 in Sered an der Waag geboren und am 13. April 1942 mit dem ersten Transport mit jüdischen Männern aus der Slowakei nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Einige Wochen nach seiner Ankunft in Auschwitz wurde er strafweise dem Arbeitskommando Krematorium im Stammlager zugeteilt und damit zum Geheimnisträger, der selbst ermordet werden sollte.

Müller beschreibt detailliert wovon niemand berichten durfte: Das alltägliche Grauen in der Todesfabrik und einzelne Mordaktionen, das Verhalten der vor ihrer Ermordung stehenden Opfer, Widerstandstätigkeiten der Häftlinge, die Liquidierungsaktionen im Sonderkommando und vor allem den Aufstand des Sonderkommandos am 7. Oktober 1944.

Nach der Befreiung im Konzentrationslager Gunskirchen am 4. Mai 1945 in Österreich kehrte Filip Müller in die Slowakei zurück, von wo er nach kurzer Zeit zur weiteren medizinischen Behandlung nach Prag zog. Im Jahre 1969 emigrierte Filip Müller schließlich in die Bundesrepublik Deutschland, wo er Ende 2013 im Alter von fast 92 Jahren verstarb.

Filip Müllers Buch ist ein einzigartiges Dokument: Es ist das Zeugnis des einzigen Mannes, der das jüdische Volk sterben sah und überlebte, um zu berichten, was er gesehen hat.“

Professor Yehuda Bauer, Hebrew University, Jerusalem


Hinweis:

vorliegende Zusammenfassung wurde als Klappentext in der von Filip Müllers Sohn autorisierten slowakischen Edition publiziert:

Filip Müller, Sonderbehandlung alebo zvláštne zaobchádzanie – Tri roky v osvienčimských krematóriách a plynových komorách, Bratislava: Marenčin PT 2019.

Hintergrundinformationen

Die außergewöhnliche Überlebensgeschichte Filip Müllers und die Entstehung seines Werks „Sonderbehandlung“

Filip Müller wurde am 3. Januar 1922 im slowakischen Sered an der Waag geboren und Mitte April 1942 mit dem fünften RSHA- Transport und dem ersten Transport mit jüdischen Männern aus der Slowakei, in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Von seinem 1000 Menschen zählenden Transport überlebten schätzungsweise nur 10 Menschen das Kriegsende. Einige Wochen nach seiner Ankunft in Auschwitz wurde er strafweise dem berüchtigten Krematoriumskommando im Stammlager zugeteilt. Einen Monat später entkam er diesem Todeskommando durch Bestechung, überstand die schwere Zwangsarbeit beim Aufbau des IG-Farben-Werks und die kraftraubenden täglichen Transporte von Auschwitz-Birkenau nach Monowitz. Müller gehörte zu den ersten Häftlingen des Ende Oktober 1942 eröffneten Nebenlagers Monowitz und überlebte dort im Frühjahr 1943 die Selektion als geschwächter Häftling und seine Überstellung in das Vernichtungslager Birkenau. Dabei konnte er seine durch einen Arbeits-Unfall verursachte lebensgefährliche Verletzung verbergen und von Kameraden durch eine illegale und geheime Operation im Birkenauer Krankenbau gerettet werden. Die von Freunden organisierte Überstellung in das Kartoffelschälerkommando rettete durch Schonung erneut sein Leben. Doch die vermeintliche Sicherheit währte nur kurz: im Juli 1943 wurde Müller vom SS-Lagerführer wiedererkannt und erneut strafweise in das Sonderkommando einverleibt.

Gleisabzweigung (rechts) am Rangierbahnhof Auschwitz zur Alten Selektionsrampe in Birkenau, © A. Kilian 1994

Auch in dieser Situation entging er einmal mehr nur knapp dem Tod, denn als Geheimnisträger erwartete ihn ohne Genehmigung grundsätzlich außerhalb des isolierten Kommandos „auf der Flucht“ der Tod. Als Heizer und Krematoriums-Facharbeiter war er jedoch in den Augen der SS vorerst zu wertvoll, um liquidiert zu werden. Im Sonderkommando überlebte er nicht nur das alltägliche Grauen in der Todesfabrik, sondern auch gefährliche Situationen wie Widerstandshandlungen und Aufruhr von vor ihrer Ermordung stehenden Opfern, Fluchtaktionen von Mithäftlingen, Schmuggelaktionen in andere Lagerteile, konspirative Treffen der Widerstandsgruppe im Sonderkommando sowie fünf Liquidierungen von Teilen des Krematoriums- und Sonderkommandos und vor allem den mutigen aber verzweifelten Aufstand des Sonderkommandos am 7.Oktober 1944. Einzelne Selektionen im Sonderkommando überlebte der unscheinbare Filip Müller aber auch, weil er vom Krematoriumsleiter Hubert Busch, der aus Jauernig  (Javorník) in nördlichsten Teil Mährisch-Schlesiens (Okres Jeseník) stammte, geschützt wurde. Als erfahrener Häftling mit der niedrigen Registrierungsnummer 29236 wurde Müller im Kommando von den Funktionshäftlingen protegiert. Nach der starken Vergrößerung des Sonderkommandos im Mai 1944 wurde ihm sogar ein Kapo-Posten angeboten, den der friedliebende und zurückhaltende Müller jedoch ablehnte. Er unterhielt Kontakte zu einflussreichen Häftlingen in anderen Lagerteilen und war auch durch seine vorübergehende Vertrauensstellung als Kalfaktor im Sonderkommando privilegiert. Dadurch erhielt er von Kapos und seinem Blockältesten eine Bewegungsfreiheit, die anderen vorenthalten blieb und die er für Widerstandstätigkeiten nutzen konnte, die von seinen Kameraden und den bekannten Auschwitz-Flüchtlingen Rudolf Vrba und Alfred Wetzler sowie Erich Kulka und Ota Kraus in ihren Büchern beiläufig erwähnt werden. Mit diesen Möglichkeiten und Beziehungen konnte Filip Müller mehr erfahren und bezeugen als andere.  Unter Lebensgefahr versorgte er sogar drei Flüchtlinge aus Auschwitz-Birkenau mit Hilfsmaterialien und Beweismitteln aus der Todeszone um die Außenwelt über die Mordmaschinerie zu informieren.

Isoliert von Häftlingen anderer Arbeitskommandos musste er insgesamt 20 Monate lang das nahezu tägliche Grauen systematischen Mordens miterleben und zählt zu den wenigen überlebenden Augenzeugen aus den Auschwitzer Krematorien. Seine Überlebensgeschichte ist umso erstaunlicher, als er letztlich als einziger bekannter Fall zwei Einweisungen in das Sonderkommando und alle vier Liquidierungen, die zu seiner Zeit in diesem Todeskommando stattfanden, überlebte. Er bezeugte somit als „Überlebendenältester“ sowohl die Ereignisse im alten Krematorium des Stammlagers im Mai 1942 als auch in den später errichteten Birkenauer Krematorien, was seinen Bericht zu einem unschätzbaren Zeugnis macht.


Hofmauer des Sonderkommando-Isolierblocks, © A. Kilian 1994

Müller gelang es schließlich mit etwa 90 anderen Häftlingen aus dem letzten Sonderkommando während der allgemeinen Lager-Evakuierung am 17. Januar 1945 Birkenau unerlaubt zu verlassen und somit einer restlosen Beseitigung der unvergleichlichen Augenzeugen zu entgehen. Nach einer Übernachtung im Stammlager Auschwitz, wo die SS im Chaos vergeblich nach Häftlingen des Sonderkommandos suchte, wurden die unentdeckten Geheimnisträger am 18. Januar in andere Lager überstellt. Filip Müller überlebte die Todesmärsche bis in das Mauthausener Nebenlager Gusen, wo ihn der ehemalige Krematoriumsleiter Johann Gorges wiedererkannte aber nicht an die Lagergestapo auslieferte, obwohl auch hier die SS nach Sonderkommando-Überlebenden suchte, und von dort Mitte April 1944 bis in das Auffanglager Gunskirchen. Dort erlebte er völlig apathisch und schwer krank am 4. Mai 1945 die Befreiung durch die US-Army. Ein Fünftel der auf dem Lagergelände befreiten kranken Häftlinge überlebte ihre Entkräftung nicht. Filip Müller litt noch sein Leben lang körperlich und psychisch unter den Folgen der Lagerhaft. Unter den etwa 110 Überlebenden der schätzungsweise 2200 jüdischen Sonderkommando-Häftlinge gehört Müller zu den wenigen und insgesamt nur fünf Männern, die bereits im Jahre 1942 im Krematoriumskommando des Stammlager Auschwitz arbeiten mussten.

Filip Müller bleibt in vielerlei Hinsicht unvergessen. Alle Zeugnisse, die Filip Müller hinterlassen hat, machten ihn unsterblich, sein Buch „Sonderbehandlung“ ist jedoch sein umfangreichstes und wichtigstes Vermächtnis. Müller brauchte mehr als 10 Jahre für die Abfassung seiner außergewöhnlichen Erinnerungen und arbeitete insgesamt vier bis fünf Jahre intensiv an der deutschen Fassung. 34 Jahre nach seiner Befreiung wurde seine autobiographische Erinnerungsschrift erstmals veröffentlicht, aber nicht in der Sprache, in der das Buch mühsam geschrieben worden war. Die Erstveröffentlichung erschien in englischer Übersetzung Mitte Mai 1979 unter dem Titel „Auschwitz Inferno. The testimony of a Sonderkommando“ im Londoner Verlag Routledge & Kegan Paul. Die deutsche Edition erschien Anfang Juli 1979 im Münchner Steinhausen Verlag. Die vorliegende slowakische Edition ist die zweite autorisierte Ausgabe des Buchs nach 1980.

Filip Müller verstarb als drittältester der zu diesem Zeitpunkt letzten neun Sonderkommando-Überlebenden im Alter von fast 92 Jahren am 9. November 2013. Er wird der Nachwelt seiner selbstlosen Zeugenschaft und historischen Bedeutung wegen als unbeugsamer Verteidiger der Wahrheit gewürdigt und unvergessen bleiben.

Andreas Kilian

 

Hinweis:

 

Vorliegender Text wurde als Nachwort in der von Filip Müllers Sohn autorisierten slowakischen Edition publiziert:

Filip Müller, Sonderbehandlung alebo zvláštne zaobchádzanie – Tri roky v osvienčimských krematóriách a plynových komorách, Bratislava: Marenčin PT 2019, S. 242-245;

sowie in erweiterter Fassung mit Anmerkungsapparat in der von Müllers Sohn autorisierten tschechischen Edition publiziert:

Filip Müller, Sonderbehandlung neboli zvláštní zacházení – Tři roky v osvětimských krematoriích a plynových komorách, Praha: Rybka Publishers 2018, S. 215-242.

    


(Letzte Änderung: 09.12.2019)

Literaturwissenschaftliche Betrachtung

Beschreiben des alltäglichen Grauens im Sonderkommando Auschwitz:

Filip Müllers „autobiografische Dokumentation“ „Sonderbehandlung. Drei Jahre in den Krematorien und Gaskammern von Auschwitz“

Der erste literarische Versuch einer Gesamtdarstellung der Sonderkommando-Geschichte

    

(dt. Erst-Ausgabe 1979)                   (Bertelsmann-Ausgabe 1980)

 

Von Andreas Kilian


Einordnung

Im Jahre 1979 sorgte eine von zahlreichen Neuerscheinungen an Erinnerungsliteratur für Aufsehen: Filip Müllers bewegender Bericht „Sonderbehandlung“ war die erste in Deutschland veröffentlichte Erinnerungsschrift eines Augenzeugen, der die Massenvernichtung in den Krematorien und Gaskammern in Auschwitz- Birkenau als Häftling des jüdischen Sonderkommandos tagtäglich miterlebt hat. Es handelt sich dabei um den ersten und einzigen Bericht eines überlebenden ehemaligen Sonderkommando- Häftlings, der die Ereignisse über einen Zeitraum von 32 Monaten bezeugt und beschrieben hat. Müllers ergreifender Bericht setzt an, wo andere zwangsläufig enden: auf den Krematoriumshöfen, in den Entkleidungsräumen, in den Gaskammern, an den Erschießungsstätten, in den Verbrennungsräumen und –gruben, also in den „Todeszonen“, die unter den Häftlingen nur für die euphemistisch als „Sonderkommando“ bezeichneten Geheimnisträger voll einsehbar waren.

Filip Müller wurde 1922 im slowakischen Sered an der Waag geboren und Mitte April 1942 mit dem fünften RSHA- Transport und dem ersten Transport mit jüdischen Männern aus der Slowakei, in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Von seinem 1000 Menschen zählenden Transport überlebten schätzungsweise nur 10 Menschen das Kriegsende. Isoliert von Häftlingen anderer Arbeitskommandos musste er insgesamt 20 Monate lang das nahezu tägliche Grauen systematischen Mordens miterleben und zählt zu den wenigen überlebenden Augenzeugen aus den Auschwitzer Krematorien. Seine Überlebensgeschichte ist umso erstaunlicher, als er letztlich zwei Einweisungen in das Sonderkommando und alle Selektionen, die zu seiner Zeit in diesem Todeskommando stattfanden, überlebte. Müller entkam dem Krematoriumskommando im Stammlager Auschwitz nach einem Monat, wurde ein Jahr später in Birkenau wiedererkannt und dort als Heizer in das Sonderkommando eingewiesen. Unter den etwa insgesamt 110 Überlebenden der schätzungsweise 2200 jüdischen Sonderkommando-Häftlinge ist Müller einer von vermutlich nur fünf ehemaligen Häftlingen, die bereits im Juni 1942 im Krematoriumskommando arbeiten mussten. Er zählte durch seine Tätigkeit im alten Krematorium zu den Dienstältesten und hatte unter seinen Mitgefangenen auch wegen seiner niedrigen Häftlingsnummer ein dementsprechendes Ansehen.

Entstehungsgeschichte

Nachdem Müllers erster Bericht, den er schwerkrank in einem Prager Sanatorium zu Protokoll gab, 1946 in der frühen Auschwitz-Darstellung von Ota Kraus und Erich Kulka (alias Schön) mit dem Titel „Todesfabrik“ in tschechischer Sprache veröffentlicht wurde, machte er erst Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre Aussagen vor verschiedenen Vernehmungsbehörden in Vorbereitung der Frankfurter Auschwitz-Prozesse.

(Orig.-Ausg.1946)

(dt. Erst-Ausg. 1957 und 1958)

In Folge seiner Lagerhaft blieb Filip Müller bis 1953 arbeitsunfähig und wurde die meiste Zeit in Sanatorien behandelt. Erst nach diesem Zeitraum war er gesundheitlich überhaupt dazu in der Lage, öffentlich über seine grauen- und schmerzhaften Erinnerungen zu sprechen. Wesentliche Beweggründe seiner Berichterstattung waren das Drängen des ehemaligen Auschwitz-Überlebenden und Freundes Erich Kulka sowie die Tatsache, dass viele Gerüchte über die Massenvernichtung in Auschwitz-Birkenau im Umlauf waren. In einem Gespräch sagte Müller dazu folgendes: „Nach dem zweiten Weltkrieg wollte jeder von den Überlebenden ein Alleswisser sein und das geheimnisvolle Sonderkommando hat sie so gereizt, dass sie vielmals fantasiert haben. (…) Meine Aufgabe war es, zu zeigen, was sich zwischen den Wänden abgespielt hat und wie es möglich war, innerhalb von 24 Stunden fast dreißigtausend Menschen zu erledigen. Dieses Geheimnis zu zeigen, das war meine Aufgabe.“

Gleichzeitig begann er etwa um 1963 zu Dokumentationszwecken seine Erinnerungen fragmentarisch zu notieren. Literarische Ambitionen hatte Filip Müller zu diesem Zeitpunkt noch nicht, obwohl er von verschiedenen Seiten zur literarischen Berichterstattung ermutigt wurde und die Notwendigkeit der Überlieferung seiner außergewöhnlichen Lebensgeschichte außer Frage stand. Die Bedeutung, die seiner Zeugeneinvernahme vor dem Frankfurter Gericht 1964 beigemessen wurde, veranlasste ihn schließlich dazu, seine Notizen systematisch und chronologisch als Erlebnisbericht niederzuschreiben. Erschwert wurde ihm dies durch die vom Gericht aufgeworfene vorwurfsvolle Frage, wie er denn nur als „Geheimnisträger“ habe überleben können. Müller wollte sein Überleben vor niemandem rechtfertigen müssen, er wollte das Grauen von Auschwitz aus dem Inneren der Todesfabrik beschreiben und das verbrecherische Geschehen öffentlich machen. Das negative Image des der Kollaboration mit der SS bezichtigten Sonderkommandos erklärt letztlich auch, warum Müller – wie die meisten anderen überlebenden Sonderkommando- Häftlinge auch – jahrzehntelang geschwiegen hat und warum ihm die Darstellung der schrecklichen Ereignisse unter anderem so schwer gefallen ist. Aus Furcht vor moralischen Verurteilungen und aus gesundheitlichen Gründen lebte der Mann, der die Hölle von Auschwitz überlebte, von der Öffentlichkeit zurückgezogen und mit seinen traumatischen Erinnerungen alleingelassen. Andererseits sollte der tabubrechende Schreibprozess ein Verarbeitungsprozess sein, die unerträgliche Last des geheimen Wissens abzuwälzen. Was Müller aus dem Zentrum der Mordfabrik als „Geheimnisträger“ bezeugen und beschreiben konnte, das war nur einigen wenigen vorbehalten, die wie durch ein Wunder das Grauen überlebt hatten. Als der unerfahrene Autor Filip Müller Mitte der sechziger Jahre jedoch noch kein „stilistisches Leitmotiv“ finden konnte, ruhte sein Vorhaben die folgenden Jahre. Die eigenen Erlebnisse erschienen ihm selbst so unglaublich, dass er keine Lösung für deren literarische Darstellung fand und sogar befürchtete, von Zweiflern als wahnsinnig gewordener Fantast betrachtet zu werden.

Nach seiner Emigration in die BRD im Jahre 1969 befasste er sich erneut mit der schriftlichen Niederlegung seiner Erinnerungen. Nachdem er ein seiner Ansicht nach geeignetes Leitmotiv gefunden hatte, wurden das erste und zweite Kapitel seines Berichts um 1971/72 in Tschechisch niedergeschrieben und anschließend ins Deutsche übersetzt. Das dritte und vierte Kapitel wurde gleich in deutscher Sprache verfasst und in den folgenden Jahren von dem Richter Dr. Helmut Freitag sprachlich und literarisch bearbeitet.

Müller brauchte 15 Jahre für die Abfassung seiner außergewöhnlichen Erinnerungen und arbeitete insgesamt sieben Jahre intensiv an der deutschen Fassung. 34 Jahre nach seiner Befreiung wurde seine autobiographische Erinnerungsschrift erstmals in Deutschland veröffentlicht, und öffentlichkeitswirksam als „einzigartiges Dokument“ und als „Zeugnis des einzigen Mannes, der das jüdische Volk sterben sah und überlebte, um zu berichten, was er gesehen hat“ vermarktet.

Inhalt

Berichtet wird über Filip Müllers strafweise Einweisung in das Krematoriumskommando Ende Mai 1942 und seinem damit verbundenen Zugangsschock. Am Beispiel von drei exemplarischen Vernichtungs-Transporten, die innerhalb der ersten drei Wochen eintreffen, wird die Entwicklung des Vernichtungsprozesses im Krematorium des Stammlagers zu einem effektiven und reibungslosen Ablauf des Massenmords verständlich gemacht.

Ein Jahr darauf wird das Auschwitzer Krematoriumskommando nach Birkenau überstellt, um dort in den neuen „Todesfabriken“ eingesetzt zu werden und um mit dem Birkenauer Sonderkommando vereinigt zu werden. Wohl verbessern sich mit dieser Überstellung die Unterkunfts- und Lebensbedingungen, doch der Arbeitsprozess wird durch die immer effizienteren Vernichtungsmethoden erschwert. Zu der Verbesserung der Lebensbedingungen gehört auch die Möglichkeit, konspirativ Nahrungsmittel und Wertsachen aus der Habe der Opfer zu organisieren und trotz vorhandener Isolierung illegal mit anderen Häftlingen Tauschhandel zu treiben . Der Aufbau einer Widerstandsgruppe im Sonderkommando wird von dieser Situation begünstigt, die allgemeinen Aufstands- und Fluchtpläne werden jedoch wegen des reibungslosen und demoralisierenden Ablaufs der Mordaktionen und wegen der abschreckenden und blutigen Niederschlagung eines aussichtslosen Aufruhrs in der Entkleidungshalle von Krematorium II weiter überdacht. Konkrete Gestalt nehmen die Aufstandspläne jedoch erst an, nachdem die Sonderkommando-Häftlinge von den Vernichtungsaktionen des Thersienstädter Familienlagers und der Transporte aus Ungarn an die Grenzen ihrer körperlichen und psychischen Leistungsfähigkeit gebracht werden. Eine verzweifelte Revolte einzelner zur Selektion bestimmter Sonderkommando-Häftlinge bricht schließlich aber erst aus, nachdem das Sonderkommando zwei Liquidierungen in den eigenen Reihen, zwei spektakuläre Fluchtversuche von Sonderkommando-Häftlingen sowie die Liquidierung des „Zigeunerlagers“ und die Vernichtung der Transporte aus Lodz erlebt. Die blutige Niederschlagung der Revolte sowie eine letzte Selektion dezimieren das ehemals bis zu 900 Mann starke Arbeitskommando auf 100 Häftlinge, die im Chaos der Lagerevakuierung in andere Lager überstellt werden. In einem Nebenlager von Mauthausen, in Gunskirchen, erlebt Müller schließlich seine Befreiung.

Aufbau und Sprache

Der Bericht gliedert sich in vier Teile, zwei „einführende“ gleich lange Kapitel, ein kurzes Kapitel und zum Schluss noch ein etwa doppelt so langes Kapitel. Die ersten beiden Kapitel mit den Titeln „Das erste Mal in der Gaskammer“ sowie „die neuen Todesfabriken“ haben einen eher „einführenden“ Charakter, weil sie an die letzten beiden Kapitel „die Tragödie des Familienlagers“ und „das Inferno“ geradezu heranführen und alle grundlegenden Informationen, wie etwa den Vernichtungsablauf oder die technische Funktionsweise des Krematoriums vorwegnehmen.

Der Bericht wird aus der Perspektive des Ich-Erzählers, welcher mit dem Protagonisten identisch ist, erzählt. Der Überlebendenbericht beginnt mit einem Häftlingszählappell in Auschwitz und endet mit der Befreiung in Gunskirchen. Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Erinnerungsschriften blendet Müller die Vorgeschichte von Auschwitz – abgesehen von zwei kurzen Ausnahmen, die mit der Begegnung mit nahestehenden Menschen aus der Vergangenheit zusammenhängen – völlig aus. Dies begründet der Verfasser mit der Aussage, dass seine Erinnerung an die Vergangenheit vor Auschwitz unter dem Eindruck des Erlebten verblasste, worin er eine individuelle Überlebensstrategie erkennt.

Im Vergleich zu anderen Berichten setzt Müllers Darstellung auch nicht mit der Deportation oder etwa der Ankunft und Aufnahmeprozedur in Auschwitz ein, sondern beginnt mit einem Zählappell mitten im Lager sowie mit einer anschließenden Strafmaßnahme, die – sechs Wochen nach seiner Deportation nach Auschwitz – die Einweisung in das Krematoriumskommando erklärt. Der geschickte Aufbau verfolgt eine Dramaturgie, die also mit der Einweisung ins Krematoriumskommando ihren Anfang nimmt und in steigernder Spannung ihren Höhepunkt im Aufstand des Sonderkommandos findet. In der stringent linearen Erzählstruktur wird der Leser völlig gefangen genommen. Der restliche Bericht nach dem Aufstand wird von der Neugier bestimmt, wie es dem Ich-Erzähler wohl gelungen ist, bis Kriegsende zu überleben. Müllers zum Ausdruck gebrachte Erschöpfung am Ende des Berichts, die Stimmung seiner unspektakulären und freudlosen Befreiung überträgt sich schließlich auf die Verfassung des Lesers, denn auch dieser ist nach den unfassbaren Beschreibungen und der fast unerträglichen Aneinanderreihung von atemberaubenden Gewalttaten und erschütterndem Leid am Ende der Lektüre erschöpft und benommen.

Der Bericht endet nicht mit dem Verlassen der letzten Haftstätte, sondern mit der Ankunft der Befreier. Während die ersten drei Kapitel mit der Trauer um ermordete Kameraden, Familienangehörige und Bekannte schließen, endet das letzte Kapitel mit der Befreiung, die der Ich-Erzähler vor Erschöpfung verschläft. Das Ereignis der Befreiung wird somit nicht als besonderes Geschehen hervorgehoben, sondern eher beiläufig und in völliger Teilnahmslosigkeit erwähnt. Auch dies unterscheidet Müllers Bericht vor allem von zahlreichen frühen Überlebendenmemoiren. „Auschwitz“ wird zum Fixpunkt seines Lebens. Die schrecklichen Erlebnisse in den Krematorien von Auschwitz bestimmen sein Leben auf unfassbare Weise, sie löschen das Davor und das Danach einfach aus.

Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten, Erfahrungen in Literatur zu übersetzen: sie können beschrieben oder wie bei Charlotte Delbo zum Beispiel durch Metaphern, Parabeln oder Allegorien bezeichnet werden. Da die „Nicht-Darstellbarkeit“ Thema aller autobiographischen Texte über die „Shoah“ ist, hat sich das Bezeichnen durchgesetzt. Müller hat sich dagegen bewusst für das Beschreiben entschieden.

Die chronologische Darstellung der Ereignisse in entsprechend aufeinanderfolgenden Kapiteln ist ein traditionell romaneskes Element, wie auch die Tatsache, dass nicht selbst erlebte Elemente die „Leerstellen“ der erlebten Wirklichkeit ausfüllen. In „Sonderbehandlung“ wird dies dem Leser bewusst verschwiegen. Der Untertitel des Erinnerungsberichts „Drei Jahre in den Krematorien und Gaskammern von Auschwitz“ suggeriert dem Leser, dass der Autor in diesem Zeitraum im Sonderkommando gewesen sei und alles Beschriebene selbst erlebt hätte. Tatsächlich geben erst die Vernehmungsprotokolle verschiedener Ermittlungs- und Strafsachen Aufschluss über Müllers eidesstattlich versicherte etwa 20-monatige Zwangsarbeitsdauer im Sonderkommando. Müllers „Leerstelle“ in den Krematorien wird jedoch bei genauer Analyse seines Berichts neben der Anreicherung des Stoffs durch Mitgeteiltem aber nicht selbst Erlebten auch dadurch elegant ausgeblendet, dass zwischen dem Ende des ersten Kapitels und dem Beginn des zweiten Kapitels ein enormer Zeitsprung einsetzt. Die ersten sechs Seiten des zweiten Kapitels behandeln einen Zeitraum von etwa einem Jahr, auf denen skizzenhaft die Entwicklung von der provisorischen Vernichtungsstätte zur Todesfabrik dargestellt wird. Im Unterschied zum vorangegangenen Kapitel wird Müllers Darstellung plötzlich auffällig verallgemeinernd. Die Anreicherung durch einige nicht selbst erlebte aber wohlgemerkt auch nicht fiktionale Elemente ändert jedoch nichts an der Einordnung des Werks „Sonderbehandlung“ als autobiographisches Zeugnis, welches doch reale Begebenheiten erzählt.

 In seiner klaren und einfachen, fast nüchternen Sprache entsteht ein schonungsloses Protokoll der hinterhältigen Massenvernichtung. Das Unvorstellbare nimmt immer mehr Gestalt an und vermittelt dem Leser eine Innenansicht aus dem „Herzen der Hölle“. Die förmliche Distanz und flüssige Diktion machen das Beschriebene umso entsetzlicher und das Unfassliche besonders eindringlich. Die Todesfabrik rationalisierte das Töten und transformierte es in Arbeit, die Sachlichkeit und Sorgfalt erforderte. Der reibungslose Ablauf

der Morde musste gewährleistet werden, die Massenvernichtung war Fließbandarbeit. Müllers Darstellungsablauf orientiert sich demnach an den zeitlich aufeinander abgestimmten Stationen der Mordaktionen, welche arbeitsteilig organisiert waren. Detailliert beschreibt er alle Stationen chronologisch.

Die „Sonderbehandlung“ liest sich als arbeitsteiliger Vorgang. Sein Bericht steht in diesem Sinne in der Tradition der geheimen Schriften der sogenannten Chronisten des Sonderkommandos und folgt ihnen zum Teil auch inhaltlich.

Wie schon Salmen Gradowski thematisiert er die Liquidierung des „Theresienstädter Familienlagers“ und die Selektionen im Sonderkommando, oder wie Salmen Lewenthal die Widerstandsaktivitäten und den Aufstand des Sonderkommandos sowie ausschnittweise die sozialen Verhältnisse unter den Sonderkommando-Häftlingen. Damit wird die historische und soziale Bedeutung der Ereignisse als tiefer Einschnitt in der Sonderkommando- Geschichte deutlich.

Doch im Unterschied zu den Autoren der Handschriften berichtet er überwiegend fast leidenschaftslos, ohne Hassgefühle, Anklage und Kommentierung. Möglicherweise lag dies vor allem daran, dass Müller ebenso wenig wie andere Lagerüberlebende, die nach ihrer Befreiung ein neues Leben aufbauen mussten, mit dem Rachegedanken weiterleben konnten und wollten. Anders wäre es wohl kaum erklärbar, dass Müller nach dem Prager Frühling nach Deutschland zog um sich dort eine neue Existenz aufzubauen. Sachlich, ohne Wertungen beschreibt er das tägliche Geschehen in den Gaskammern und die gesamte Vernichtungsprozedur, mit der innerhalb von 24 Stunden im Sommer 1944 bis zu 12.000 Menschen ermordet und eingeäschert werden konnten. Die sachlich geschilderten Ereignisse sprechen für sich selbst, sie müssen nicht erst bewertet werden und vermutlich vermochte dies Müller in seiner ohnmächtigen Betroffenheit und schicksalshaften Verstricktheit auch überhaupt nicht. Zudem wurde die Form maßgeblich durch den Richter und Müllers Vertrauten Dr. Helmut Freitag bestimmt, der Filip Müllers erste Darstellungsversuche für die deutsche Zielgruppe emotional entschärfte.

 Ebenso sachlich wie das gesamte Werk fällt der Titel des Berichts aus: „Sonderbehandlung“ war die euphemistische Umschreibung für den Massenmord. Die Umschreibung steht für einen gesamten Vernichtungsprozess und für die Unmöglichkeit, diesen mit einer Überschrift zu erfassen und angemessen anzukündigen. Die Bezeichnung ließ nicht erahnen, welches Grauen sich dahinter verbarg, ebenso wenig wie dies im Fall des Begriffs „Sonderkommando“ denkbar war. Seinen Bericht schließt Müller, indem er den Titelbegriff am Ende wieder aufgreift. Mit seinem „außerplanmäßigen“ Überleben schließt sich der Mikrokosmos der Vernichtung.

 Mit den Worten der Täter findet ferner die Unmenschlichkeit und hinterhältige Täuschungspolitik der Vernichter ihren absoluten Niederschlag in der Sprache des Berichts. Der erbarmungslose kalte Befehlston oder die gnadenlosen wüsten Beschimpfungen der Kommandoführer den Häftlingen gegenüber werden in knappen stakkatoartigen Sätzen in der direkten Rede zitiert. Dieser „Lagerjargon“ wird in die narrative Struktur sprachlich integriert, er bringt die hemmungslose Brutalität des Lagers pointiert zum Ausdruck. Die Form der indirekten Rede soll zudem für die Authentizität des Geschehens stehen. Die Zitate überliefern aber auch den Spott der Vernichter über ihre Opfer, z.B. an der Stelle im ersten Kapitel, an der ein SS-Angehöriger die Todesschreie mit den Worten kommentiert, das Wasser im Duschraum müsse wohl besonders heiß sein. Dieser Zynismus entblößt die Unbekümmertheit der Vernichter auf schonungslose Art und Weise. Müllers Entscheidung, seinem Bericht den Auszug aus Himmlers Rede in Posen vom Oktober 1943 voranzustellen, verweist auf den dokumentarischen Charakter seiner Erinnerungsschrift.

Analyse ausgewählter Stellen

Im Folgenden werden zwei ausgewählte Stellen kurz hervorgehoben, vergleichbaren Erinnerungsschriften gegenübergestellt und deren Bedeutung für den Gesamttext herausgearbeitet.

Das Ende des ersten Kapitels handelt von der Begegnung mit dem einige Wochen nach Filip Müller im Lager eingetroffenen Vater, der sich einredet, sein Sohn hätte als Geiger einen Platz im Lagerorchester gefunden, und von dessen Tod. Die Einäscherung des Vaters beschließt das erste Kapitel.

Der damit Verbundene „unsagbare Schmerz“ über den Verlust des Vaters steht damit im Gegensatz zu Wiesels oder Fristers Thematisierung vom Tod des Vaters. Während diese auf den Tod des eigenen Vaters warteten um einerseits eine Last loszuwerden oder aber ohne Gewissensbisse an das Brot des Sterbenden zu gelangen, verschaffte Müller seinem alten Vater noch ein gutes Arbeitskommando um ihn durchzubringen. Die beschriebene Betroffenheit stellt somit einen Bruch in Müllers Bericht dar, da seine im Krematorium vermeintlich erstorbenen Gefühle wieder zum Leben erweckt wurden. Müller bricht aus seiner Sachlichkeit aus, und spricht von Trauer, „die er mit Worten nicht auszudrücken vermag“. Wiesels und Fristers Reaktion ist dagegen von Erleichterung bestimmt. Während bei Wiesel und Frister die Lagerkrankheit der Väter die Überlebenskämpfe der Söhne behindert, regt sie Müllers Überlebenswillen erst an. Erstmals geht er im Anschluss an den Abschied von seinem Vater dem Gedanken nach, Zeugnis abzulegen. Die Familienlager- Liquidierungsepisode greift diesen Aspekt wieder auf, doch diesmal entscheidet nicht der eigene Antrieb über den Lebenswillen, sondern die fremdbestimmte Aufforderung dazu.

Im dritten Kapitel berichtet Müller, wie er unter dem überwältigenden Eindruck der Liquidierung seiner „Landsleute“ aus dem Theresienstädter Familienlager, unter welchen sich zahlreiche Bekannte befinden, freiwillig in die Gaskammer geht und seiner ohnmächtigen Verzweiflung ein Ende zu bereiten versucht. Einigen jungen Frauen gelingt es, ihn zum Weiterleben zu ermutigen. Sie erlegen ihm die moralische Verpflichtung auf, zu überleben und zu berichten (vgl. auch den Spruch Salomo am Anfang des Buches). Diese zentrale und berührende Stelle ist eine Rechtfertigung für das Überleben und den unbeugsamen Selbsterhaltungstrieb und wurde schließlich wegen ihrer dramaturgischen Dichte von Claude Lanzmann in seinem Film „Shoah“ – der von Müllers Darstellung in vielfältiger Weise entscheidend inspiriert wurde – wieder aufgegriffen.

(frz. Erst-Ausg. 1985)

(US-Erst-Ausg. 1985)

(dt. Ausg. 1992)

(dt. TB-Ausg. 1993)

Zudem wird in diesen klaren und prägnanten Bildern die individuelle Tragödie der Vernichtung und die menschliche Anteilnahme des Sonderkommando-Häftlings hervorgehoben, eine Eigenschaft, die den von Nyiszli bezeichneten „Schwarzen Raben des Krematoriums“ von Außenstehenden prinzipiell abgesprochen wurde. Der emotionale Zugang der dem Leser dadurch eröffnet wird, ermöglicht ihm somit ein tieferes Verständnis der Ereignisse, die gemeinhin nur schwer vorstellbar sind. Müller beschränkt sich nicht auf sein Schicksal, vielmehr kommen seine Leiden erst durch die Darstellung der grauenvollen Umgebung und den sich darin abspielenden erschreckenden Szenen, durch das Schicksal der Mithäftlinge und Vergasungsopfer zur Geltung.

Im Vergleich zu anderen Überlebendenberichten werden in Müllers Bericht spezifische Grenzsituationen menschlichen Verhaltens beschrieben, die sich in ihrer Qualität von anderen Berichten abheben. Fristers Vergewaltigung, Elias Tötung ihres eigenen Säuglings sowie Wiesels Bezeugung der Grubenverbrennung sind traumatische und dem Leser unvergessliche Ereignisse, Müllers Erlebnisse sind dagegen ein durchgehendes, alltägliches Trauma eines direkten Zeugen, die das menschliche Aufnahmevermögen sprengen. Bis auf wenige Ausnahmen abgesehen beschränkt sich Müller auf seinen konkreten Erfahrungsausschnitt aus Auschwitz-Birkenau sehr konsequent und intendiert kein Gesamturteil über die nationalsozialistische Herrschaft, auch keine nachträgliche Analyse von deren Ursachen und Funktionsweise, wie dies zum Beispiel Samuel Pisar in „Das Blut der Hoffnung“ mit seinen Reflektionen aus späterer Sicht machte. Das grundsätzliche Problem von Überlebendenmemoiren, mehr bezeugen zu wollen, als tatsächlich zu können, gefährdet die Glaubwürdigkeit von Müllers Erinnerungsbericht jedoch keineswegs.


Personalisierung und Stellenwert der Zeugenschaft

Ruth Klügers These , dass „das Entsetzen über den Massenmord“ in autobiographischen Berichten durch den am Leben gebliebenen Erzähler geschwächt würde, trifft auf Müllers Bericht nicht zu. Müllers Augenzeugenbericht, das Zeugnis eines „Geheimnisträgers“, der das Bild der Vernichtung stets vor Augen hat, erzählt von denen, die nicht überlebt haben. Er hat diesen namenlosen und den exemplarischen Opfern sein Werk gewidmet und vielen unter ihnen, wie z.B. den gescheiterten Flüchtlingen Daniel Obstbaum und Alex Errera sowie dem ermordeten Oberkapo Kaminsky oder der religiösen Instanz des Sonderkommandos, Lejb Langfuß, sogar ein literarisches Denkmal gesetzt.

Umso tragischer wirkt die Selektion und Ermordung seiner Kameraden im Sonderkommando, wenn man die Verlassenheit des Ich-Erzählers bedenkt, der in unendlicher Trauer um das „Bruderschicksal“ mit wenigen vorläufig Verschonten – in Nyiszlis Worten: „lebenden Toten“ – zurückgeblieben ist. Gegen Klügers These spricht auch, dass der Ich-Erzähler als „Identifikationsgestalt“ an mehreren Stellen darauf hinweist, dass gerade sein Überleben die unerklärliche und gewissermaßen „wundersame“ Ausnahme sei. Der letzte Satz seines Berichts bringt daher seine Fassungslosigkeit darüber zum Ausdruck, dass er der „Sonderbehandlung“, seinem von den „Endlösern“ vorherbestimmten Schicksal, entronnen war.

Dem Problem, dass das Ausmaß der Leiden einer namenlosen Masse zur Abstraktion wird und nicht eindeutig erfasst werden kann, begegnet Müller damit, dass er ihre Stimmung wiedergibt, ihnen Gesichter und Stimmen verleiht. Dadurch gelingt es ihm, dass der Leser eine Art von Mitgefühl entwickeln kann und von den Geschehnissen vor dem Eingang der Gaskammer berührt wird, weil er sich mit dem einen oder anderen Opfer-Schicksal zu identifizieren versucht. Müller gelingt es, mit Hilfe von Einzelbeispielen, individuellen Schicksalsbeschreibungen, den anonymen massenhaften Mord zu durchbrechen. Der Episodenhafte Charakter der Beschreibungen  „endlos langer Menschenschlangen“ oder des technisierten Massenbetriebs lassen sich zwangsläufig nicht vermeiden, aber Kollektivierung und Technisierung verschwinden vor dem Hintergrund der einzelnen Verbrechen und Leiden.

Die Vergegenwärtigung des Furchtbaren wird durch die Darstellung des Einzelschicksals erst vorangetrieben. Das Exemplarische inmitten des Grauens bleibt dem Leser in Erinnerung, nicht die Zahlen, Maße und zeitlichen Abläufe. Seine Schicksalsgenossen entreißt Müller der Anonymität, indem er ihre Namen überliefert, eine Personenbeschreibung abgibt, ihr Alter schätzt und dem Leser alle ihm in Erinnerung verbliebenen biographischen Angaben mitteilt.

Bedeutsam an Müllers Bericht ist geradezu der Stellenwert seiner Zeugenschaft. Primo Levi zufolge wurde die Geschichte der Konzentrationslager fast ausschließlich von denen geschrieben, die, wie er schreibt, nicht „den tiefsten Punkt des Abgrunds“ erfahren hätten. Wer ihn berührt hätte, so Levi in dem bezeichnenden Titel „die Untergegangenen und die Geretteten“, der sei nicht mehr wiedergekommen. Müller dagegen hat den kaltblütigen Massenmord in all seinen Facetten mit eigenen Augen erlebt und er hat auch das „gewöhnliche“ Häftlingsschicksal durchgemacht – Hunger, Krankheit und Misshandlung – da er nicht unmittelbar nach seiner Ankunft in das Sonderkommando einverleibt wurde. Im Vergleich zu den Vergasungsopfern als von Levi bezeichneten „eigentlichen“ Zeugen hat er den Mordprozess detailliert betrachten und beschreiben können. Die Opfer konnten dagegen weder das eine noch naturgemäß das andere: Ihnen wurde von den Tätern kein tiefer Einblick in die Vernichtungsmaschinerie gewährt, sie wurden getäuscht und in die Mordstätten getrieben, ihr Todeserlebnis dagegen macht die „eigentliche“ Zeugenschaft keineswegs aus. Im Vergleich zu den aufgenommenen und verarbeiteten Bildern der Sonderkommando-Häftlinge war ihre „Zeugenschaft“ dagegen ein begrenzter Ausschnitt eines Prozesses, der in den seltensten Fällen bewusst wahrgenommen oder dessen Eindrücke kaum in ihrem ohnmächtigen Erregungszustand verarbeitet werden konnten. Die Vorstellung von einer „Zeugenschaft“ der Toten scheint daher letztlich in ihrer Logik wenig plausibel, sondern eher grotesk zu sein. Die wenigsten Opfer wussten, was mit ihnen und vor allem wie ihnen geschah.

Bedeutung

Abschließend sei zusammengefasst, was Müllers Bericht aus der Masse der Erinnerungsliteratur hervorhebt:

Erstmals wurden in „Sonderbehandlung“ die technischen und psychologischen Mechanismen der Mordfabrik exakt geschildert: wie die Menschen in die Gaskammern getrieben wurden, welche schrecklichen Szenen sich auf dem Krematoriumsgelände abspielten, welche zynischen Beruhigungsrituale und Täuschungsmanöver von der SS inszeniert wurden, um ihre meist ahnungslosen Opfer ohne Zwischenfälle fließbandmäßig ermorden zu können.

Die mit der Zeit immer weiter verfeinerten Methoden der SS, ihre Aufgaben möglichst effektiv und spurlos zu erfüllen sowie die zunehmende Perfektionierung der Vernichtungseinrichtungen, schildert Müller ebenso detailliert wie auch die verzweifelten Versuche der Sonderkommando-Häftlinge, zu überleben, ausweglose Fluchtversuche zu unternehmen oder sich in einem Akt der Auflehnung der widerstandslosen Liquidierung zu widersetzen. Müllers Darstellung des Aufstands- Ablaufs ist neu, aber überzeugend, im Hinblick auf die Tatsache, dass er ein Mitglied der Widerstandsbewegung war und sogar Lagerflüchtlinge mit Beweismaterial und Geheiminformationen versorgte. Damit soll dem Leser letzte Gewissheit über ein Geschehen vermittelt werden, das so detailliert und prägnant noch nicht beschrieben wurde. „Sonderbehandlung“ enthält nicht nur zahlreiche bisher unbekannte Informationen über das Inferno der Massenvernichtung. Dieser Bericht schildert Grenzsituationen menschlichen Verhaltens überhaupt. In konkreten aufeinanderfolgenden Erlebnissen wird ein überwältigendes Inferno von Erniedrigung, Leiden, Schikanen, Massenmord, Einzeltötungen und Freitod und blutigen Niederschlagungen von Aufruhr dargestellt.

Doch wie auch schon Frister in seiner autobiographischer Schrift „die Mütze“ verzichtet er auf eine Kategorisierung von Gut und Böse: den Häftlings-Kapo Morawa bezeichnet Mülller an einer Stelle als „Miniaturhitler“, den SS-Kommandoführer Voss dagegen als „gefügiges Werkzeug“. Die Grenzen von Gut und Böse verschwimmen an dem unsäglichen Ort, der von Levi bezeichneten „Grauzone“, die die darin verstrickten Menschen in ihren Haltungen erschütterte und veränderte. Beschrieben wird an vielen Stellen, wie extreme Situationen den Charakter beeinträchtigen können und wie weder Intelligenz noch Bildung an diesem Ort des Todes vor der Deformierung der Persönlichkeit schützen.

„Sonderbehandlung“ ist somit einer der wenigen Erinnerungsberichte, der das Grauen des Massenmords an den europäischen Juden so eindringlich vor Augen führt. In der Art und Weise wie die Erlebnisse des Protagonisten dargestellt werden, erhält der Leser aber nicht nur einen Einblick in das nationalsozialistische Vernichtungssystem, sondern auch in die Psyche der darin schicksalshaft verstrickten Häftlinge. Zum Wissen über die Todesfabrik tritt das Nachdenken über Auschwitz. Der Bericht liefert keine großen Erklärungen und Reflektionen über die Hintergründe nationalsozialistischer Judenpolitik, er regt den Leser stattdessen an, sich eigenständig mit der Thematik auseinander zu setzen und sich mit den fehlenden Aspekten der Darstellung zu beschäftigen: der Vorgeschichte aber auch dem Leben nach und vor allem mit dem Überleben. Genau dies nämlich lässt Müllers Bericht bewusst aus: wer außer ihm noch überlebt hat, was aus den Überlebenden geworden ist. Denn dies gehört in eine andere Welt, aber nicht in die Welt – in Filip Müllers Welt – der „Sonderbehandlung“.

Anmerkungen

Filip Müllers Überlebendenmemoiren „Sonderbehandlung. Drei Jahre in den Krematorien und Gaskammern von Auschwitz“ wurden Anfang Juli 1979 im Münchner Verlag Steinhausen veröffentlicht und im April 1980 schließlich vom Bertelsmann-Verlag mit einer Gesamtauflage von etwa 100.000 Exemplaren herausgegeben. Müllers Erinnerungsbericht erschien jedoch erstmals nicht etwa in der deutschen Originalausgabe, sondern in englischer Übersetzung. Die britische Ausgabe wurde Mitte Mai 1979 unter dem Titel „Auschwitz Inferno. The testimony of a Sonderkommando“ im Londoner Verlag Routledge & Kegan Paul veröffentlicht, die US-amerikanische Ausgabe erschien Ende Mai 1979 unter dem Titel „Eyewitness Auschwitz. Three years in the gas chambers at Auschwitz“ im New Yorker Verlag Stein & Day. Zwanzig Jahre später wurde “Eyewitness Auschwitz” im September 1999 erneut im Ivan R. Dee-Verlag, Chicago, in englischer Sprache aufgelegt, jedoch ohne die vorherige Einverständniserklärung des Autors. Filip Müller wurde ohne Rücksicht auf seinen Willen vor vollendete Tatsachen gestellt und hatte nicht mehr die Kraft sich dagegen zu wehren.

Die erste französischsprachige Ausgabe wurde Ende April 1980 unter dem Titel „Trois ans dans une chambre a gaz“ im Pariser Verlag Pygmalion-Gerard Watelet herausgegeben. Aufgrund der Lizenzvereinbarung mit dem Verlag folgten in den darauffolgenden Jahren weitere Auflagen. Eine deutsche Neu-Auflage seines seit 1982 vergriffenen Buchs wird von Filip Müller zu seinen Lebzeiten nicht gewünscht, ebenso wenig wie die Veröffentlichung einer weiteren fremdsprachigen Edition seines Buchs.

Die Informationen über die Entstehungsgeschichte der Erinnerungsschrift beruhen auf zahlreichen und ausführlichen Gesprächen mit Filip Müller, Erich Kulka und Karl Brozik. Die Hintergrundinformationen beruhen ebenfalls auf diesen Quellen sowie auf den der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main vorliegenden Vernehmungsprotokollen des Zeugen Filip Müller. Der Verfasser dankt Herrn Filip Müller und seiner Familie für deren offene Gesprächsbereitschaft und für ihr Vertrauen sowie Herrn Staatsanwalt a.D. Hess von der Staatsanwaltschaft am Oberlandesgericht Frankfurt am Main für die Akteneinsicht.

Der vorliegende Text ist die überarbeitete Abschrift einer Arbeit, die erstmals am 3. Mai 2002 an der Universität Frankfurt am Main vorgelegt wurde. Teile der Arbeit beruhen auf einem Referat vom 6. Mai 1997: Kilian, Andreas: „Eigentliche Erinnerungsschriften“: Literarischer und historischer Vergleich der beiden Erinnerungsschriften von Richard Glazar: „Die Falle mit dem grünen Zaun. Überleben in Treblinka“ und Filip Müller: „Sonderbehandlung. Drei Jahre in den Krematorien und Gaskammern von Auschwitz“. Unveröffentlichte Hausarbeit/ Referat für das Hauptseminar „Erinnerungsschriften von Opfern der nationalsozialistischen Rassenpolitik II“, Leitung: Prof. Dr. Gisbert Lepper, Prof. Dr. Dieter Seitz, Matthias Wolbold; Institut für Deutsche Sprache und Literatur II der Johann Wolfgang Goethe- Universität, Frankfurt am Main, SS 1997.

Abbildungen der Krematoriumsöfen im Alten Krematorium: © A. Kilian 2004


(Letzte Änderung und Bebilderung der Internet-Publikation: 9. Oktober 2004)

Erinnerungsbericht: Im Jenseits der Menschlichkeit

Hintergrundinformationen

Als Arzt im Zentrum der Massenvernichtung

 

Von Andreas Kilian

Miklos Nyiszli wurde im Jahre 1901 in Nord-Siebenbürgen als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geboren. Nach seinem Medizinstudium, das er in Klausenburg, Kiel und Breslau absolvierte und mit einer Untersuchung über „Selbstmordarten auf Grund des Sektionsmaterials des Breslauer Gerichtsärztlichen Instituts“ abschloss, praktizierte Dr. Nyiszli in seiner Heimat als Gerichtsmediziner und Allgemeiner Arzt. Ende Mai 1944 wurde Dr. Nyiszli mit seiner Frau und 15-jährigen Tochter in das KL Auschwitz-Birkenau deportiert und einen Tag nach seiner Ankunft im IG-Farben werksnahen KL Monowitz zu schwerer Zwangsarbeit herangezogen. Ende Juni 1944 wurde er als Arzt in den Häftlingskrankenbau nach Auschwitz-Birkenau überstellt und eine Woche darauf als Pathologe des ersten Lagerarztes Dr. Josef Mengele in den neueingerichteten Sektionsraum von Krematorium I eingewiesen. Mitte Januar 1945 erfolgte die Evakuierung nach Mauthausen, wo Nyiszli im Nebenlager Ebensee Anfang Mai 1945 aus der Gefangenschaft befreit wurde.

                     

von li. nach re.: rumän. Erst-Ausg. in ungar. Sprache 1946; 1. ungar. Edit. 1947; 1. Ausg. in rumän. Sprache 1965

Kurz nach der Rückkehr in seine Heimat verfasste Dr. Nyiszli innerhalb von nur wenigen Monaten seinen Erinnerungsbericht, der 1946 in ungarischer Sprache unter dem Originaltitel „Ich war der Pathologe von Dr. Mengele im Auschwitzer Krematorium“ publiziert wurde.

Ich fühlte die Pflicht gegenüber meinem Volk und der Welt, als Augenzeuge von all diesem zu berichten, sollte ich auf Grund eines eigentlich unmöglichen Zufalls jemals hier herauskommen.“

erklärte der Überlebende in seinem frühen Zeugenbericht, der bisher weltweit in acht Sprachen übersetzt wurde. Die 1992 erstmals von Dr. Friedrich Herber in deutscher Sprache herausgegebene Übersetzung der ungarischen Originalausgabe unterscheidet sich von den anderen Editionen durch einen umfassenden und kritischen Anmerkungsapparat, biografische Angaben zu allen erwähnten Personen sowie durch eine ausführliche Darstellung von Miklos Nyiszlis Lebensweg. Zudem bereichern zahlreiche Abbildungen historischer Originaldokumente und Schauplätze, private Fotografien, ein nach neuesten Forschungsergebnissen überarbeiteter Lagerplan sowie detailliert erläuterte Pläne der Krematorien die im Dietz Verlag Berlin erschienene Ausgabe.

(deutsche Erst.-Ausg. 1992)

(dtsch. Lizenz-Ausg. des Auschwitz-Museums 2004)

Nyiszlis Überlebendenmemoiren sind der erste veröffentlichte Bericht über die Tragödie der jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau und über den einzigen bewaffneten Häftlingsaufstand in der Todesfabrik Auschwitz. Er ermöglicht einen schonungslosen Einblick in das Innere der Vernichtungsmaschinerie und in die privilegierte Lebenswelt des Sonderkommandos.

Ein Angehöriger des Sonderkommandos schläft in einem geheizten, gelüfteten, sauberen Raum, auf weichem Kissen, im sauberen Bett, unter einer warmen Decke. Seine Verpflegung ist gut, seine Kleidung nicht minder. Er hat etwas zum Rauchen und zum Trinken. Vielleicht vertiert er deshalb nicht, wie die in den schmutzigen Boxen des Lagers zwischen Ungeziefer hausenden, vom Hunger gequälten Menschen, die einander umbringen für ein herabgefallenes Stück Brot oder eine halbe Kartoffel. Auch das Verhalten der Angehörigen des Sonderkommandos anderen gegenüber unterscheidet sich: Wenn Sie können, geben sie jedem etwas ab von ihren Reichtümern. (…) Auf mehrere Tausend schätze ich die Zahl derer, denen das Sonderkommando so half.“

Die anfänglich sehr kritischen Beurteilungen und Beschreibungen des Sonderkommandos durch den Außenstehenden und unerfahrenen Häftling mit der Registrierungsnummer A-8450, der als Obduzent Mengeles selbst nicht dem Todeskommando angehörte, werden im Verlauf des Berichts relativiert.

Zuerst hatte ich keine klare Meinung zum Handeln des Sonderkommandos. Ich konnte es moralisch nicht einordnen. Nach einigen Tagen aber, als ich die Situation besser überblickte, bejahte ich diese Handlungsweise.

Nyiszlis packend geschriebener Erlebnisbericht dokumentiert sogar auf eindrucksvolle Weise seine emotionale Veränderung durch Auschwitz und seine Anpassung an die Lagermentalität.

Zum Tode verurteilt zu sein und dazu noch eine solche Arbeit verrichten zu müssen, das war ein den Körper und die Seele aufreibender, viele zum Wahnsinn treibender Zustand. Man muss das Leben in dieser kurzen Zeit leichter und erträglicher machen! Mit Gold ist das auch hier zu erreichen.

Im Nachwort seines Erinnerungsberichts erklärte Dr. Nyiszli:

Die Demütigungen und Schmerzen, die Schrecken der Krematorien und der Scheiterhaufen, das Leben im Totenhaus, im Kommando der lebenden Toten – all das hat das Gefühl für gut oder schlecht in mir abstumpfen lassen. Ich müsste ausruhen. Kräfte sammeln. Aber: Hat das alles noch einen Sinn? Krankheit verzehrt mich. Die blutige Vergangenheit liegt schwer auf meinem kranken Herzen.“

10 Jahre, nachdem Dr. Nyiszli diese eindringlichen Zeilen schrieb, verstarb er nach langer Krankheit an einem Herzinfarkt. Möglicherweise litt er an den gleichen Qualen wie viele seiner Schicksalsgenossen aus dem Sonderkommando, an den Folgen der grauenvollen Erlebnisse, die der Überlebende Shlomo Venezia als „Krankheit ohne Namen“ bezeichnete.

An einer Stelle in seinen Überlebendenmemoiren beschreibt Nyiszli die Strategie, wie er noch in Auschwitz mit traumatischen Erlebnissen umging und versucht im Zuge dessen dem Leiden einen Namen zu geben:

Mit vernebeltem Gehirn und vor Erschütterung zitternden Beinen mache ich mich auf den Weg (…). Am Krematorium eingetroffen, taumle ich in mein Zimmer. (…) Ich nehme Luminal ein und lege mich hin. Die heutige Dosis beträgt 30 Centigramm. Ob sie gegen die Scheiterhaufenkrankheit hilft?

War es die „Scheiterhaufenkrankheit“ und trostlose Vergangenheit, die Dr. Miklos Nyiszli, „voll von blutigen Erinnerungen und tiefen Schmerzen“, im Alter von nur 54 Jahren so früh aus dem Leben scheiden ließ? Hat er dies etwa vorausgeahnt und sich deshalb im Gegensatz zu den meisten Überlebenden der Shoah so frühzeitig um die Abfassung und Veröffentlichung seiner einmaligen Erinnerungen bemüht? Wir werden es wohl nicht mehr erfahren. Was bleibt, ist ein außergewöhnlicher früher Erfahrungsbericht aus dem Zentrum der Vernichtung, der wertvolle Antworten auf weitaus wichtigere Frage gibt.

Nyiszli, Miklos: Im Jenseits der Menschlichkeit. Ein Gerichtsmediziner in Auschwitz. Hrsg. von Friedrich Herber, bearbeitet von Andreas Kilian und Friedrich Herber, Berlin 2005.

 

Hinweis:

 

Der Text wurde erstmals veröffentlicht im Presseheft zum Film „Die Grauzone“. Sonderkommando-studien.de dankt dem bfilm-Verleih, Berlin, für die freundliche Kooperation.

Vorliegender Text ist eine vorläufige Zusammenfassung des noch nicht vollendeten Artikels:

Kilian, Andreas: Ein Pathologe aus dem Krematorium in Auschwitz- Birkenau berichtet: Miklos Nyiszlis Überlebendenmemoiren „Ich war Arzt in Auschwitz“ und seine Darstellung des „Kommandos der lebenden Toten“. Der erste veröffentlichte Erinnerungsbericht aus dem Innern der Todesfabrik, Frankfurt am Main 2005.


( Letzte Änderung: 09.12.2004 )

Buchbesprechung/ Book Review: Beyond Humanity

 

By Gideon Greif

Miklos Nyiszli: Im Jenseits der Menschlichkeit/Beyond Humanity.

Ein Gerichtsmediziner in Auschwitz/A Forensic Doctor in Auschwitz

The publication of the autobiography of Miklos Nyiszli is an important event for historical research on Auschwitz in general and especially in the field of research on the Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau.  Nyiszli’s memoirs were the first publication on the unknown subject of the Sonderkommando and shed new light on this subject when it was first published in March 1946.

The importance of the information included in this book derives from the duality of the author’s duties in Auschwitz-Birkenau: He simultaneously worked as a pathologist for the infamous SS-physician Dr. Josef Mengele and as a physician for the staff of the Sonderkommando-prisoners. In light of this situation, he relates to the “medical experiments” performed by Mengele and his team and at the same time, supplies us with extremely important facts about the inner life of the Sonderkommando-prisoners. Since the memoirs were written in 1946, we can be assured that the memories of the author were still fresh. He remembered numerous facts, which are essential for us to gain a better insight about these events. For many years Nyiszli’s book was the only source on the experiments carried out by Mengele and on the Sonderkommando and thus, the importance of the book was not diminished despite the presence of some factual mistakes. For this reason, the new edition of this important source, which has recently been published in Germany with many scientific remarks and notes, prepared especially by the young German historian Andreas Kilian, contributes a lot to the existing literature on Auschwitz-Birkenau and the Sonderkommando. In comparison to the old edition, this one includes corrections of the numerous mistakes which are part of Nyiszli’s text.

   

The barbarity and cruelty of German physicians, who paid no importance to human lives and dignity are described in a strong realistic manner and make a quick and powerful impression on the reader. For example:

“The bodies were not lying here and there throughout the room, but piled in a mass to the ceiling. The reason for this was that the gas first inundated the lower layers of air and rose  slowly towards the ceiling. This forced the victims to trample one another in a frantic effort to escape the gas. Yet a few feet higher up the gas reached them. What a struggle for life there must have been! Nevertheless it was merely a matter of two or three minutes’ respite. If they had been able to think about what they were doing, they would have realized they were trampling their own children, their wives, their relatives. But they couldn’t think. Their gestures were no more than the reflexes of the instinct of self-preservation. I noticed that the bodies of the women, the children, and the aged were at the bottom of the pile; at the top, the strongest. Their bodies, which were covered with scratches and bruises from the struggle against each other, were often interlaced. Blood oozed from their noses and mouths; their faces, bloated and blue, were so deformed as to be almost unrecognizable. Nevertheless some of the Sonderkommando often did recognize their kin. The encounter was not easy, and I dreaded it myself. I had no reason to be there, and yet I had come down to be among the dead. I felt it my duty to my people and to the entire world to be able to give an accurate account of what I had seen if ever, by some miraculous whim of fate, I should escape.”

Who was Miklos Nyiszli?

The Jewish doctor Miklos Nyiszli was born  in Samlyo (today’s Simleul Silvaniei), which was then part of the Austrian-Hungarian monarchy. He graduated from high school in 1920 and began to study medicine in the city of Kolozsvar (now known as Cluj- Napoea) in the same year. After two semesters he continued his studies in Kiel (Germany) and finished them in 1930 in Breslau. At the end of the year he returned home and began to work as a general practitioner in Oradea (Nagyvarad/Grosswardein). In May 1944, he was deported to Auschwitz. He first worked in Auschwitz III during the construction of the Buna-factories. At the end of June 1944 he was transferred to Auschwitz-Birkenau. There he was forced to work until July 1944 as an Obduzent under Dr. Josef Mengele and became part of the Sonderkommando. At the end of January 1945, Nyiszli was deported to Mauthausen after a five day march, he was liberated by American troops on May 6, 1945. After the war he returned to the city of Ordea and started to work again as a doctor. His wife and his daughter were liberated in Bergen-Belsen, after having suffered in Auschwitz. He suffered in his last years from illness.  In May 1956, Miklos Nyiszli died of a heart attack.

The maps of Birkenau as well as the Krematoria-building maps, which are included in this edition, have been prepared especially for this publication and represent the most advanced state of research in the field of Auschwitz-Birkenau. The aerial photos chosen for this edition, in which the most significant details of the killing-process can be seen (the undressing-barracks, the pits and the big trucks) are an important addition. All those elements contribute significantly to the understanding ,interpretation and analysis of Nyiszli’s autobiography.

Nyiszli’s  cynical descriptions, very vivid and realistic depict the cruelty and the sadism of the SS-physicians, who sought to promote their own careers, he states.

“Dr. Mengele wanted to solve the problem of the multiplication of the race by studying human material especially  twins that he was free to experiment on as he saw fit. Dr. Wolff was searching for causes of dysentery. Actually, its causes are not difficult to determine; even the layman knows them. Dysentery is caused by applying the following formula: take any individual – man, woman, or innocent child – snatch him away from his home, stack him with a hundred others in a sealed box car, in which a bucket of water has first been thoughtfully placed, then pack them off, after they have spent six preliminary weeks in a ghetto, to Auschwitz. There, pile them by the thousands into barracks unfit to serve as stables. For food, give them a ration of moldy bread made from wild chestnuts, a sort of margarine of which the basic ingredient is lignite, thirty grams of sausage made from the flesh of mangy horses, the whole not to exceed 700 calories. To wash this ration down, a half liter of soup made from nettles and weeds, containing nothing fatty, no flour or salt. In four weeks, dysentery will invariably appear. Then, three or four weeks later, the patient will be “cured”, for he will die in spite of any belated treatment he may receive from the camp doctors.”

The book also provides a lot of integral information about the daily life and death of the Sonderkommando-prisoners, about their relations with the SS-crew in the Crematoria, and about their attempts to help other prisoners with food and other items which they were able to collect in the undressing-rooms. It is an important addition for readers, who want to know more about the so called “Final Solution of the Jewish Question” in Auschwitz-Birkenau,  the Sonderkommando and most importantly – about the criminal acts of the SS-physicians, who were allowed to freely carry out their crimes without limitations, using human beings as guinea pigs. The cruelty of the Nazi regime receives maximum documentation in this edition.  Dietz Verlag in Berlin deserves our gratitude for publishing this new edition, which enables us to read the annotated and corrected text of Miklos Nyiszli, one of the most important historical sources on Auschwitz and the Sonderkommando ever published.

Miklos Nyiszli: Im Jenseits der Menschlichkeit/Beyond Humanity. Ein Gerichtsmediziner in Auschwitz/A forensic doctor in Auschwitz, Karl Dietz Verlag Berlin, 2. Auflage/2nd edition, bearbeitet von/edited by Andreas Kilian und/and Friedrich Herber; Berlin 2005, 207 Seiten/pages.

Copyright © 2005 Yad Vashem – The Holocaust Martyrs‘ and Heroes‘ Remembrance Authority

Hinweis:

Die Rezension wurde veröffentlicht in: Teaching the Legacy, Yad Vashem’s e-Newsletter for Holocaust Educators, April 2005, 21.04.2005.

Wir danken dem Autoren und der Redaktion des e-newsletters der International School for Holocaust Studies in Yad Vashem für deren Zustimmung zur Veröffentlichung des Artikels auf Sonderkommando-Studien.de.


(Letzte Änderungen: 22.04.2005)

Verbrennungsofen-Überreste in der Ruine von Krematorium IV(V) vor verwildertem Hinterhof, © A. Kilian 1994



Manuskript: der konspirative Brief Marcel Nadjarys

 

Hintergrundinformationen

 

„Die Dramen, die meine Augen gesehen haben, sind unbeschreiblich.“
Neuentzifferung des „Unbeschreiblichen“ – die Veröffentlichung von Marcel Nadjarys Brief
und seine Bedeutung für die Auschwitz-Forschung

 

Von Andreas Kilian

Im Oktober dieses Jahres erregte eine Veröffentlichung international großes Aufsehen: Pavel Polians Artikel „Das Ungelesene lesen. Die Aufzeichnungen von Marcel Nadjary, Mitglied des jüdischen Sonderkommandos von Auschwitz-Birkenau, und ihre Erschließung“ in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte (VfZ 4/2017) beschreibt den Neurekonstruktionsprozess und die Bedeutung eines 12-seitigen Briefs, der auf dem Hinterhof von Krematorium II (III) von dem griechischen Sonderkommando-Häftling Marcel Nadjary versteckt worden und offenbar am 30.10.1944 begonnen worden war, aber erst am 24.10.1980 von einem Schüler der Bryneker Forstwirtschaftsschule in etwa 40 cm Tiefe gefunden wurde. In Polians Artikel ist der Brief erstmals fast vollständig abgedruckt und mit nützlichen Anmerkungen sowie wertvollen Hinweisen des Übersetzers publiziert worden.

Aufgrund der starken Beschädigung konnte das Manuskript erst am 31.07.1981 ins Polnische übersetzt werden, allerdings waren nur 10% des Textes entzifferbar. Bis dahin war (abgesehen von der dreisprachigen Adressierung auf der ersten Seite) völlig unbekannt, was in dem Brief überhaupt steht.

Im Jahre 1996 wurden die wenigen entzifferbaren Brief-Fragmente im vom Verlag des Staatlichen Museums Auschwitz herausgegebenen Sammelband der Sonderkommando-Handschriften unter dem Titel „Inmitten des grauenvollen Verbrechens“ auf Deutsch veröffentlicht. In dieser Publikation wurden auch Feststellungen über Nadjary auf Grundlage erhaltener Lagerverwaltungsakten getroffen. Personenbezogene Angaben konnten so aus einem Zugangsbuch sowie von einer Karte der Häftlingsschreibstube des KL Mauthausen vom 25.01.1945 gewonnen und dem Verfasser des Briefs zugeordnet werden. Nicht bekannt war dem Auschwitz-Museum hingegen, dass das Dokument mit den meisten Informationen, der originale Häftlings-Personalbogen Nadjarys, im Archiv des YIVO (Jüdisches Wissenschaftliches Institut) in New York verwahrt wird, ausgerechnet in der Stadt, in der Nadjary die letzten 20 Jahre bis zu seinem Tod im Jahre 1971 gelebt hatte. Das besondere Dokument wird in diesem Artikel erstmals publiziert.

(Hinweis: Das Dokument ist in der Print- und Online-Ausgabe des Mitteilungsblatts der Lagergemeinschaft Auschwitz abgebildet)

Obwohl Nadjarys Brief das letzte Zeugnis ist, das bislang auf dem Gelände der Krematorien in Auschwitz-Birkenau gefunden worden war und sich im Jahre 1980, 36 Jahre nach seiner Entstehung, in entsprechend schlechtem Zustand befand, konnte im Jahre 2016 der russische IT-Experte Aleksandr Nikitjaev  das Zeugnis – 36 Jahre nach seinem Auffinden – nach über einjähriger Arbeit fast vollständig (90%) mittels Multispektralanalyse rekonstruieren. Darunter konnten vier Seiten erstmals lesbar gemacht werden.

Das sensationelle Ergebnis gibt Anlass zu der Hoffnung, dass weitere Suchaktionen auf dem Gelände der Krematorien und auf den Höfen der Sonderkommando-Barracken im Birkenauer Männerlager gewagt werden, um noch letzte Beweismittel sicherstellen zu können. Das von Pavel Polian und Aleksandr Nikitjaev angewandte Verfahren, das in Polians Artikel ausführlich erklärt wird, ist sicherlich nicht die einzige technische Methode, Unlesbares wieder sichtbar zu machen, aber offensichtlich eine geeignete Lösung. Die erfolgreiche Rekonstruktion durch das russische Team sollte anderen Wissenschaftlern und Investoren Mut machen, weitere Projekte dieser Art zu unterstützen und zu finanzieren. Was gegenwärtig nicht wieder sichtbar gemacht werden kann, wird möglicherweise in 20 oder 50 Jahren mit neuen Methoden erreicht werden können.

Abbildung: Einzelne Farbkanäle und der Effekt von sich fortlaufend von Blau zu Rot erhöhender Lesbarkeit

Im Fall von Nadjarys Brief ist heute ein anderes Textverständnis als noch vor wenigen Jahren möglich und ein Zuwachs von bedeutenden Informationen erkennbar: Die Beschreibung der Gaskammer (Blatt 4) und des vollständigen Vernichtungsprozesses (Blatt 4-5) war zuvor nicht entzifferbar, genauso wenig wie Zahlenangaben zum Sonderkommando (Blatt 6), Informationen über dessen Aufstand mit Namensnennungen von Opfern (Blatt 6-7) und Nadjarys Schätzung der Gesamtzahl von in Auschwitz-Birkenau ermordeten Menschen: „Insgesamt ungefähr 1.400.000“ (Blatt 12). Sogar eine Datierung von Nadjarys Brief ist durch die neu entzifferten Angaben möglich:

(…) zuletzt trafen erstmals etwa 10 000 Juden aus Theresienstadt in der Tschechoslowakei ein. Heute kam ein Transport aus Theresienstadt, aber Gott sei Dank haben sie die nicht zu uns gebracht, sie behielten sie in Lagern, es hieß, dass der Befehl kam, man solle keine Juden mehr töten, und das stimmt allem Anschein nach, da haben sie jetzt im letzten Moment ihre Meinung geändert – jetzt da allerdings kein einziger Jude mehr in Europa übrig geblieben ist, doch für uns liegt die Sache anders, wir müssen von der Erde verschwinden, weil wir so Vieles wissen über die unvorstellbaren Methoden ihrer Misshandlungen und Vergeltungsaktionen.

Der von Nadjary erwähnte Transport erreichte Auschwitz-Birkenau am 30.10.1944. Zwischen dem 29.09. und 30.10.1944 trafen mindestens 18.400 Menschen aus dem Ghetto Theresienstadt in Auschwitz-Birkenau ein. Laut auf dem Krematoriumsgelände ausgegrabener „Kremierungs-Liste“, die dem Sonderkommando-Häftling Lejb Langfuß zugeschrieben wird, sind im Oktober 1944 schätzungsweise 15.500 Deportierte aus Theresienstadt in den Krematorien I und II, davon 7.000 Menschen in dem Krematorium (II) in dem Nadjary eingesetzt wurde, vergast worden. Der letzte, am 30.10.1944 in Auschwitz eingetroffene Transport aus Theresienstadt fehlt auf Langfuß‘ Liste. Offenbar wurde ein Teil der Deportierten in das Birkenauer Durchgangslager ohne Registrierung verbracht und nicht vergast. Das „Kalendarium Auschwitz“ datiert die Einstellung der Vergasungen in Auschwitz auf den 02.11.1944. Neben der Langfuß-Liste belegt nun auch Nadjarys Brief als zweites glaubwürdiges schriftliches Zeugnis aus dem Sonderkommando, dass die Vernichtungsaktionen bereits vor dem letzten Zugang aus Theresienstadt eingestellt worden waren.

Aktuelleren griechischen Untersuchungen zufolge seien jüngst noch weitere Stellen in Nadjarys Brief entziffert worden, darunter wohl auch relativ am Ende des Briefs das Datum „3/11/44“. Wenn dies zuträfe, könnte womöglich daraus geschlossen werden, dass der Text nicht an einem Tag (30.10.1944) geschrieben oder beendet worden ist. Der Fall Nadjary lässt auf die Erlangung noch weiterer neuer Erkenntnisse hoffen.

Einzigartig an Nadjarys Text ist auch, dass sein Verfasser als einziger Sonderkommando-Häftling, dessen vergrabene Schriften entdeckt worden waren, das Kriegsende überlebt hatte und im Jahre 1947 sogar seine Erinnerungen in einem 58-seitigen Manuskript dokumentierte, das 1989 erstmals auszugsweise in der griechischen Erstausgabe von Berry Nahmias Buch “A Cry for Tomorrow 76859…” und schließlich 1991 vollständig in Nadjarys Buch „Chroniko“ (beides in Griechisch) veröffentlicht wurde. Die Erinnerungs-Schrift aus der Nachkriegszeit bestätigt einerseits in den meisten Fällen die Angaben im Krematoriums-Brief und ergänzt sie auf der anderen Seite auf beeindruckende Weise. Das vollständige Manuskript wurde bislang nur in den Jahren 1991 und 2018 in griechischer Sprache herausgegeben. Es bleibt zu hoffen, dass Nadjarys Gesamtwerk zukünftig auch in Deutschland verlegt wird.

Hervorgehoben werden sollte auch, dass Nadjarys Brief ein wahrhaft vergessener Schatz war. Sein Verfasser verriet weder während seiner Häftlingszeit noch danach Kameraden, Freunden, Bekannten und noch nicht einmal Familienangehörigen, dass er einen Brief in der Erde des Krematoriumshofs vergraben hatte. Nadjary erlebte die Entdeckung seines Briefs tragischerweise nicht mehr.

Mit Polians Veröffentlichung in Heft 4/2017 der VfZ liegt Nadjarys Brief nun auch erstmals in fast vollständiger deutscher Übersetzung vor, was längst überfällig war. Im Gegensatz zu anderen Schriften von Sonderkommando-Chronisten, die nach Kriegsende aufgefunden werden konnten, war Nadjarys Brief das am wenigsten beachtete Zeugnis. Zu Unrecht, wie der jetzt zugängliche Text beweist.



Hinweis:

Vorliegende Buchbesprechung erschien mit anderem Bildmaterial versehen unter demselben Titel in: Mitteilungsblatt der Lagergemeinschaft Auschwitz, Freundeskreis der Auschwitzer, 37.Jg., H.2, (2017), S.26-29.


(Letzte Änderung: 09.12.2019)



Bildband: Vergessen oder Vergeben?

 

Pressetext

 

»Der Künstler David Olère ist der einzige Maler der Welt, der in den Krematorien von Auschwitz-Birkenau war, ihnen lebend entkommen konnte und seinen ganzen Willen und sein ganzes Talent darangesetzt hat, in seinen Bildern präzise Rechenschaft abzulegen.«

Serge Klarsfeld


Alexandre Oler/ David Olère

Vergessen oder Vergeben

Bilder aus der Todeszone

Aus dem Französischen von Marianne Schönbach

119 Seiten, Hardcover

48 Abbildungen, davon 6 in Farbe



Die Anatomie der Todesfabrik in Bilddokumenten

Fotografische Zeugnisse aus den Gaskammern von Auschwitz gibt es keine. Die Täter setzten alles daran, mögliche Zeugen und Dokumente des industriellen Massenmords zu vernichten. Überliefert wurden stattdessen andere und nicht weniger bedeutende Bild-Zeugnisse: In dem Bildband „Vergessen oder Vergeben“ sind erstmals in einer deutschsprachigen Ausgabe einzigartige Bilder aus dem Zentrum des Vernichtungslagers versammelt.

Der Künstler David Olère war Mitglied des jüdischen Sonderkommandos im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau – einer Gruppe jüdischer Häftlinge, die unter Aufsicht der SS gezwungen wurden, die Menschen zur Vergasung zu führen, ihre Leichen „auszuwerten“ und zu beseitigen. Nur wenige dieser Sonderkommando-Häftlinge überlebten und konnten einen Einblick in die Anatomie der Vernichtungsanlagen geben.

David Olère ist der einzige Maler auf der Welt, der ins Innere der Todeszone vorgedrungen ist und sie lebend verlassen hat. Der Wert seiner Zeichnungen und Bilder ist unschätzbar. Es gibt nur wenige Fotografien aus dem Innern der Krematorien und überhaupt keine, die Vernichtungsanlagen in Betrieb zeigen könnten, so dass erst Olères detaillierten Zeugnisse die grausame Realität in Bilddokumenten veranschaulichen.

Er war der Erste, der den Aufbau der Krematorien authentisch gezeichnet hat, um die Todesfabrik erklären zu können. Viele seiner Bilder haben Bücher und Fernsehsendungen über Auschwitz-Birkenau dokumentarisch bereichert, unter anderem Gideon Greifs Buch „Wir weinten tränenlos…“ und die ARD-Dokumentation „Sklaven der Gaskammer“ von Eric Friedler.

Olère konnte überleben, weil sein Talent als Zeichner von der SS genutzt wurde und weil er mehrere Sprachen beherrschte, die im Lager von Nutzen waren. Als er nach dem Krieg von seinen Erlebnissen berichten wollte, hörte ihm zunächst niemand zu. Da begann er seine Erinnerungen in mehr als 50 Zeichnungen künstlerisch zu verarbeiten und das Grauen zu dokumentieren. Er wollte Zeugnis ablegen anstelle derer, die nicht überlebten.

Ergänzt werden die eindringlichen Bilder in „Vergessen oder Vergeben“ von Texten seines Sohnes, dem Schriftsteller Alexandre Oler, die die Zeichnungen kommentieren und in ihrer Ausdrucksstärke den Bildern nicht nachstehen. So ist mit „Vergessen oder Vergeben“ ein einmaliges Dokument entstanden.


Bucheditionen zu David Olères Werken (1989-2018)


Zu den Künstlern:

David Olère, 1902 in Warschau geboren, verlässt bereits 1918 Polen. Über Berlin kommt er 1923 nach Paris, wo er Kulissen, Kostüme und Filmplakate gestaltet, vor allem für Paramount Pictures. Dort heiratet er und bekommt einen Sohn, Alexandre.

Im Februar 1943 wird er von der französischen Polizei festgenommen und über Drancy nach Auschwitz deportiert, wo er im Sonderkommando des Krematoriums II arbeiten muss. Im Januar 1945 wird er auf einen Todesmarsch nach Mauthausen geschickt. Unmittelbar nach der Befreiung durch die US-Armee am 6. Mai 1945 in Ebensee beginnt er, das Grauen, das er erlebt hat, in seinen Bildern zu verarbeiten. David Olère stirbt am 21. August 1985 in Noisy le Grand bei Paris. Sein Werk ist von seiner Witwe und seinem Sohn verschiedenen Museen vermacht worden.

Alexandre Oler, 1930 in Paris geboren, muss schon im Alter von 12 Jahren die Schule verlassen, weil er den gelben Stern trägt. Die Verhaftung des Vaters, die er selbst miterlebt, zwingt Mutter und Sohn in den Untergrund. Nach Kriegsende kann er eine Karriere in der französischen Industrie machen. Alexandre Oler lebt heute als Schriftsteller in Nizza.

Alexandre Oler auf der Frankfurter Buchmesse 2004, Foto © Andreas Kilian



Hinweis:

Wir danken dem zu Klampen-Verlag für die Zustimmung zur Veröffentlichung des Pressetexts auf Sonderkommando-studien.de Der Originaltext wurde geringfügig korrigiert und ergänzt.

Zudem danken wir Herrn Alexandre Oler für die Genehmigung, ausgewählte Bilder aus seinem Buch auf Sonderkommando-studien.de einzustellen.


(Letzte Änderung: 03.01.2005)