FAQ – Fragen und Antworten zum Thema Sonderkommando Auschwitz
Die transkribierten Fragen und frei formulierten Antworten stammen aus dokumentierten Interviews mit Andreas Kilian (Quellenangaben sind jeweils am Ende der einzelnen Interviews zu finden)
Was waren die Aufgaben des jüdischen Sonderkommandos?
Die Häftlinge der jüdischen Sonderkommandos waren in den Vernichtungsanlagen und an den Mordstätten des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau eingesetzt.
Diese unglückseligen Häftlinge wurden von ihren Peinigern der SS dazu gezwungen, die zur Ermordung bestimmten Menschen in den Entkleideräumen oder Auskleidebaracken zu empfangen, zu beruhigen; Gebrechliche, Kranke, Alte in die Gaskammern zu tragen sowie für einen raschen Auskleidungsprozess und Gang in die Gaskammern zu sorgen. Nach der Ermordung mussten sie die Gaskammern leeren und reinigen, die Leichen der Opfer in allen Körperöffnungen auf Wertsachen untersuchen, deren Kopfhaar abschneiden, das Schnitthaar anschließend für die industrielle Verwertung reinigen, unter anderem Goldzähne ausreißen, Prothesen abnehmen und die Körper in den Krematoriumsöfen oder Verbrennungsgruben einäschern. Zum Schluss mussten sie noch die Knochenreste zerschlagen und die Asche verstreuen. In den Entkleidungsräumen selbst mussten sie anschließend die verbliebene Habe der Opfer einsammeln und dann zum Weitertransport vorbereiten. Das heißt, es gab mehrere Arbeitsgruppen und Tätigkeitsfelder im Sonderkommando, es gab zum Beispiel auch ganz kleine Arbeitskommandos im Sonderkommando, die bei Erschießungsaktionen auf dem Krematoriumsgelände die Opfer ablenken und festhalten mussten. Das heißt, es war letztlich eine ausweglose und tragische Arbeit in den Krematorien von Auschwitz-Birkenau.
Das sind ja wirklich die entsetzlichsten Aspekte der Vernichtung, die hier von den Gefangenen selber umgesetzt werden mussten. Was gab es denn für Vorteile, warum Menschen sich dafür bereitfinden konnten?
Das sind eigentlich zwei verschiedene Punkte, denn es gab sehr wohl Vorteile, allerdings erst im Laufe des Jahres 1943, eher gegen Ende 1943, in dem Sinne, dass diese Häftlinge eine höhere Lebensmittelzuteilung bekamen, dass diese Männer in ihrer Kommandostärke komfortabler untergebracht waren als andere Häftlinge. (…) In einer Häftlingssteinbaracke in Auschwitz-Birkenau waren in der Regel zwischen 700 und 1000 Häftlinge untergebracht. Im frühen „Sonderkommando-Block“, einem isolierten Block, waren bis zu 400 Häftlinge untergebracht. Sie hatten zum Beispiel die Möglichkeit, von den Habseligkeiten der Opfer Bettzeug, Zahnbürsten, Waschzeug, Lebensmittel an sich zu nehmen und hatten in dieser Hinsicht auch weitaus bessere sanitäre Verhältnisse als andere Häftlinge. Dies aber erst wohlgemerkt seit Ende 1943, Anfang 1944. (…) Trotz dieser Vorteile haben sich diese Häftlinge nicht freiwillig zu dieser Arbeit gemeldet. Sie wurden zu dieser Arbeit gezwungen. Sie wurden ohne Kenntnis darüber, was ihnen bevorstehen wird, von der SS zu dieser Tätigkeit ausgewählt und hatten in dieser Hinsicht keine Wahl, denn Selbstmord war keine Alternative.
Berühmt geworden ist die von Hannah Arendt angestoßene Diskussion darüber, dass Juden wie die Lämmer zur Schlachtbank sich haben führen lassen. Diese Sonderkommandos sind den Schlächtern ja im Grunde genommen noch zur Hand gegangen. Wie ist denn deren Rolle diskutiert worden in der Nachkriegszeit?
Sehr kontrovers, wie man sich denken kann. Sie erwähnten schon zu Recht Hannah Arendt, die auch in ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem“ die Häftlinge des Sonderkommandos auf eine Stufe mit Lagerkapos, mit Judenältesten in den Gettos und mit jüdischen Gettopolizisten stellte. Und es gab auch ein Gesetz in Israel, dass diese Häftlinge der Kollaboration beschuldigte und die Tätigkeit in diesem Kommando zumindest rein theoretisch unter Strafe stellte, was schon sehr viel darüber aussagt, was für ein Bild von diesen Häftlingen existierte. Dieses Bild wurde noch sehr lange beibehalten, noch bis Mitte der achtziger Jahre, bis zu diesem Zeitpunkt, weil erst damals verhältnismäßig viele ehemalige jüdische Sonderkommando-Häftlinge sich öffentlich über ihre Erlebnisse geäußert haben und somit auch erstmals die Gelegenheit bestand, dieses Bild zu korrigieren. In Deutschland war es ähnlich. Da hat man sich natürlich mit Bewertungen zurückgehalten. Im Frankfurter Auschwitz-Prozess sagten ehemalige Sonderkommando-Häftlinge aus und mussten sich selbst vor dem Gerichtsvorsitzenden rechtfertigen, warum sie denn überlebt hätten, da doch die Sonderkommandos regelmäßig liquidiert worden seien. Es gab eine sehr kontroverse Diskussion um die Rolle aber auch um das Überleben der Sonderkommando-Häftlinge, wobei man immer wieder darauf hinweisen muss, dass sie keine Kollaborateure waren und den SS-Angehörigen auch nicht freiwillig zur Hand gingen, denn Hilfe beruht meiner Definition nach grundsätzlich auf Freiwilligkeit und diese Männer hatten, wie ich schon eingehend sagte, keine Möglichkeit, ihre Zwangsarbeit oder Befehle zu verweigern. Hätten sie dies getan, wären sie sofort erschossen worden.
Wie ist es Ihnen denn gelungen, dann (…) das Vertrauen der Überlebenden dieser jüdischen Sonderkommandos zu gewinnen?
Das Vertrauen zu gewinnen war äußerst schwierig und ich sage ganz offen, es hat Jahre gedauert und einen langjährigen Kontakt vorausgesetzt, bis diese Männer auch relevante Details preisgegeben haben, bis sie auch bereit waren, zum Beispiel vor der Kamera auszusagen. In dieser Hinsicht kann man nicht behaupten, man hat ein Interview mit einem Sonderkommando-Überlebenden gemacht und bereits seine Geschichte dokumentiert. Ganz im Gegenteil, ich benötigte mindestens drei, vier Gespräche, bis man sagen konnte, jetzt habe ich die wichtigsten Informationen zusammen und ich habe in all diesen Jahren auch immer wieder die gleichen Fragen gestellt, um festzustellen, inwieweit sich Erinnerung verändert und konnte dabei feststellen, dass die Erinnerung bei den meisten dieser traumatisierten Männer so gut war, dass sie sich im Laufe der Jahre nicht verändert hat und dass sie sich in den seltensten Fällen widersprochen haben.
HINWEIS:
Die obenstehenden Fragen und Antworten wurden folgendem Radiobeitrag mit freundlicher Genehmigung des Interviewers und des Senders entnommen:
Burschl, Fritz: Das Jüdische Sonderkommando in Auschwitz. Interview mit Andreas Kilian, in: Radio Lotte Weimar, 27.01.2005
Wie haben Sie es geschafft und was waren Ihre Gründe über das jüdische Sonderkommando zu schreiben?
Als ich mit etwa 16 Jahren mit dem Thema zum ersten Mal konfrontiert wurde und zwar in Auschwitz selbst, als Schüler und als Teilnehmer einer Gedenkstättenfahrt, wusste ich schon auf irgendeine Art, dass dieses Thema mein Leben bestimmen würde.
Als ich kurz darauf, Anfang 1992, Claude Lanzmanns Film „Shoah“ sah und dort die Aussagen von Filip Müller hörte, hat mich das so tief bewegt, und so stark geprägt, dass ich von dem Thema seitdem nicht mehr loskam. (…)
Ein Jahr später begann ich als Freiwilliger der „Aktion Sühnezeichen“ in Auschwitz selbst zu arbeiten, wo ich genügend Gelegenheit hatte, relevante Quellen zu studieren. Und zu Ihrer Frage (…), wie ich das geschafft habe: wenn ich nicht so geführt geworden wäre und mich nicht dazu in der Lage gesehen hätte, mich mit diesem Grauen auseinander zu setzen, dann hätte ich damit nie angefangen.
(…) In dieser Zeit hatte ich viele schicksalhafte Begegnungen, die mich immer wieder bestärkt haben, dem Thema treu zu bleiben und so kam es eben, dass ich durch diese langjährige Beschäftigung eines Tages zum Autor wurde, denn diese Beschäftigung hat ja nur einen Sinn gehabt, nämlich diese Thematik zu vermitteln. (….)
Es bleibt bei weitem nicht nur beim Quellenstudium, wenn man sich mit der Materie vertraut machen will, man muss auch sehr differenziert Aussagen untersuchen und die meisten Erkenntnisse konnte ich während der Zeitzeugengespräche gewinnen. Also mein Lehrer ist von Anfang an Filip Müller gewesen, der mich durch seine Aussagen in „Shoah“ zu dem Thema gebracht hat und dessen Buch “Sonderbehandlung“ ich unmittelbar danach verschlungen habe. Meine Gespräche mit ihm haben mein Bild der Sonderkommando-Geschichte und auch meine Sensibilität für das Thema entscheidend geprägt.
Darf man die Shoah dem Buchmarkt überhaupt überantworten?
Ich denke, dass man das sogar muss, weil ich der Meinung bin, dass das Buch eines der wichtigsten und effektivsten Medien ist, um das Thema zu vermitteln und um essentielle Erkenntnisse und Botschaften zu vermitteln. Alles im Leben hat seinen Preis. In der Tat ist es immer ein großes Risiko, so ein sensibles Thema der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, denn mit diesen Ergebnissen kann jeder anstellen, was er will: Jeder Leser kann seine eigenen Schlüsse daraus ziehen und die Informationen für seine eigenen Zwecke verwenden.
Ich stoße jeden Tag darauf, ich ärgere mich aber nicht mehr darüber, weil ich schon so viel erlebt habe, wie selbst nach Interviews, nach Veranstaltungen völlig der Sinn und Inhalt entstellt wurden. (…) Teilweise wird sehr fahrlässig damit umgegangen, aber ich würde nicht so weit gehen und sagen, weil es ein so sensibles Thema ist, gehe ich überhaupt nicht mehr an die Öffentlichkeit, bin ich auch nicht dafür, dass Zeitzeugen in der Öffentlichkeit sprechen, bin ich für ein Bilderverbot wie auch gegen filmische Bearbeitungen.
(…) Ich bin für eine offene Bearbeitung des Themas und ich denke, gewisse Risiken muss man einfach eingehen, wenn man wirklich etwas bewegen will.
Wusste die deutsche Bevölkerung über die Massenvernichtung in Konzentrationslagern Bescheid?
Wer etwas wissen will, wird immer Mittel und Wege finden, um an die Informationen zu gelangen. Obwohl SS-Angehörige, die in Auschwitz stationiert waren unter Todesandrohungen über die geheime Reichssache Judenvernichtung Stillschweigen bewahren mussten, gelangten Informationen auch in die Außenwelt. Das heißt, selbst diesen Männern war es nicht möglich, das auszuhalten und mit dem Wissen allein weiterzuleben, ebenso wenig wie es auch für die Sonderkommando-Häftlinge erträglich war, mit diesem Wissen zu sterben ohne davon Zeugnis abzulegen.
So erklärt es sich ja auch, dass es geheime Aufzeichnungen von Sonderkommando-Häftlingen gab, die Berichte über das Geschehen in den Krematorien in der Erde vergraben haben. Ich denke allerdings auch, dass die deutsche Bevölkerung gute Gründe hatte, nichts zu wissen und ich denke, einige dieser Gründe waren Selbstschutzmaßnahmen, Selbstbetrug und schlicht und ergreifend Angst vor Repressionen.
Unbewusst weiß man, dass es sich um unglaubliche Verbrechen gehandelt hat, mit denen man sich um Gottes Willen nicht näher befassen möchte, die man sozusagen aus Selbstschutz verleugnen muss. Und Angst natürlich auch vor den eigenen Leuten. Das war ja letztlich auch Kalkül der Endlöser gewesen: so hat man SS- Angehörige erst zu diesen Taten bringen können, soweit unter Druck setzen können. Andererseits haben sie sich auch selbst diesen Druck auferlegt, bis sie letztlich darin verstrickt waren, wobei man Fanatismus, Kadavergehorsam und Beflissenheit auch konstatieren muss. Die Angst spielte keine unwesentliche Rolle: einer wollte sein Gesicht nicht verlieren, der Nächste sich nur keine Blöße geben, andere wollten nicht denunziert oder ausgeschlossen werden. Wir wissen doch selbst von Hitlerjungen, die sogar ihre Eltern denunziert haben. Vor diesem Hintergrund war es ein absolutes Tabu, in irgendeiner Weise über die Verbrechen zu berichten, die in Deutschland geschahen.
Wie bewerten Sie als Historiker die Rekonstruktion über den bewaffneten Aufstand auch des jüdischen Sonderkommandos in dem Film die „Grauzone“?
Ich denke der Film „Die Grauzone“ ist nicht wirklich eine Rekonstruktion, sondern eine fiktionale Bearbeitung eines historischen Stoffs. (…)
Der Regisseur und Drehbuchautor hatte meines Erachtens die Absicht, einen Film über das Individuum in menschlichen Extremsituationen, über die Abgründe der menschlichen Natur zu machen. Er hat menschliche Verhaltensweisen in einem der dunkelsten Kapitel der Shoah durchleuchtet und uns mit ethischen Dilemmata konfrontiert.
Nicht umsonst hat er seinen Film in Anlehnung an das Essay von Primo Levi „Die Grauzone“ genannt und nicht etwa „Auschwitz, 7.Oktober 1944, 13.25 Uhr“, wie im Vergleich Claude Lanzmann seinen Film genannt hat: „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“. Das wäre ein Indiz dafür gewesen, dass es eine Rekonstruktion oder Dokumentation sein soll, aber nein, er hat den Film „Die Grauzone“ genannt.
Worauf basiert der Titel des Filmes und leistet der Film einen Beitrag zur Erinnerungsarbeit?
Der Film gibt dem Publikum erst die Gelegenheit diesem besonderem Ereignis zu gedenken, was andere Filme nicht getan haben.
Da wird zum Beispiel einem Schindler ein Denkmal gesetzt. Dem Film „Die Grauzone“ geht es zwar um das Individuum, aber auch um das Schicksal einer bestimmten Häftlingsgruppe und um ein außergewöhnliches Ereignis in der Geschichte des Vernichtungslagers Auschwitz: ein herausragendes Beispiel für jüdischen Widerstand. In dieser Hinsicht gibt er dem Publikum erst Gelegenheit, sich mit diesen Tatsachen vertraut zu machen und auf einer anderen Ebene intensiver darüber nachzudenken. Der Film stellt viele Fragen, er erklärt aber relativ wenig. Und diese Lücke provoziert geradezu zu einer Auseinandersetzung mit der Problematik und zu einer kontroversen Diskussion. In dieser Hinsicht fördert er die Erinnerungsarbeit, zumal er ja nicht wirklich als reiner Unterhaltungsfilm bezeichnet werden kann. Dieser Film hat ganz andere Ansprüche und das kommt ihm auch zugute.
Der Film problematisiert auch das diabolische Konzept der SS die Opfer zu Tätern zu machen.
Der Film „Die Grauzone geht ja auf Primo Levis Werk „Die Untergegangenen und die Geretteten“ zurück, indem er auch mit dieser Bezeichnung einen Grenzbereich und Handlungsraum durchleuchtet, in dem die Trennungslinie zwischen Opfer und Täter verschwimmt.
(…) mit diesem Begriff versucht er auch zu bezeichnen, dass moralische Kategorisierungen diese Ereignisse und Verhaltensweisen nicht mehr erfassen können. Man hat ja oft genug versucht, die Sonderkommando-Häftlinge als Kollaborateure darzustellen und dieser Begriff zeigt eben auch auf, dass dies so einfach nicht ist.
Denn die Sonderkommando-Häftlinge befanden sich in einem ethischen Dilemma und standen diesseits von Gut und Böse. Das heißt, dieser Titel von Primo Levi ist an sich ja schon genial und ich finde, es ist bemerkenswert, dass der Regisseur diesen Filmtitel ausgesucht hat.
Durch die Fiktionalisierung des Themas gerät der Regisseur jedoch auch selbst in eine Grauzone und wird allein dadurch schon dem Titel gerecht.
HINWEIS:
Die obenstehenden ausgewählten und gekürzten Fragen sowie Antworten wurden in folgendem Medium veröffentlicht:
Bilder der Grauzone. Ein Gespräch mit Andreas Kilian über die Shoah und das jüdische Sonderkommando in Auschwitz, von Peer Zickgraf, in:
http://www.einseitig.info/html/content.php?txtid=24, 27.01.2005. Wir danken dem Autoren und der Redaktion für deren Zustimmung zur Veröffentlichung der Auszüge auf www.sonderkommando-studien.de
Sie gehören zu den wenigen Spezialisten auf dem Gebiet der Sonderkommando-Forschung in Deutschland. Wie sind sie als Historiker zu diesem Thema gekommen?
Bis 1991 hat man sich nur mit der Ökonomie der Vernichtung, d. h. mit der Technik der Massenvernichtung beschäftigt. Mich hat eigentlich immer der Mensch interessiert, der Mensch im Mittelpunkt. Was waren das für Menschen, die diese grauenvolle Arbeit verrichten mussten, wie haben sie das erlebt, wie haben sie überlebt und wie leben sie heute damit?
Anfang 1992 habe ich Claude Lanzmanns Film „Shoah“ gesehen. Dabei hat mich Filip Müllers Bericht als Sonderkommando-Überlebender so ergriffen und auch beeindruckt, dass mich das Thema seitdem nicht mehr losgelassen hat.
Wieso war der Mensch im Zentrum der Vernichtung so lange kein Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung? Galt das Thema als Tabu oder war man Anfang der 90er Jahre einfach noch nicht so weit?
Beides. Hauptsächlich war es ein Tabu-Thema, das letztlich erst Gideon Greif mit seinem Interview-Band „Wir weinten tränenlos“ beendet hat. Das Thema wurde 1995 durch dieses Buch neu belebt. Auch wurden erst zu diesem Zeitpunkt Fachkreise wieder darauf aufmerksam, denen nicht bekannt war, dass Mitte der Neunzigerjahre noch etwa 25 ehemalige Sonderkommando-Häftlinge am Leben waren. Vorher sind alle Versuche, das Thema systematisch zu untersuchen, gescheitert.
Ist aus dieser systematischen Arbeit auch Ihr Buch „Zeugen aus der Todeszone“ (2002) hervorgegangen?
Ja, erstaunlicherweise war es die erste Monografie zu den Sonderkommandos, in der zudem die neuesten Forschungsergebnisse und relevanten Daten verarbeitet wurden.
Trifft man heute immer noch auf die gleichen Vorbehalte oder hat die Aufarbeitung inzwischen zu einem Wandel geführt?
Es ist immer noch ein Tabuthema und vor allen Dingen, es ist auch ein sehr schmerzhaftes Thema für ehemalige Auschwitz-Häftlinge, die viele Angehörige verloren haben. Es gibt ganz konkret Überlebende, die mir und anderen gesagt haben: „Ja, die Sonderkommando-Häftlinge das sind doch Mörder, die sind nicht besser als die SS.“
Ich habe die Erfahrung gemacht, das ehemalige Auschwitz-Häftlinge, die das behaupten, selbst nie in ihrem Leben, weder im Lager, noch nach ihrer Befreiung mit (ehemaligen) Sonderkommando-Häftlingen in Berührung kamen. Ich habe noch von keinem ehemaligen Häftling, der längere Zeit in Auschwitz inhaftiert war und einen relativ guten Überblick über die Geschehnisse und Abläufe hatte, oder der Funktionen und gute Beziehungen hatte, gehört, dass er die Sonderkommando-Häftlinge in irgendeiner Form als Kollaborateure bezichtigt hätte.
Kommt hier nicht dem Film „Die Grauzone“ von Tim Blake Nelson (USA 2002) eine wichtige Rolle zu, da er direkte Einblicke in die Arbeit und Funktion der Sonderkommandos gewährt?
Ja, aber nur, wenn man zu dieser Auseinandersetzung bereit ist. Und darin liegt die Gefahr des Films. Wenn man die Dialoge genau analysiert, kann man sehr wohl das Dilemma erkennen und auch zu dem Schluss kommen, es waren gar keine Kollaborateure, es waren verzweifelte Männer. Genauso gut kann man, wenn man diese Vorbehalte schon hat, sich bestätigt sehen und sagen: Der Film führt doch vor, dass es Mörder waren. Die schlimmsten Szenen, die auch den Film selbst zu einer Grauzone machen, zeigen, wie Sonderkommando-Häftlinge die Gaskammertüren schließen. Das war so nie der Fall. Das wäre ein Indiz der Mittäterschaft. Das ist historisch falsch.
Die Darstellung im Film resultiert aus einem sehr persönlichen Zugang des Regisseurs zum Thema. Wie schätzen Sie als Historiker ihn ein?
Man darf diesen Film nicht zu historisch betrachten. Denn wenn man das tun würde, müsste man sehr schnell zu dem Schluss kommen, dass eine authentische Darstellung historischer Abläufe oder eine historische Dokumentation nicht gelungen ist. Letztlich ist das ja auch unmöglich. Aber ich denke, das ist auch überhaupt nicht die Absicht des Films, und in dieser Hinsicht kann ich damit gut leben.
Sie selbst sind vor mehr als einem Jahrzehnt unter anderem durch den Dokumentarfilm „Shoah“ zu diesem Thema gekommen. Der Regisseur Claude Lanzmann gehört zu den vehementesten Verfechtern des so genannten Bilderverbots. „Wer Auschwitz ins Bild setzt“, hat er einmal gesagt, „macht sich der schlimmsten Übertretung schuldig.“ Heute unterstützen Sie einen Film, der den Zuschauer visuell ins Zentrum der Vernichtung führt. Wie lässt sich das miteinander vereinbaren?
Zum einen bin ich gegen Verbote dieser Art. Man muss das Thema künstlerisch, also fiktional bearbeiten dürfen. Ich halte von diesen Verboten überhaupt nichts, zumal das Thema die Menschen ja ohnehin beschäftigt und nach Ausdrucksformen verlangt. Ich werde oft gefragt, ob man das überhaupt fiktional darstellen kann. Und da muss ich schlicht und ergreifend antworten: Man kann! Die Ergebnisse sieht man ja im Kino. Ob man das darf, ist eine andere Frage. Entscheidend ist für mich die Frage, wie es dargestellt wurde.
Ich würde dieses Thema nur fiktional bearbeiten in der Form, dass ich alle meine Erlebnisse und Erfahrungen, die ich mit Sonderkommando-Überlebenden hatte, dass ich diese einprägenden Stimmungen und Bilder von Schauspielern verkörpern und umsetzen lassen würde. Man kann das nicht wie Lanzmann machen. Sein Film ist eine eindringliche Dokumentation, aber letztlich er hat diesen Menschen auch Gewalt angetan. Er hat die ehemaligen Häftlinge mit den gleichen Methoden interviewt, wie die ehemaligen SS-Angehörigen. Er hat einfach skrupellos mit der Kamera draufgehalten und die Menschen letztlich gegen ihren Willen gefilmt. Er hat versucht, durch gezielte Provokation an deren intimste Erfahrungen heranzukommen. Man sieht ihnen ja an, wie sie das alles noch einmal durchleben. Das geht mir einen Schritt zu weit.
Nelson hat mit seinem Spielfilm den Weg der Fiktionalisierung und Dramatisierung beschritten. Ist diese persönliche Annäherung an das vielleicht dunkelste Kapitel der Shoah der richtige Weg, um das Thema aus seiner Grauzone zu befreien?
Ich habe großen Respekt davor, dass der Regisseur das Thema umsetzen konnte, dass er es überhaupt umgesetzt hat. Das ist auch eine Art Wertschätzung für diese Arbeit, weil ich der Ansicht bin, dass sich der Regisseur, selbst wenn er sich historisch nicht sehr tiefgründig mit der Thematik auseinandergesetzt hat, doch auf seine Art und Weise intensiv damit beschäftigt hat. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schmerzhaft und anstrengend das ist.
Man muss sich außerdem klar machen, dass hier kein Steven Spielberg am Werk war. Spielberg war nicht dazu bereit, dieses Thema zu bearbeiten, obwohl er über das Geld, die Möglichkeiten und das Know-How verfügte. Im Archiv seiner Visual-History-Foundation befindet sich eine komplette Sammlung von Zeugenaussagen ehemaliger Sonderkommando-Häftlinge. Spielberg hat das Tabu nicht gebrochen, weil es sich eben schlecht verkauft. Auch keiner der anderen großen Regisseure, die in diesen Bereichen etwas gemacht haben, sahen sich in der Lage, das Thema zu bearbeiten.
Deshalb finde ich es so wichtig, dass „Die Grauzone“ in Deutschland gezeigt wird, gerade im Vergleich zu Filmen wie „Der Untergang“, „Babij Jar“ oder „Napola“. Man muss sich vorstellen: Sonderkommando Auschwitz, die Krematorien von Auschwitz, das war in der Tat die Endstation und das Zentrum der nationalsozialistischen Massenvernichtung. Und das Sonderkommando hat in diesem Zentrum gearbeitet. Es waren also die letzten und die einzigen Zeugen des systematischen Völkermords an den europäischen Juden in Auschwitz.
HINWEIS:
Die obenstehenden Fragen und Antworten wurden auszugsweise in folgendem Medium veröffentlicht:
„Es waren die letzten Zeugen des Völkermords“, sagt Andreas Kilian, in:
taz Nr. 7575 vom 27.1.2005, Seite 12, Interview von Bernhard André mit Andreas Kilian; siehe auch unter: http://www.taz.de/pt/2005/01/27/a0199.nf/text.ges,1.
Wir danken dem Autoren und der Redaktion für deren Zustimmung zur Veröffentlichung auf www.sonderkommando-studien.de und besonders Herrn André für die zur Verfügung Stellung der Langfassung des Interviews.