Der „Sonderkommando-Aufstand“ in Auschwitz-Birkenau:

 Neue Forschungsergebnisse und Erkenntnisse zu Vorgeschichte, Ablauf und Folgen des legendärsten Häftlings-Aufstands im KL Auschwitz-Birkenau, März 1943-November 1944

von Andreas Kilian

1. Im Zustand tiefster Verzweiflung, tragischer Hilflosigkeit und ungebrochenem Überlebensdrang (März 1943 – August 1944)

1.1 Historiografie

Bereits in den ersten Veröffentlichungen zum Thema Auschwitz wurde das Kapitel Widerstand mit besonderer Aufmerksamkeit behandelt. Inzwischen sind zahlreiche Monographien und Aufsätze über die Widerstandsbewegungen und –Aktionen im KL Auschwitz erschienen, die auch meist den Aufstand des jüdischen Sonderkommandos vom 7. Oktober 1944 berücksichtigten. Jedoch wurde die Existenz einer konspirativen jüdischen Widerstandsorganisation im Sonderkommando gewöhnlich relativiert oder sogar verleugnet. Die Ursprünge und Aktivitäten der Widerstandsgruppen im Sonderkommando blieben weitgehend im Verborgenen, was vermutlich mit der Tatsache zusammenhing, dass die Quellen zum Thema noch unerschlossen waren oder unberücksichtigt blieben sowie die letzten Augenzeugen totgeglaubt wurden. Außerdem erklärt sich der dürftige Quellenbestand durch die Natur konspirativer Arbeit.

Den ersten Versuch, das Thema umfassend zu analysieren und darzustellen unternahm der wohl angesehenste und bekannteste Historiker jüdischen Widerstands in Polen und Leiter des Jüdischen Historischen Instituts (ZIH) in Warschau, Ber Mark (1908-1966). Ferner bemühten sich die Auschwitz-Überlebenden und ehemaligen Untergrund-Aktivisten Israel Gutman (geb. 1923) und Erich Kulka (1911-1995) vor allem in den 50er und in den 80er Jahren, das Thema zu bearbeiten. Ihnen schloss sich der nicht-jüdische Auschwitz-Überlebende, Spanien-Kämpfer und als Leitungsmitglied der Internationalen Kampfgruppe Auschwitz bekannte Hermann Langbein (1912-1995) maßgeblich in den 70er Jahren an.

Im Rahmen seiner Forschungen unternahm Kulka, der inzwischen Ehrenvorsitzender des israelischen Auschwitz-Kommitees geworden war, erstmals Anfang der 80er Jahre den Versuch, eine systematische Befragung ehemaliger Sonderkommando-Häftlinge durchzuführen, wobei er 25 Überlebende ausfindig machen konnte. Bei einer Veranstaltung anlässlich des 40sten Jahrestages des Sonderkommando-Aufstandes in Jerusalem gelang es Kulka erstmals, sieben Sonderkommando-Überlebende zu versammeln. Der Sonderkommando-Aufstand wurde in Europa erstmals im Jahre 1984 einer breiten österreichischen und israelischen Öffentlichkeit über Rundfunk, Fernsehen und Zeitung bekannt gemacht. Zwei Jahre später begann der Yad Vashem-Mitarbeiter Gideon Greif (geb. 1951) seine Zusammenarbeit mit Kulka, um dessen Forschungsprojekt langfristig fortzusetzen. 1995 vereinbarten Greif, Kulka sowie Andreas Kilian (geb. 1974) die Zusammenarbeit an der ersten Gesamtdarstellung der Geschichte der jüdischen Sonderkommandos mit dem Schwerpunkt Aufstand. So konnten mit der systematischen Befragung überlebender Augenzeugen und der anschließenden wissenschaftlichen Auswertung die Vorgeschichte des Aufstands und die Gründe für dessen Scheitern erhellt werden.

Israel Gutman (1923-2013), Brzezinka, © A. Kilian 1994

   

Von rechts nach links: Erich Kulka, Gideon Greif, Andreas Kilian; 2. Foto ganz links: Otto Dov Kulka; Jerusalem, © A. Kilian 1995 (Dank an Otto Dov Kulka)

Dennoch blieb noch bis vor kurzem eine kritische Untersuchung, Einordnung, Bewertung und Darstellung der Ereignisse des Sonderkommando-Aufstands und dessen Hintergründe aus. Diese wurde erstmals mit der ersten Gesamtdarstellung der Sonderkommando-Geschichte, der vor zwei Jahren erschienenen Monografie „Zeugen aus der Todeszone“ (ab Januar 2005 auch als Taschenbuch bei dtv erhältlich: Friedler, Eric/ Siebert, Barbara/ Kilian, Andreas: Zeugen aus der Todeszone. Das jüdische Sonderkommando in Auschwitz, München 2005), vorgelegt.

Inzwischen wurde die Thematik in dem US-Spielfilm „Die Grauzone“ (USA 2002, deutscher Filmstart: 27.01.2005) von Tim Blake Nelson auch filmisch verarbeitet.


1.2 Die Orientierungsphase

„Wenn Ihr am Leben seid, so werdet Ihr nicht wenige Werke lesen, die aus Anlass dieses Sonderkommandos geschrieben sein werden. Aber ich bitte Euch, mich niemals schlecht zu beurteilen. Wenn es unter uns Gute und Schlechte gab, so war ich bestimmt nicht unter den Letzteren. Ohne Furcht vor Risiko und Gefahr tat ich in dieser Epoche alles, was in meiner Macht lag, um das Schicksal der Unglücklichen zu mildern, oder politisch das, wovon ich Euch über mein Schicksal nicht schreiben kann, so dass mein Gewissen rein ist, und ich am Vorabend meines Todes stolz darauf sein kann.“

Brief von Chaim Herman (1901-1944): „Birkenau, den 6.November 1944. An meine Lieben, meine Frau und meine Tochter“

Nach der Neugründung des Sonderkommandos am 9. Dezember 1942 soll die Aufnahme organisierter Widerstandsaktivitäten, die auf einen bewaffneten Häftlingsaufstand zielten, schließlich im Herbst 1943 eingeleitet worden sein. Doch schon einige Monate zuvor begannen einzelne kleine Gruppen im Sonderkommando Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen, eine Revolte auszulösen: der spontane Anschluss an eine Erhebung der Opfer, der Fluchtversuch, oder die Rache an den grausamen Peinigern wurden angedacht. Gedanken an eine geplante Beteiligung an der Verhinderung einer bevorstehenden Liquidierungsaktion, die Zerstörung der Vernichtungsanlagen und die Befreiung des Lagers entwickelten sich erst geraume Zeit später.

Die Inbetriebnahme der vier neuen Krematoriumsanlagen zwischen März und Juli 1943 leitete eine neue Epoche in der Geschichte des Sonderkommandos ein. Für die in der „Todesfabrik“ zwangsbeschäftigten Häftlinge bedeutete sie nicht nur eine Intensivierung des Arbeitsprozesses, sondern auch eine schrittweise Radikalisierung und Ausweitung der Vernichtung und Zuspitzung der Sonderkommando-Tragödie.

Bevor sich Widerstand ernsthaft organisieren konnte, mussten sich die Häftlinge im Mikrokosmos Todeszone und dem Alltag der Mordfabrik erst einmal orientiert haben. Dies war allerdings erst möglich, nachdem sie den ersten Zugangsschock überwunden sowie den Leichenschock und schließlich die Einarbeitungsphase überstanden hatten.

So konnten nach einiger Zeit die bestehenden Strukturen durch die Einweisung polnischer Juden, die bereits langjährige Erfahrung in kommunistischer Untergrundarbeit erworben hatten und am 4. März 1943 mit dem 49. Transport des RSHA aus Drancy eingeliefert wurden, verbessert werden. Unter ihnen befanden sich zwei der zukünftigen Anführer der Widerstandsbewegung im Sonderkommando, der 34–jährige Jankiel Handelsman und der 36–jährige Josef Warszawski alias Dorebus sowie der 41–jährige Chaim Herman. Zu dieser Gruppe stieß der 31–jährige ehemalige Spanien-Kämpfer und Untergrundaktivist Alter Feinsilber alias Jankowski, der am 19. Juli 1943 aus dem Krematoriumskommando im Stammlager zum Krematorium IV nach Birkenau verlegt wurde.

Erste Sonderkommando-Unterkunft in Birkenau, © A. Kilian 1992

Die politische Untergrundarbeit im Sonderkommando entstand schließlich durch die konspirative Vereinigung einzelner aktivistischer Zellen. Zuerst organisierten sich Nationalitätengruppen und innerhalb dieser Städtegruppen. Ota Kraus und Erich Kulka begründeten dies in ihrem 1946 veröffentlichtem Werk „die Todesfabrik“ mit der These, dass die einzige moralische Unterstützung der Juden die Zugehörigkeit zu einer Nationalität gewesen sei. Sie beantworteten in dieser übrigens ersten Veröffentlichung zum Thema Sonderkommando auch die Frage, warum die Häftlinge des Sonderkommandos nicht dazu in der Lage gewesen seien, sich geschlossen zu organisieren, damit, dass die nationalen sowie klassenmäßigen Unterschiede das Entstehen einer großen solidarischen Gemeinschaft unmöglich gemacht hätten. Alle Versuche, eine solche Gemeinschaft zu schaffen, seien immer wieder durch die andauernde Vernichtung der Häftlinge, durch den starken Zugang und durch die Überstellungen und Abgänge zerstört worden. Die extremen Existenzbedingungen sowie der alltägliche gnadenlose Überlebenskampf unter der Häftlingsselbstverwaltung im Konzentrationslager leisteten dazu einen weiteren und bedeutenden Beitrag. So war die Sterblichkeit im Sonderkommando noch bis zum Sommer 1943 relativ hoch. Die Zwangsarbeit an den provisorischen Vergasungsbunkern wurde von brutalem Terror der SS, Hunger, Durst und Krankheiten begleitet. Die Lebensbedingungen sollten sich erst im Mai 1944 soweit verbessern, dass sich selbst die alten Häftlinge körperlich erholen konnten. Der Handlungsspielraum an Widerstandsaktivitäten war daher besonders in der „Bunkerphase“ äußerst gering.

Der erste aktive politische Organisator im Sonderkommando soll der Kapo in Krematorium I, der etwa 32-jährige litauische Lehrer Jaacov Kaminsky, gewesen sein. Er stand mit der Leitung der Widerstandsgruppe im Stammlager Auschwitz in direkter Verbindung. Da er das Vertrauen der wachhabenden SS-Angehörigen genoss, gelang es ihm, unter den verschiedensten Vorwänden andere Lagerabschnitte zu besuchen. Mit Hilfe seiner Freundin Schmidt, die in der im Frauenlager befindlichen Bekleidungskammer als Kapo beschäftigt war, konnten die ersten Verbindungen mit Häftlingsfrauen aus der Pulverkammer der Weichsel-Union-Metallwerke hergestellt werden. Diese Verbindungen konnten vom Sonderkommando aus tatsächlich nur von einem bei der SS und den Mithäftlingen gleichermaßen als Autorität anerkannten Häftlingsfunktionär hergestellt werden. Dieser hatte schließlich über die SS auch Einfluss darauf, wieviel Bewegungsfreiheit dem einzelnen Häftling ermöglicht wurde.

So entstand ein enger privilegierter Kreis um Kaminski, der von den schweren Arbeiten ausgenommen wurde. Der gewöhnliche Häftling, der an den Gruben oder als Heizer an den Öfen arbeiten musste, war körperlich und geistig so erschöpft, dass er für die konspirative Planungsarbeit weder Zeit noch Energie übrighatte. Kaminski wurde zum Oberkapo ernannt und stand somit von Januar bis April 1944 in der Lagerhierarchie über den polnischen Funktionshäftlingen im Kommando.

Die Widerstandsaktivitäten innerhalb des isolierten Sonderkommandos wurden folglich von den im Dezember und Januar eingewiesenen „alten“, erfahrenen und einflussreichen jüdischen Häftlingen aus Polen begonnen, denen sich französische Häftlinge polnischer Herkunft anschlossen. Diese sowie geeignete Sprachkenntnisse waren vor allem für die Verbindung zur polnischen Widerstandsbewegung hilfreich, aber auch verwandtschaftliche Beziehungen konnten eine günstige Rolle spielen. So wurde etwa Noah Zabludowicz, der 24–jährige Cousin von Kapo Shlomo Kirszenbaum, vom Stammlager Auschwitz über die Bauleitung täglich nach Birkenau zur Arbeit kommandiert und konnte als Elektriker das Krematoriumsgelände betreten. Er war einer der Verbindungsleute zwischen dem Sonderkommando und der Kampfgruppe Auschwitz im Stammlager.

Der einzige Häftling unter den acht nicht-jüdischen polnischen Funktionären im Sonderkommando, der in die konspirative Arbeit miteinbezogen wurde, war der etwa 28-jährige Kapo von Krematorium III, Wladyslaw Tomiczek. Dieser hatte als ehemaliger Funktionär der Kommunistischen Partei Polens bereits eine politisch aktive Vergangenheit und stand daher unter Beobachtung der politischen Abteilung. Nachdem er 1941 in das Krematoriumskommando im Stammlager als Heizer eingewiesen wurde, gelang ihm kurze Zeit später der Wechsel in die Arbeitskommandos Mühle und Fleischerei, in denen er sich an konspirativen Aktivitäten beteiligt haben soll, woraufhin er 1943 verhaftet, wochenlang verhört und schließlich zum Tode verurteilt wurde. Kurz vor seiner Erschießung wurde er vom Leiter der Lagergestapo, SS-Unterscharführer Maximilian Grabner wiedererkannt und am 3. April 1943 ins Krematoriumskommando II überstellt. Als Kapo in Krematorium III konnte er später das Vertrauen seiner jüdischen Kameraden gewinnen, welche ihn in ihre konspirative Arbeit einweihten. Eine längere und nutzbringendere Zusammenarbeit wurde allerdings dadurch verhindert, dass Tomiczek vermutlich noch im August 1943 erneut verhaftet und anschließend ermordet wurde.


Altes Krematorium im Stammlager Auschwitz, © A. Kilian 2004

1.3 Spontane Hilfsaktion und gescheiterter Widerstand

Die empirischen Kenntnisse der Sonderkommando-Häftlinge von Extremsituationen bestimmte die Strategie ihrer Planungen: Gescheiterte Fluchtversuche oder Angriffe von zur Vergasung bestimmten Opfern auf SS-Angehörige waren nicht zu unterschätzende Erfahrungswerte für die traumatisierten Häftlinge. Sie zogen aus diesen eindrucksvollen Aktionen ihre Konsequenzen und richteten ihre Kampftaktik danach aus, die Schwachstellen ihrer Unterdrücker aufzudecken und das Reaktionsvermögen der SS-Posten und -führer zu studieren.

Überliefert wurden seit der Einberufung des Sonderkommandos vom 9. Dezember 1942 bis zur Einstellung der Vernichtungsaktionen am 25. November 1944 lediglich fünf Fälle dramatischen und spektakulären Widerstands der Opfer. Außergewöhnliche und extreme Ereignisse dieser Art haben sich im Gedächtnis der Überlebenden nachhaltig eingeprägt, sprachen sich im Kommando und zum Teil auch in anderen Lagerbereichen rasch herum oder wurden von den Chronisten im Sonderkommando dokumentiert und der Nachwelt als Kurzerzählung „aus dem Herzen der Hölle“ hinterlassen.

Gelände von Bunker 2 in Birkenau, © A. Kilian 1995

Der erste Fall spielte sich wahrscheinlich im Februar 1943 vor Bunker 2 ab: Ein junger unbekannter Mann, der aus dem Ghetto Bialystok deportiert wurde, verwundete einige SS-Posten mit Messern und wurde schließlich beim Versuch zu flüchten erschossen. Einen nachhaltigeren Eindruck auf die Entwicklung der Aufstandspläne und auf das Bewusstsein der Häftlinge hinterließ die von mehreren Zeugen beschriebene Tötung des Rapport- und SS-Oberscharführers Josef Schillinger sowie die Verwundung des SS-Unterscharführers Wilhelm Emmerich im Entkleidungsraum von Krematorium I am 23. Oktober 1943. Vermutlich handelte es sich bei der Attentäterin um eine junge Tänzerin namens Lola Horowitz oder Franziska Mann, die mit etwa 2500 weiteren polnischen Juden vom Hotel Polski in Warschau als Geisel und Austauschhäftling in das als „Sonderlager“ bezeichnete Familienlager nach Bergen-Belsen deportiert und von dort am 21. Oktober 1943 mit etwa 1750 Männern, Frauen und Kindern des Warschauer Transports in das KL Auschwitz geschickt wurde, wo sie alle vergast werden sollten. Man hatte diesen Menschen ursprünglich eine Reise in ein Lager bei Dresden vorgetäuscht, so dass es bereits nach der Ankunft einen ersten Aufruhr auf der Selektionsrampe gab. Danach beeilte sich die SS, sie etappenweise mit LKW auf das Krematoriumsgelände zu verbringen und nach Frauen und Männern auf die Krematorien I und II zu separieren. Nachdem die Schüsse der Attentäterin gefallen waren, begannen weitere Frauen mit Flaschen und anderen Gegenständen nach den SS-Posten zu werfen. Dies hatte ein Massaker an den noch nicht in der Gaskammer befindlichen Opfern zur Folge und führte den anwesenden Sonderkommando-Häftlingen, die in dieser Situation selbst nur knapp dem Tod entgingen, vor Augen, dass bestenfalls auch die Täter Verluste hinnehmen mussten, aber das von den „Endlösern“ beschlossene Schicksal der Opfer, nämlich ihre restlose Ermordung, nicht verhindert werden konnte. Drei weitere Fälle fanden während der sogenannten Ungarn-Aktion am 25.und 28. Mai 1944, sowie im Juni 1944 statt und betrafen Fluchtversuche auf dem Gelände von Krematorium IV sowie den Ausbruch ungarischer Juden aus einer unzureichend verschlossenen Räumungstür einer Gaskammer in Krematorium IV.

Andere Fälle vom Widerstand der Opfer gingen lediglich deshalb nicht in die Geschichtsschreibung ein, weil sie frühzeitig verhindert wurden. So geschah es mehrfach, dass aufgebrachte und kampfentschlossene Opfer von Schicksalsgenossen aus den eigenen Reihen zurückgehalten und vorsätzlich getäuscht wurden. Die Verräter versuchten mit ihrem Verhalten zu erreichen, sich selbst und ihre Familie von der Ermordung auszunehmen. Sie wurden jedoch ausnahmslos liquidiert. Der bekannteste Fall betraf vermutlich Anfang September 1943 einen Transport aus Przemysl, als einige Jugendliche und Angehörige der Ghettopolizei ihre Peiniger mit Messern angreifen wollten. Am Beispiel dieser vorsätzlichen Vereitelungen von Revolten wurden die Sonderkommando-Häftlinge somit letztlich auch mit allen Formen menschlicher Schwächen konfrontiert und in ihrem Denken und Handeln verunsichert und beeinflusst.

Diese Ereignisse belehrten das Sonderkommando, sich unter keinen Umständen an individuellen und verzweifelten Aktionen des letzten Augenblicks zu beteiligen. Die quälende und brennende Hilflosigkeit führte zu tiefer Verzweiflung und unsäglichem Leid unter denjenigen Häftlingen, die Menschenleben retten wollten, aber dazu keineswegs in der Lage waren. Die ursprüngliche Bereitschaft zu spontanen Hilfsaktionen wurde dadurch schließlich gebrochen, da die Aussicht auf einen erfolgreichen Ausgang dieser Verzweiflungstaten zweifelhaft war. Auch wurde der Gedanke, die Opfer nach ihrer geheimen Aufklärung über das ihnen bevorstehende Schicksal in die eigenen Aufstandspläne einzubeziehen, bald verworfen. Die Transporte waren Unsicherheitsfaktoren, die zielsicheres und schlagkräftiges Vorgehen verhindert hätten. Es darf hierbei nicht außer Acht gelassen werden, dass die Vergasungsopfer in der Mehrzahl aus nach der Deportation und Selektion innerlich aufgewühlten und stark besorgten sowie verängstigten Alten, Kranken, Schwachen, Frauen und Kindern bestanden, die letztlich mit ihrem Eintritt in die Todeszone nicht mehr zu retten waren. Das Tor zum Krematoriumshof bedeutete bereits die Schwelle zum Tod. Eine anonyme Masse von Menschen, die von Interessengegensätzen, Hilfs- und Orientierungslosigkeit geprägt war, konnte ein vorbereiteter Aufstandsplan nicht überzeugen oder mitreißen, er konnte nur zur Panik und zu unkoordinierten, nicht näher einschätzbaren Reaktionen führen. Die Wehrhaftigkeit der vor der Vergasung Stehenden war in der Regel äußerst gering.

Ein weiterer wichtiger Aspekt war der Widerstandswille. Selbst verhaftete Widerstandskämpfer, die kurz vor ihrem Tod standen, verhielten sich, den Zeugnissen Überlebender zufolge, passiv, indifferent und apathisch. Sie erblickten keinen weiteren Sinn in einem Kampf. Die Machtlosigkeit betäubte sie. Der letzte Gang erfahrener Partisanen, die zum Teil jahrelang mit hoher und ungebrochener Moral den bewaffneten Kampf führten, demotivierte die Widerstands-Bestrebungen der Sonderkommando-Häftlinge. Wenn in einer Gruppe von bis zu 150 Mann Partisanen der Reihe nach zur Erschießung geführt wurden und sich in vollem Bewusstsein des Bevorstehenden dennoch nicht zur Wehr setzten, was konnte man dann von den Häftlingen erwarten, die täglich Zeugen dieser unausweichlichen Vernichtung wurden und die zitternden Opfer noch während der Liquidierung festhalten mussten?

Altes Krematorium im Stammlager Auschwitz, © A. Kilian 2004

Dieses Bild einer indifferenten Masse prägte das Verhalten der Sonderkommando-Häftlinge entscheidend und doch lähmte es sie nicht dauerhaft. Die erfahrenen und militärisch geschulten Untergrundkämpfer im Sonderkommando waren sich der Todeskandidaten-Psychologie bewusst und waren daher nicht bereit, das Risiko einzugehen, eine unkontrollierbare und hoffnungslose Masse in ihre Planungen miteinzubeziehen.

Schließlich ging man in den Überlegungen dazu über, konkrete Fluchtpläne zu entwickeln, die einen Massenausbruch aus der Todeszone im Alleingang ermöglichen sollten. Zu diesem Zweck mussten Kontakte über andere Widerstandsgruppen im Lager zu Partisanen in der Umgebung geknüpft werden, um eine ausreichende Unterstützung, Versorgung und versteckte Unterbringung nach dem Ausbruch zu gewährleisten. Aber auch an dieser Stelle muss erwähnt werden, dass stets nur ein Bruchteil der Häftlinge zur Flucht bereit war, denn schlussendlich handelte es sich dabei um ein selbstmörderisches Unternehmen, das dem individuellen Selbsterhaltungstrieb widersprach. Vermutlich noch Ende 1943 wurden in diesem Zusammenhang mit zahlreichen lagerinternen Widerstandsgruppen konspirative Verbindungen aufgenommen sowie Vertrauenspersonen gesucht und angeworben. Mit diesen ersten praktischen und umfassenden Tätigkeiten einer organisierten Widerstandsgruppe im Sonderkommando wurde die Grundlage dafür geschaffen, einen umfassenden und radikalen Aufstand in Erwägung zu ziehen, welcher wiederum mit den allgemeinen Aufstandsplänen der polnischen Widerstandsbewegungen einher ging.

Durch Beziehungen zu konspirativen Gruppen in anderen Lagerabschnitten wurden zudem Möglichkeiten geschaffen, über Verbindungskanäle Stichwaffen sowie Spreng- und Schusswaffen-Bestandteile ins Sonderkommando zu schmuggeln. Die Arbeitskommandos Zerlegebetriebe, Häftlingsküche und Effektenlager sowie einzelne Zivilarbeiter waren Quellen dieser Versorgung. Für den Transport einzelner Materialien sorgte unter anderem ein Häftling aus dem Kommando Schlosserei, der mit einem der Chronisten im Sonderkommando befreundete 23-jährige Godel Silber. Seine gleichaltrige Freundin Roza Robota, die in der Bekleidungskammer beschäftigt war, erhielt wiederum das Schwarzpulver von verschiedenen Kurieren aus den Union-Werken und übergab es, so wie auch einige andere Häftlinge, Silber zur Weitergabe an das Sonderkommando. Als bedeutender Kurier und Informant fungierte auch der als Elektriker eingesetzte 33-jährige Häftling Henryk Porebski, der wichtige Informationen von seiner in der Aufnahmeabteilung der Lagergestapo beschäftigten 25-jährigen Freundin Zippy Spitzer erhielt.

Godel Silber (1921-2006), Toronto, © A. Kilian 1998


1.4  Fluchtpläne und Repressalien

Noch vor dem Gedanken an einen bewaffneten und zerstörerischen Aufstand war ein allgemeiner Fluchtplan in Erwägung gezogen worden, der letztlich aber nur in individuellen Fluchtversuchen Einzelner mündete und dem gegenwärtigen Forschungsstand zufolge ausnahmslos scheiterte. Die Betreffenden waren von einer erfolgreichen Massenflucht nicht überzeugt, hatten sie doch den Ausgang des Plans ihrer Vorgänger von anderen Häftlingen berichtet bekommen, der die Liquidation des gesamten Kommandos am 9. Dezember 1942 zur Folge hatte. Einzelne versuchten schließlich auf eigene Faust durchzukommen um vor einer ungläubigen und nicht hilfsbereiten Weltöffentlichkeit aus dem Zentrum der Massenvernichtung ein authentisches Bild und glaubhaftes Zeugnis ablegen zu können. Doch von den misslungenen Ergebnissen dieser Fluchtversuche konnten sich die anderen Häftlinge in den meisten Fällen dadurch überzeugen, dass die Leichen der ergriffenen Kameraden zur Abschreckung im Männerlager zur Schau ausgestellt wurden.

So beteiligte sich Anfang Januar 1944 der vermutlich 35-jährige ehemalige Angehörige der französischen Fremdenlegion und Aktivist in einer französischen Widerstandsorganisation, Daniel Obstbaum, der Vorarbeiter in Krematorium III war, gemeinsam mit dem Sonderkommando-Häftling Majorczyk und zwei französischen Juden polnischer Herkunft an einer der bekanntesten Fluchtaktionen in der Lagergeschichte. Als Funktionär im Sonderkommando gelang es ihm, Wertsachen zu organisieren, mit denen SS-Angehörige bestochen werden sollten. Die Häftlinge wurden jedoch dabei betrogen und nach der Abgabe ihrer Wertsachen hinterhältig erschossen.

Da Obstbaum in der Wahrnehmung der SS ein Vertrauenshäftling war und das Sonderkommando durch den Zugang zu Wertsachen ohnehin ein sicherheitspolitischer Risikofaktor war, wurde der Fall zu einem Skandal für die SS, der noch schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen sollte. Die politische Abteilung, die das Sonderkommando ohnehin unter ihre direkte Aufsicht gestellt hatte, beraumte daraufhin zum erstbesten Zeitpunkt eine Selektion an. Die Teilliquidation im Sonderkommando fand schließlich am 24. Februar 1944 statt: 200 Häftlinge wurden zu einem Überstellungstransport in das KL Majdanek in Lublin ausgesondert und dort nach ihrer Ankunft ermordet. Gewissheit über diese Liquidation erlangte das Sonderkommando erst zwei Monate später, als mit einem Transport aus Majdanek das dort aus 19 sowjetischen Kriegsgefangenen und dem oberschlesischen Kapo Karl Konvoent bestehende aufgelöste Krematoriumskommando eintraf. Deren Ankunft und Berichte bestätigten die Vermutung der Sonderkommando-Häftlinge, dass ihre Kameraden Ende Februar 1944 in Lublin ermordet worden seien, da die Sowjets Kleidungsstücke der auf Transport geschickten Kameraden trugen und mit den Opfern kurz vor deren Ermordung noch gesprochen hatten. Der Neuzugang führte unter den alten Häftlingen zu der Befürchtung, von den sowjetischen Gefangenen in naher Zukunft abgelöst zu werden, doch sollte sich die spätere Zusammenarbeit noch sowohl als nützlich wie auch problematisch erweisen.

Diese nicht-jüdischen Soldaten (anderen Quellen zufolge sollen sich unter ihnen drei Juden befunden haben) wurden aufgrund ihrer militärischen Ausbildung und wegen ihres Temperaments von der SS gefürchtet und daher zur besonderen Kontrolle und Verhinderung konspirativer Aktivitäten separiert und auf drei Krematoriumsanlagen verteilt. Anfangs wurden sie in den freien Prominentenblock Bl. 2 des Männerlagers B II d untergebracht, von wo sie mit ihren Landsleuten aus anderen Kommandos Kontakte knüpfen konnten, so auch zu Sprengstoffexperten und Feuerwerkern wie dem Sowjetoffizier Borodin, die später für den Bau der selbstgefertigten Handgranaten verantwortlich wurden. Bis auf die sechs Vornamen Gregor, Iwan, Ljubaska, Luka, Nikolai und Viktor konnte jedoch nur der Familienname Malinkow überliefert werden.


1.5  Geplante Hilfsaktion und Desillusionierung: Die Tragödie des „Theresienstädter Familienlagers“

Nach dem Besuch des Leiters des Judenreferats IV B4 im RSHA, SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, am 29. Februar 1944 in Auschwitz wurde das Theresienstädter Familienlager im Lagerbauabschnitt B IIb auf dessen Anweisung am 08. März 1944 liquidiert. Häftlinge des Sonderkommandos, welche von der beabsichtigten Liquidierung bereits einige Tage zuvor Kenntnis erlangten, versuchten Kontaktleute innerhalb des Familienlagers vor der bevorstehenden Aktion zu warnen und einen Aufstand der betroffenen Todeskandidaten zu erwirken. Der Obercapo im Sonderkommando, Jaacov Kaminski, zog sogar in Erwägung, sich im günstigsten Fall mit seinem Kommando einem Aufstand anzuschließen und das Überraschungsmoment, sowie die Kampfhandlungen auszunutzen, um einen Massenfluchtversuch zu wagen.

Die Schlosserei im Birkenauer Männerlager B IId wurde unter der Leitung von Erich Kulka und Ota Kraus zum Verbindungszentrum zahlreicher Häftlingsgruppen der internationalen Lagerwiderstandsbewegung. Verbindungsmann vom Sonderkommando war der 22–jährige Landsmann Filip Müller. Von der Schlosserei aus sollte der konspirative Informationsdienst die notwendigen Vorbereitungen in Zusammenarbeit mit der Widerstandsgruppe im Familienlager treffen. Doch die Mission scheiterte, als alle Warnungsversuche und Aufstandsbestrebungen sich als vergeblich herausstellten. Der Selbstmord des 28-jährigen prominenten und beliebten Lagerältesten im Familienlager, Fredy Hirsch, der den improvisierten Aufstand auslösen und anführen sollte und die unerwartet widerstandslose Vernichtung von 3.800 Männern, Frauen und Kindern, die bis zuletzt von der SS erfolgreich getäuscht wurden und nicht wirklich an ihre Vernichtung glauben wollten, waren die Folge.

Ota Kraus, Arnoszt Rosin und Erich Kulka vor der Schlosserei, 1945, © Archiv Kilian (Dank an Erich Kulka)

Die Zurückhaltung des Sonderkommandos in diesem Fall beruhte aber auch auf einem grundlegenden Missverständnis. Dieses lag wohl darin begründet, dass sowohl das Sonderkommando als auch die Opfer gleichermaßen nicht dazu in der Lage waren, den ersten Schritt zu wagen, dafür aber eine illusorische Erwartungshaltung an die jeweils andere Partei hatten und folglich vergeblich auf ein Signal warteten. Die erste große Gelegenheit für eine potentielle Widerstandsaktion des Sonderkommandos war somit verloren. Dies führte, dem 35-jährigen Chronisten und Augenzeugen Salmen Gradowski zufolge, zu einer starken Desillusionierung unter den Sonderkommando-Häftlingen.

Der Misserfolg und tragische Ausgang der Planungen lag sowohl darin begründet, dass sich die Widerstandsorganisation des Familienlagers bis zu diesem Ereignis noch nicht mit den konkreten Vorbereitungen auf einen bewaffneten Aufstand auseinandergesetzt hatte, als auch in der Tatsache, dass die Privilegien und der Sonderstatus des Familienlagers zum Hindernis für seine Bewohner wurden, ihre eigene Vernichtung in Erwägung zu ziehen, so wie die Privilegien des Sonderkommandos den aktiven Widerstandswillen der Sonderkommando-Häftlinge schwächten und lähmten.

Das Ereignis der Selektion vom 24. Februar 1944, die erschütternde Hilflosigkeit angesichts der Liquidation des „Theresienstädter Familienlagers“ am 08. März 1944 und das Scheitern der unvorbereiteten Widerstandsaktion sowie die Mitte April 1944 gewonnene Gewissheit über das Schicksal des halben im Februar 1944 deportierten Sonderkommandos, waren die ausschlaggebenden Gründe für die Planung eines bis ins Detail durchorganisierten und strukturierten bewaffneten Aufstands, der eine Aussicht auf Erfolg bieten sollte. Sie stärkte die Entschlossenheit der Häftlinge zur großen Tat.

Das Ausbleiben großer Deportationswellen und die Tatsache, dass die SS bereits mit der Liquidierung von Häftlingslagerabschnitten begann, führte zu der berechtigten Befürchtung, dass das Sonderkommando mit Beendigung der Vernichtungsaktionen restlos beseitigt würde. Nur außerhalb der Phasen pausenloser Mordaktionen hatten die Häftlinge zudem die Möglichkeit sich zu organisieren und effektive Vorbereitungen zu treffen. Solange Vernichtungstransporte im Lager eintrafen, war das Sonderkommando in den Augen der SS erhaltenswert, die Einstellung der Deportationen würde ihr Ende besiegeln. Mit einem gut vorbereiteten Aufstandsplan beabsichtigte man schließlich einem passiv hingenommenen Ende durch Selektion zuvorzukommen und im Kampf die Selbstachtung zu bewahren.


1.6  Zerstörung und Befreiung: Der erste Aufstandstermin

Die zahlreichen Transporte aus Ungarn und aus den von Ungarn annektierten Gebieten führten im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau im Mai 1944 zu einer neuen und bisher nicht gekannten Dimension der Vernichtung. Eine Aufstockung des Sonderkommandos war erforderlich. Letztlich wurde es mehr als vervierfacht, was wiederrum aus politischen und organisatorischen Gründen die Durchführung von Aufstandsplänen erschwerte. Die Neuzugänge waren in der Regel zu paralysiert und orientierungslos als dass sie kompetente und ernstzunehmende Mitglieder in militärischen Planungskreisen hätten sein können.

Im Rahmen der Lagersicherheitspolitik und aus Organisationsgründen, vor allem aber im Hinblick auf die permanent benötigte Verfügbarkeit der Sonderkommando-Häftlinge innerhalb der Todeszone, wurde nahezu das gesamte Sonderkommando von den Isolierblöcken Bl. 11 und 13 innerhalb des Männerlagers B II d in die drei Sicherheitszonen der vier Krematorien überstellt und auf den Dachböden der Krematorien I und II sowie im Entkleidungsraum des außer Betrieb stehenden Krematoriums III untergebracht.

Das bis zu diesem Zeitpunkt im Häftlingsblock des Männerlagers gesammelte Material an Waffen musste nun in einem neuen sicheren Versteck in den Häftlingsunterkünften innerhalb der Krematoriumsgebäude untergebracht werden, da der ungehinderte Zugang im Notfall gewährleistet sein musste. Diese Funktion konnte nur ein Häftling aus dem inneren Kreis der Häftlingsunterkunftsverwaltung übernehmen, der vor Ort das Versteck überwachen konnte und anderen Häftlingen die konspirative Arbeit im Block ermöglichen würde. Diese Aufgabe übernahm in Block 13 wie auch anschließend in Krematorium III die ganze Zeit über der Stubendienst Shlomo Dragon.

Mit der Durchführung der „Ungarn-Aktion“ war die Schonfrist des Sonderkommandos vorläufig garantiert, andererseits gelangte das Sonderkommando physisch und psychisch an die Grenzen der ohnehin stark strapazierten Belastbarkeit. Die Durchführung eines Aufstands war, den Zeugnissen der Sonderkommando-Häftlinge zufolge, daher nun auch verstärkt mit dem Gedanken verbunden, dem Massenmorden und folglich auch dem eigenen Leiden endlich ein Ende zu bereiten, den Vernichtungsbetrieb aufzuhalten, die Vernichtungsanlagen zu zerstören und somit möglicherweise zehntausende Menschen vor dem Tod zu bewahren. Der eigene Tod wurde in diesen Planungen mit einkalkuliert. Die Todgeweihten hatten nunmehr weniger die eigene Rettung im Sinn, denn die war aufgrund der Kräfteverhältnisse im größten nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager auf dem Gebiet des Großdeutschen Reiches so gut wie aussichtslos.

Sonderkommando-Block 13 in Lagerabschnitt B II d, © A. Kilian 1994

Erhärtet wird diese Annahme durch den Bericht des Chefs des WVHA, SS-Obergruppenführer Oswald Pohl, an den Reichsführer-SS Heinrich Himmler vom 05. April 1944, in dem er die Sicherungsmaßnahmen im KL Auschwitz analysierte und auf den Ernstfall eines Aufstands einging. Aus dem Bericht geht hervor, dass man im Fall eines Aufstands oder Massenausbruchs mit etwa 34.000 beteiligten Häftlingen aus Auschwitz und Birkenau rechnen könne. Die 18.000 kranken oder invaliden Häftlinge der beiden Lager sowie die 15.000 Häftlinge der Nebenlager würden nicht als potentielle Gegner miteingerechnet. Für Auschwitz und Birkenau stünden 2.300 SS-Angehörige, für die Außenlager weitere 650 SS-Männer zur Verfügung. Insgesamt würde die Region Auschwitz bis Mitte April 1944 von 4.080 Mann und einer unbestimmten Anzahl von Wehrmachtsangehörigen abgesichert.

Doch führte das traumatische Erleben der „Ungarn-Aktion“ im Sonderkommando zu der verbreiteten Überzeugung und dem Bedürfnis, sich definitiv mit Gewalt zur Wehr zu setzen. So steuerten die Führer der Untergrundbewegung innerhalb des Sonderkommandos in den folgenden Wochen systematisch darauf zu, einen möglichst optimalen Aufstands-Zeitpunkt zu ermitteln.

Auf den folgenden Aktionsablauf hatte man sich bald geeinigt: Die konkret überlieferten Aufstandspläne sahen vor, zuerst um vier Uhr nachmittags die 10 bewaffneten SS-Posten auf dem Gelände der Krematorien zu töten und sich ihrer Waffen zu bemächtigen um damit anschließend eine Stunde später die 20 Mann starke und mit automatischen Waffen ausgestattete Wachablösung der Postenkette auf dem Weg zu den Wachtürmen zu überfallen und zu beseitigen sowie danach mit den erbeuteten Waffen die ebenso zahlreiche Postenkette selbst zu liquidieren.

Der betreffende Zeitpunkt wurde ferner gewählt, weil um diese Uhrzeit gewöhnlich die Arbeitsaußenkommandos in das Lager einrückten und die anderen Häftlinge somit die Möglichkeit gehabt hätten, sich an einer Aktion zu beteiligen, ihre geringe Begleitbewachung zu überwältigen und zu entwaffnen. Außerdem hätten nach einer Massenflucht um diese Uhrzeit die Suchaktionen der SS mit Einbruch der Dunkelheit einige Stunden später aus Sicherheitsgründen abgebrochen werden müssen und vermutlich die Chancen der Häftlinge erhöht, zu den in der Umgebung operierenden Partisanen vorzudringen um von diesen Unterstützung zu erfahren. Parallel zur Liquidierung der Postenkette sollten die in den anderen Lagerbauabschnitten befindlichen Verbündeten, vor allem aber die im Effektenlager und in der Zentralsauna aktiven Widerstandskämpfer  ihre Bewacher ausschalten und sich mit den Sonderkommando-Häftlingen zusammenschließen, um im gesamten Lager die SS-Angehörigen außer Gefecht zu setzen, die Stacheldrähte der Lagerbauabschnitte zu durchtrennen und weitere Fluchten zu ermöglichen, die Unterkunfts- und Magazinbaracken in Brand zu setzten sowie die Krematorien und die Zentralsauna in die Luft zu sprengen.

Eingangsbereich des Krematoriumsgeländes I(II) in Birkenau, © A. Kilian 2017

Als allgemeines Startsignal für den Kampf in anderen Lagerbereichen wurde mit allen Gruppen eine gewaltige Explosion in der Sauna abgesprochen. Neben der Zerstörung der Vernichtungsanlagen sollte also folglich nicht nur das Leben potentieller todgeweihter Neuzugänge, sondern auch das Leben der Häftlinge durch Befreiung gerettet werden und ein allgemeines Chaos ausgelöst werden. Dieses hätte möglicherweise auch einer kleinen Anzahl von „Geheimnisträgern“ die Flucht aus der Mordfabrik ermöglichen können, damit sie als einzige Augenzeugen aus dem Innern der Todesmaschinerie vom Massenmord in Auschwitz-Birkenau berichten würden. Diese Wunschvorstellungen hielten die Sonderkommando-Häftlinge mitunter am Leben und ließen sie das tägliche Leid „inmitten des grauenvollen Verbrechens“ ertragen und durchhalten.

Nach der Einstellung der Massentransporte aus den Gebieten Ungarns vom 11. Juli 1944 wurde der erste Aufstandstermin auf Freitag, den 28. Juli 1944 festgelegt. Bis dahin kam es noch am 19., 23. und 27. Juli 1944 zu vier Vergasungsaktionen, an fünf weiteren Tagen wurden ferner Gruppen bis zu hundert Personen im Krematorium erschossen. Während also einerseits aufgrund der geringen Beschäftigung im Vernichtungsbetrieb die Gelegenheit zur Aufstands-Planung günstig war, trat andererseits konsequenterweise die berechtigte Befürchtung der eigenen Ermordung in den Vordergrund. Die 874-köpfige Sonderkommando-Belegschaft war nun zu zahlreich im Verhältnis zur anfallenden Arbeit. Man befürchtete zu Recht, dass das volle Kommando von der SS-Lagerführung nicht weiter erhalten werden würde und eine Mordaktion bevorstand, da die Häftlinge als „Geheimnisträger“ nicht in andere Arbeitskommandos überstellbar waren.

Nach Bekanntwerdung des Befehls der SS-Lagerverwaltung vom 15. Juni 1944, die arischen Häftlinge in das Reichsinnere zu überstellen, sowie nach der Liquidierung des Familienlagers, den zahlreichen Selektionen innerhalb der einzelnen Lagerabschnitte und dem vorläufigen Einstellen der zur Vernichtung bestimmten Massendeportationen, deutete alles auf eine „Liquidierung“ des Lagers und zuvor auf die schrittweise Beseitigung der Sklaven der Todesfabrik hin. Das Voranrücken der Sowjetarmee machte die Einstellung des Vernichtungsbetriebs absehbar. Mit der Zerstörung der Todesfabrik würde auch das Sonderkommando, das untrennbare Inventar der Todesfabrik, untergehen.

Die Terminierung des Aufstands auf den 28. Juli 1944 ergab sich wahrscheinlich kurzfristig und nach dem Bekanntwerden der Befreiung des KL Majdanek vom 24. Juli 1944. Das Sonderkommando setzte sich damit von den Plänen und Anordnungen der internationalen Widerstandsbewegung im Lager ab, welche weiterhin an ihrer Hinhaltetaktik festhielt und einen günstigeren Frontverlauf abwarten wollte. Die Führung der Widerstandsgruppe im Sonderkommando ignorierte alle Einwände mit der Begründung, dass sie unter einer akuten Todesgefahr stünde. Sie erkannte gleichzeitig die realistische Möglichkeit zu einem erfolgversprechenden Aufstand und wollte somit nicht länger abwarten. Nachdem der eingeweihte Kreis und die Führungskräfte alle notwendigen Vorbereitungen getroffen hatten, wurden weitere vertrauenswürdige Sonderkommando-Häftlinge eingeweiht. Es ist allerdings zu bezweifeln, dass alle Sonderkommando-Häftlinge oder auch nur die Mehrheit von ihnen eingeweiht gewesen war. Vermutlich blieb weiterhin nur eine Minderheit von schätzungsweise einigen Dutzend Männern informiert, die die Gruppen anführen und kurz vor dem Ausbruch der Aktion  instruieren sollten. Da die Interessengegensätze auch in einem so isolierten und schicksalsvereinigten Arbeitskommando wie dem des Sonderkommandos erheblich waren, besonders angesichts der psychischen und physischen Belastung, die unter den Häftlingen des Sonderkommandos herrschte, war die begründete Gefahr des Verrats und Boykotts erheblich. Die Informationspolitik der Untergrundführer musste sich vorläufig auf wenige zuverlässige Kameraden begrenzen, und erst einen Tag vor dem festgesetzten Termin konnten alle Aufstandswilligen und –fähigen eingeweiht und ausgerüstet werden.

Da der letzte Todeszonen-Zugang vom 27. Juli einen Evakuierungstransport aus dem Zwangsarbeiterlager Pustkow mit vermutlich 1237 ausgesonderten Menschen betraf, musste in der Wahrnehmung des Sonderkommandos davon ausgegangen werden, dass in Zukunft noch andere Arbeitslager liquidiert würden und der Arbeitseinsatz in den Krematorien wieder erhöht werden würde, was wiederum die Aufstandsmöglichkeiten eingeschränkt hätte. Da die Vernichtungstransporte in den Krematorien vor ihrer Ankunft stets angekündigt werden mussten, um deren Betrieb vorzubereiten, legten die Führer der Widerstandsbewegung im Sonderkommando nach dem Ausbleiben der Voranmeldung noch am 27. Juli den Termin definitiv auf neun Uhr abends – also eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit – des folgenden Tages fest. Der letzte Verbindungsmann bestätigte den Termin am 28. Juli um zwei Uhr nachmittags.

Neue Selektionsrampe in Birkenau, © A. Kilian 1994

Doch die am frühen Nachmittag erfolgte überraschende Ankunft eines Evakuierungs-Transports aus dem KL Majdanek, welcher aus 837 Häftlingen bestand und von einer ungewöhnlich starken und aus SS-Posten und Wehrmachtsangehörigen bestehenden Transportbegleitung eskortiert wurde, machte die gewissenhaften Aufstandsplanungen der Sonderkommando-Häftlinge unmittelbar vor ihrer Realisierung zunichte. Dadurch dass es sich bei dem Transport um einen der Krematoriumsverwaltung unangekündigten reinen Zugangstransport handelte, erklärt es sich, warum das Sonderkommando von dessen Ankunft nicht vorab informiert werden konnte und die Aktion notgedrungen im letzten Moment abgesagt werden musste. Da die Aufstandspläne sich auf die in der benachbarten Zentralsauna und im Effektenlager beschäftigten Häftlinge erstreckten und der Transport in die als „Zone“ bezeichnete Sauna geleitet wurde, war die Gefahr eines Massakers an den vorläufig zum Leben bestimmten Menschen zu groß.

Die todesmutigen Sonderkommando-Häftlinge, die bereits völlig desillusioniert an ihre eigene Rettung nicht mehr glaubten, nahmen noch im letzten Augenblick Rücksicht auf die ahnungslosen Neuankömmlinge. Die Aktion musste aber auch deshalb abgesagt werden, weil man mit der überraschend neuen Situation völlig überfordert war, doch die Pläne waren nun bereits einem größeren Kreis der Häftlinge offenbart worden und in Gefahr verraten zu werden. Die Aufregung und Enttäuschung aller Eingeweihten war extrem, die Nerven bis zum Äußersten angespannt. Der Chronist und Leitungsmitglied der Widerstandsorganisation im Sonderkommando, der 26-jährige Salmen Lewenthal, beschrieb die Stimmung in diesen tragischen Momenten sehr eindringlich und die Vorahnung der Männer treffend: „Um die Wahrheit zu bekennen, so haben unsere Leute einfach geweint, da sie wussten, dass man eine solche Aktion nicht aufschieben darf, weil sie sonst nicht so ausgeführt wird, wie man sie geplant hatte.“





2. Endstation Hoffnungslosigkeit: Ein Akt des letzten Augenblicks

(August 1944-Oktober 1944)

 

„Wir, das Sonderkommando, wollten schon seit langem unserer schrecklichen Arbeit ein Ende machen, zu der wir unter der Drohung des Todes gezwungen werden. Wir wollten eine große Sache vollbringen. Aber die Menschen aus dem Lager, ein Teil der Juden, Russen und Polen, hielten uns mit aller Kraft davon zurück und zwangen uns, den Termin des Aufstandes hinauszuschieben.“ Brief von Salmen Gradowski (1909-1944), Auschwitz-Birkenau, den 6. September 1944

2.1 Der entscheidende Rückschlag

Die kurzfristige Absage eines Aufstands am 28.07.1944 ließ die Führer der Widerstandsbewegung im Sonderkommando befürchten, wegen der Einweihung zahlreicher Kameraden letztlich doch noch verraten zu werden. Die brisante Situation drängte die Verantwortlichen daher, die Pläne so schnell wie möglich in die Tat umzusetzen, was jedoch schließlich dadurch vereitelt wurde, dass die zentrale Figur der Widerstandsbewegung im Sonderkommando in den ersten Stunden des 3. August ermordet wurde: Nach schweren Misshandlungen wurde Kapo Kaminski vom gefürchteten Leiter aller Krematorien, SS-Oberscharführer Otto Moll, vor den Verbrennungsgruben bei Krematorium IV erschossen. Kaminski wurde offensichtlich von dem 24-jährigen polnischen Kapo Morawa bei der SS angezeigt, nachdem er einige Tage zuvor sondieren wollte, wie sich die fünf nicht-jüdischen polnischen Funktions-Häftlinge des Sonderkommandos, darunter Waclaw Lipka, im Falle eines Aufstands verhalten würden.

Morawa hatte sowohl gute Verbindungen zur Lagergestapo als auch eine Funktion in der polnischen Lagerwiderstandsbewegung. Es wäre durchaus denkbar, dass er im Auftrag der Internationalen Widerstandsleitung oder einer bestimmten Widerstandsgruppe gehandelt hat. Auch der berüchtigte 33-jährige Blockälteste Serge Szawinski war Mitglied im Allgemeinen Lagerwiderstand und setzte alles daran, die radikalen Kräfte im Sonderkommando unter Kontrolle zu halten sowie provokative Aktionen zu verhindern. Szawinski und Morawa gehörten in der Sonderkommando-Hierarchie zu den mächtigsten Funktionären und hatten daher einen großen Einfluss auf die Vorgänge in diesem Arbeitskommando. Sie waren folglich ideale Beobachter und Informanten im Dienste der Allgemeinen Widerstandsbewegung. Nachdem Kaminski bereits beim ersten Aufstandstermin bewiesen hatte, dass er die Internationale Widerstandsorganisation mit einer eigenmächtigen Aktion vor vollendete Tatsachen stellen wollte, musste er aus ihrer Sicht wohl  ausgeschaltet werden und eine Wiederholung mit allen Mitteln verhindert werden. Offiziell wurde von Moll angeblich erklärt, dass Kaminski erschossen worden sei, weil er einen Anschlag auf den Krematoriumsleiter I SS-Oberscharführer Mußfeldt geplant habe. Da von der SS in der Sache keine weiteren Ermittlungen geführt wurden, stellte sich die gezielte Auslieferung Kaminskis als kluger Schachzug der Gegner einer frühzeitigen Revolte heraus. Fest steht allerdings, dass Kaminski in den Wochen vor seiner Ermordung nicht nur unvorsichtig, sondern auch waghalsig vorgegangen sein muss und offensichtlich in Ungnade gefallen war. So soll er sich angeblich erstens von anderen Funktionären im Sonderkommando bedroht gefühlt haben und von seinen Verbindungsleuten im Lager eine eigene Pistole gefordert haben und zweitens von der SS dabei ertappt worden sein, wie er einer Häftlingsfrau einen Kassiber übergeben hatte. Die gemeinschaftliche Stärke, die Kaminski durch seine außergewöhnliche Autorität und seinen großen Einfluss auf die SS geschaffen hatte, zerbrach nach seiner Ermordung. Für diesen energischen und respektablen Anführer gab es keinen Ersatz, obwohl der Planungsstab der Widerstandsgruppe im Sonderkommando aus etwa einem Dutzend Männern bestand und schätzungsweise drei bis vier Dutzend eingeweihte Aktivisten auf alle Krematoriumskommandos verteilt hatte. Die Kommandozentrale befand sich in Krematorium I, in der eine Materialausgabestelle existierte, die für die Verbindungsleute aus den anderen Krematorien als Anlaufstelle und Übergabeort dienen konnte. Die Besprechungen wurden gut getarnt, zum Beispiel als Treffen zum Kartenspiel oder Gebet. Einige Namen von Anführern wurden zwar überliefert, doch ist die konkrete Organisationsstruktur und Entscheidungsgewalt nicht bekannt. Fest steht lediglich, dass die Führer der Widerstandsbewegung im Sonderkommando unterschiedlich ausgerichtete Gruppierungen vertraten. Diese waren politisch orientiert, militärisch geprägt, oder religiös bestimmt. Weitaus problematischer stellte sich die Beziehung zu den 19 sowjetischen Kriegsgefangenen dar: Während Einzelne aus der Gruppe griechischer Juden mit den temperamentvollen Kriegsgefangenen sympathisierten, verloren die polnischen Juden und Anführer der Widerstandsgruppe allmählich die ohnehin nur geringe Kontrolle über sie. Diese Heizer aus Majdanek verhielten sich nicht nur aufgrund ihres starken Alkoholkonsums undiszipliniert und verantwortungslos, sie waren zudem noch unberechenbar und ungeduldig, weil sie so schnell wie möglich zu fliehen beabsichtigten, notfalls auch auf eigene Faust. Für diese Soldaten hatte eine Flucht oder das Aufbegehren gegen den Feind große moralische Bedeutung, da die sowjetische Militärführung von ihnen geradezu erwartete, dass sie ehrenhaft im Kampf fielen. Die Widerstandsführer im Sonderkommando erkannten allerdings recht früh, dass die Kriegsgefangenen keinen klaren Überblick hatten und Lagersituationen nicht richtig einschätzen konnten, da ihnen die politische Reife und Erfahrung dazu fehlte. Sie erachteten die Russen schlichtweg als nicht vertrauenswürdig und bemühten sich aber vor allem deshalb um eine Kooperation, weil sie sich einen Nutzen von der militärischen Erfahrung, Entschlossenheit und Kampfkraft der Russen versprachen und ihre Hoffnungen auf deren angeblichen Verbindungen zu den Partisanen in der Umgebung setzten.

Mit dem Ausbruch des Allgemeinen polnischen Aufstands in Warschau am 1. August 1944 verband sich die Hoffnung auf eine Ausdehnung der Kämpfe nach Schlesien. Parallel dazu schritt der Vormarsch der Roten Armee voran, der am 29. August an der Weichsel zum halten kam. Schließlich fanden noch zwischen dem 9. und 25. August vier Aufklärungsflüge der Alliierten über Auschwitz statt, bevor ab September auch die Sowjets ihre Flugzeuge in die Region entsandten. Während diese Entwicklung den nicht-jüdischen Polen im Lager eine größere Überlebenschance im Hinblick auf eine Befreiung in Aussicht stellte und die Durchhaltemoral stärkte, war den Sonderkommando-Häftlingen klar, dass ihre Tage gezählt waren. Sie drängten auf eine Aktion um ihrer eigenen Liquidierung zuvorzukommen. Da die SS am 3. August 1944 auch das zweite Auschwitzer Familienlager, das sogenannte Zigeunerlager, liquidiert hatte und somit wieder mit den systematischen Massenmorden an Nicht-Juden begonnen hatte, setzte unter vielen Häftlingen eine gewisse Endzeitstimmung ein.


2.2 Endzeitstimmung und Einzelaktionen

Im Zusammenhang mit der Sammlung von Beweisen der Vernichtung und ihrer sicheren Aufbewahrung durch externe Mitglieder der Widerstandsorganisation wurden anfänglich Kassiber aus der Todeszone und dem Lager geschmuggelt. Als Mitte 1944 der wichtigste Kurier aus dem Lager floh und die Informanten aus dem Sonderkommando zudem Ihre konspirativen Tätigkeiten nicht ausreichend gewürdigt meinten, begannen die Chronisten des Sonderkommandos seit Juli 1944 ihre Berichte, Tagebücher und Notizen auf dem Krematoriumsgelände zu vergraben. Zum einen hatten sich aufgrund von Verhaftungen, Ermordungen, Überstellungen oder Fluchten die Verbindungen innerhalb der Internationalen Widerstandsorganisation verändert, zum anderen schienen Sonderkommando-Häftlinge nur noch wenig Vertrauen in die Zustellung und Verwertung der Dokumente durch ihre polnischen Kontaktleute zu haben. Die meisten der schätzungsweise 36 geheimen Handschriften wurden anfänglich in den Aschegruben oder im Winkel zwischen den unterirdischen Kellern auf dem Krematoriumsgelände I und II vergraben und gelten bis heute als verschollen, lediglich eine Handschrift aus der frühen Begrabungszeit konnte aufgefunden werden. Von den zwischen Mitte August und Ende November 1944 vergrabenen Schriften konnten dagegen bisher sieben Funde nachgewiesen werden.

Behältnis der Handschrift Marcel Nadjaris, © A. Kilian 2005

Das größte Wagnis in Bezug auf die Dokumentation in der Todeszone bestand jedoch in der fotographischen Beweisaufnahme der Tragödie. Während zwischen dem 15. und 30. August 1944 die Vernichtung von etwa 60.000 Juden aus dem Getto Lodz durchgeführt wurde, gelang es der Widerstandsgruppe im Sonderkommando zwei geheime Fotoaufnahmen von einer nördlich von Krematorium IV gelegenen Verbrennungsgrube sowie zwei weitere Aufnahmen von dem südlich von Krematorium IV gelegenen Hof zu machen. Die Fotografien stammen von einem etwa 34-jährigen griechischen Juden namens Alberto „Alex“ Errera und wurden über mehrere Etappen am 04. September 1944 mit Hilfe der Lagerwiderstandsbewegung an das „Krakauer Hilfskomitee für die Häftlinge in den Konzentrationslagern“ geschickt: Die Kuriere und Verbindungsleute in Auschwitz waren vermutlich Dawid Szmulewski, Feliks Budczinski, Jozef Cyrankiewicz und Helena Daton. Mit dieser mutigen Aktion wurde tatsächlich die letzte Gelegenheit wahrgenommen, von den Grubenverbrennungen fotografische Beweise anzufertigen. Denn nach dem Abschluss der „Lodzer Aktion“ wurde noch am 30. August damit begonnen, die Verbrennungsgruben bei Krematorium IV zuzuschütten. Fünf Tage später traf der letzte Deportationszug aus Westerbork ein. Die Einstellung der Vernichtungstransporte läutete allmählich das Ende der Todesfabrik ein und beunruhigte die Sonderkommando-Häftlinge, zumal die SS bereits kurz vor dem 25. August befohlen hatte, auch die Aschegruben auf dem Krematoriumsgelände I und II zu entleeren, darin befindliche kleine Knochenstücke fein zu zermahlen und die Überreste in die Weichsel zu schütten.

Errera, der Offizier in der griechischen Marine und Mitglied in der Widerstandsgruppe innerhalb des Sonderkommandos war, scheint offensichtlich den Glauben an einen allgemeinen Aufstand verloren zu haben, da er vermutlich noch Ende August, also kurz nach der mutigen Aufnahme der illegalen Fotos, einen der Aschetransporte zur Weichsel als Gelegenheit zur Flucht nutzte. Mit diesem spontanen Entschluss beabsichtigte er, gemeinsam mit seinem 18-jährigen Kameraden Hugo Venezia und drei weiteren polnisch-jüdischen Häftlingen dieser Arbeitsgruppe außerhalb der Lagerpostenkette die beiden Bewacher zu überwältigen und zu den Partisanen vorzustoßen. Errera überwältigte einen Posten, musste jedoch erkennen, dass sich die drei polnischen Kameraden an der Aktion nicht beteiligten und Venezia mit seiner Aufgabe, den zweiten Posten auszuschalten, überfordert war. Errera flüchtete daraufhin allein an das andere Flussufer und wurde bei diesem Versuch von einem der Posten im Wasser angeschossen. Als man ihn wenig später fand, war er bereits in den angrenzenden Feldern verblutet. Zur Abschreckung musste sich nach der Sektion des Körpers zwei Tage später jeder Sonderkommando-Häftling den Leichnam ansehen und sich von Krematoriumsleiter Moll eine warnende Ansprache anhören. Erreras Beweggründe zur Flucht könnten aber auch einen Hinweis auf die Konflikte innerhalb der Widerstandsbewegung im Sonderkommando, vor allem zwischen den griechischen und polnischen Juden, geben. Neben ihren sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten hatten die Griechen auch ein mentalitätsbedingtes Kommunikationsproblem mit den durch die Getto- und Lagererfahrung gemäßigteren und in der Lagerkultur assimilierten Polen. Das Verhalten der polnischen Kameraden während Erreras Fluchtversuch war für diese Problematik bezeichnend. Anschließend verurteilten die polnischen Sonderkommando-Häftlinge die Aktion Erreras als unüberlegte Gefährdung der allgemeinen Aufstandspläne, war ihren Anführern doch selbst noch einige Monate zuvor nach einer anfänglich zugesagten Unterstützung durch den polnischen Untergrund jeder individuelle Fluchtversuch verboten worden und eine kollektive Bestrafung durch die SS wie schon Ende Februar 1944 erneut zu befürchten. Die Fluchtvorhaben der Widerstandsführer Salmen Lewenthal, Jankiel Handelsmann sowie Majerko Elusz wurden allesamt denunziert und die Betreffenden unter Beobachtung durch den Blockältesten oder die Kapos gestellt, mit der Androhung, sie bei einem weiteren Versuch der SS auszuliefern. Nach Erreras Flucht gelang es lediglich beinahe noch dem erfahrenen Häftling Feinsilber aus dem Sonderkommando zu entkommen. Mit seinen ausgezeichneten Verbindungen begab er sich in das Aufräumungskommando um von dort aus zu flüchten. Da sein Fehlen jedoch von der SS frühzeitig bemerkt wurde und die SS sowie die Kapos seine wahren Absichten nicht erkannt hatten, wurde er lediglich zu einer Prügelstrafe verurteilt.

Kurz nach diesen beiden Fluchtversuchen und der Beendigung der Asche-Transporte zur Weichsel wurde der gefürchtete SS-Oberscharführer Moll als Lagerkommandant in das Nebenlager Gleiwitz abberufen und sein Plan zur restlosen Liquidierung Birkenaus durch Bombardement bekannt.

Die näheren Details zum sogenannten Moll-Plan wurden über die polnische Widerstandsorganisation am 6. September 1944 nach Krakau gesandt. Am gleichen Tag schrieb Salmen Gradowski über den Aufstands-Termin: “Dieser Tag ist nahe. Es kann heute oder morgen geschehen. Ich schreibe diese Worte im Augenblick der größten Gefahr und Aufgeregtheit.“ Zwei Tage später leitete der Geheime Militärrat des Lagers genaue Informationen über die Besatzungsstärke und Ausrüstung der deutschen Verbände an die schlesische Sektion der Polnischen Landesarmee. Demzufolge waren in der näheren Umgebung von Birkenau rund 2000 SS-Männer kampfeinsatzbereit. Sie standen in Birkenau rund 19.000 männlichen und 39.000 weiblichen Häftlingen sowie 30.000 sogenannten Durchgangs-Jüdinnen gegenüber, also insgesamt etwa 88.000 Häftlingen, unter denen sich 13.000 Nicht-Juden befanden. Etwa 10.000 Häftlinge waren als krank oder „nicht arbeitsfähig“ registriert, die tatsächliche Krankenquote lag dagegen weitaus höher. Nur ein Teil der Häftlinge hätte sich folglich einem Aufstand anschließen können und nur schätzungsweise 200 bis 300 Flüchtlinge hätten bestenfalls eine geringe Aussicht auf Unterstützung durch polnische Partisanen erhalten können. Eine Unterstützung, die zwar in Aussicht gestellt, aber keinesfalls garantiert werden konnte, da die einzigen Partisanenabteilungen in der Umgebung mindestens 65 km nordöstlich und 40 km südlich entfernt lagen und auch nur eingeschränkt einsatzfähig waren.

Inzwischen war auf höchster Ebene von der Heimatarmeeführung, der die Internationale Widerstandsorganisation in Auschwitz unterstand, die Entscheidung gefallen, dass ein Allgemeiner Aufstandsplan aufgegeben werden müsste. Nur bei einer Liquidationsgefahr des gesamten Lagers wäre an einen Ausbruch zu denken und die nötigsten Rettungsmaßnahmen von Partisaneneinheiten einzuleiten. Zur gleichen Zeit setzten große Selektionen unter den Häftlingen ein, die zwischen September und Anfang Oktober 1944 vermutlich mindestens 11.000 Menschen das Leben kosteten. In Anbetracht der Tatsache, dass sich keine weitere Entwicklung der allgemeinen Aufstandspläne abzeichnete, zog das Sonderkommando einen zweiten Plan in Erwägung, der eine nächtliche Massenflucht ohne Beteiligung anderer Kommandos miteinbezog. Eine Verzögerung ergab sich allerdings auch, weil sich die Koordination des  allgemeinen Plans als schwierig herausgestellt hatte. So war die Führung des Sonderkommandos nur mit einer einheitlichen Aktion aller Sonderkommando-Gruppen einverstanden, da sie einzelne Gruppen nicht ausschließen und den Vergeltungsmaßnahmen der SS ausliefern wollte. Diese Koordination setzte aber die gleiche günstige Situation in allen Krematoriumskommandos voraus, also eine Lage, die nur selten eintrat und schwer vorhersehbar war. Die Führung im Sonderkommando konnte während ihrer komplizierten Planung nicht voraussehen, dass sie auf verlorenem Posten stand und ihr Warten und Besprechen zwecklos war: Der Plan zum landesweiten Aufstand der Polen wurde von der Heimatarmee aufgegeben, ein polnischer Angriffsplan auf deutsche Truppen unter dem Decknamen „Sturm“ war für die Region Auschwitz nicht vorgesehen, die herannahende Rote Armee hatte kein Interesse an einer schnellen Befreiung des Lagers und für die westalliierte Luftwaffe kam ein Bombenangriff auf die Vernichtungsanlagen und SS-Kasernen auch aufgrund polnischer Intervention nicht in Frage.

Gelände der Verbrennungsgruben bei Krematorium IV, © A. Kilian 2004

2.3 Selektion und Radikalisierung: Der zweite Aufstandstermin

Nach Beendigung der Spurenbeseitigung von den Verbrennungsgruben bei Krematorium IV schien es aus Sicht der Lagerführung erforderlich zu sein, die Arbeitskommandos zu verkleinern. Da die SS des Weiteren plante, den Betrieb bei Bunker V einzustellen, überstellte sie 95 Häftlinge aus den Krematorien I und II welche dem Sonderkommando V angehörten zur Belegschaft der Krematorien III und IV. Bis auf zwei Ausnahmen handelte es sich dabei um alle ungarischen Juden der Sonderkommandos I und II sowie um einige griechische Juden. An der großen Masse der Sonderkommando-Häftlinge von Krematorium III und IV wurde kurz darauf am Nachmittag des 23. September 1944 die bereits befürchtete Selektion durchgeführt. 210 Männern, genau die Häftlingsstärke der Tag- und Nachtschicht bei der Grubenverbrennung an Krematorium IV und fast ausschließlich ungarische Juden sowie einzelne griechische Juden, wurde vorgegeben, sie nach dem Nebenlager Gleiwitz überstellen zu wollen, also in das Lager, das SS-Oberscharführer Moll erst kurz zuvor als Lagerkommandant übernommen hatte. Um der Behauptung Nachdruck zu verleihen, erschien Moll zur Übergabe der Häftlinge. Die Täuschung versuchte er noch dadurch zu perfektionieren, dass er die Häftlinge in der Desinfektionskammer des Effektenlagers „Kanada I“, nordwestlich vom Stammlager Auschwitz, zur „Entlausung“ schickte. Nachdem er die Häftlinge noch betrunken machte, war es ihm ein leichtes, sie in dieser Kammer einzusperren und dort zu vergasen. Aber auch die am selben Abend durchgeführte Verwischung der Spuren dieser geheimen Liquidierung war von Verschleierung bestimmt: Erstmals in der Geschichte der Auschwitzer Vernichtungsanlagen übernahmen in Krematorium II SS-Angehörige die Leicheneinäscherung, während die zuständigen Sonderkommando-Häftlinge ihre Unterkunft auf dem Dachboden des Gebäudes mit der Begründung, dass eine größere Anzahl von zivilen Bombenopfern eingeäschert würde, nicht verlassen durften. Das beabsichtigte Täuschungsmanöver der SS scheiterte jedoch noch in der Nacht als nach der Beendigung der Verbrennung Sonderkommando-Häftlinge die Kleidungsstücke und Häftlingsnummern ihrer ungarischen Kameraden wiedererkannt hatten. Diese Gewissheit versetzte die Überlebenden in einen Schockzustand, obwohl die erfahreneren Häftlinge bereits eine Liquidierung erwartet hatten. In seinen Aufzeichnungen unter dem Titel „Im Herzen der Hölle“ beschrieb der Chronist Salmen Gradowski, dass während der Selektion eine unerträgliche Anspannung unter den Häftlingen geherrscht hätte, aber niemand den ersten Schritt zum Widerstand wagen wollte. Die unterschiedlichen Erwartungshaltungen hätten letztlich eine Aktion verhindert. Während die Todgeweihten offensichtlich völlig resigniert alle Hoffnungen aufgaben, wollten die Überlebenden aber vermutlich auch nichts sinnlos riskieren, zumal die Widerstandskämpfer auf ihre große Chance im Rahmen eines allgemeinen Lageraufstands warteten. In der Erkenntnis, dass nicht alle Kameraden zu retten seien, entschlossen sie sich nicht einzugreifen, solange sie selbst nicht von der Todesgefahr betroffen waren. Bei den Selektierten handelte es sich zudem hauptsächlich um unerfahrene Häftlinge, von denen man sich nicht allzu viel bei einem Aufstand versprach. Die betroffenen Ungarn und Griechen konnten sich in der Regel weder in Polnisch oder Deutsch verständigen, noch in der Umgebung orientieren, sie standen in der Sonderkommando-Hierarchie ganz unten.

Kurze Zeit nach dieser erkenntnisreichen Selektion wurde schließlich auch der Betrieb von Bunker V eingestellt. Beide Tatsachen verstärkten den auf dem Sonderkommando liegenden Vernichtungsdruck und die Forderung nach einer kurzfristigen Festsetzung des Aufstandstermins, da die nächste Selektion bereits vorauszusehen war. Kurz darauf wurde dem Sonderkommando ein Datum für den zweiten Aufstandstermin übermittelt. Wie sich jedoch herausstellte, wurde dieser allgemeine Aufstandstermin unerwarteterweise nicht mit der Zustimmung der Internationalen Widerstandsorganisation, sondern von den Russen ohne Rücksicht auf Verluste eigenmächtig und voreilig festgesetzt. Dies erfuhren die Anführer im Sonderkommando von ihren jüdischen Verbindungsleuten im Lager und entschieden, sich im eigenen Interesse zurückzuhalten um sich noch besser organisieren und mit den anderen Gruppen abstimmen zu können und um auf bessere Aussichten zu warten. Die fatale Konsequenz aus der enttäuschenden Erfahrung mit der russischen Eigeninitiative war, dass die Widerstandsführung im Sonderkommando aus Sicherheitsgründen die gesamte Planung und damit auch ihre Entscheidungsgewalt an die Leitung der Internationalen Widerstandsbewegung abtrat, da diese bessere Möglichkeiten hatte, die Allgemeine Aktion zu organisieren. Der dritte Aufstandstermin sollte folglich ausschließlich von der Internationalen Widerstandsorganisation bestimmt werden. In den darauffolgenden Tagen zeigte sich jedoch, dass diese Entscheidung falsch war und das Vertrauen der Anführer im Sonderkommando missbraucht wurde.


2.4 Der dritte Aufstandstermin und die Eskalation

In den ersten Oktobertagen sorgte die Ankündigung des Krematoriumsleiters Busch, dass eine Gruppe von 300 Mann für ein Trümmerbeseitigungskommando zusammengestellt werden sollte und aus der Belegschaft der Arbeitskommandos Krematorium IV und Bunker V auszuwählen sei, für große Aufregung. Betroffen war konsequenterweise die Häftlingsgruppe, die nach der Einstellung der Verbrennungen an Bunker V nicht weiter benötigt wurde. Busch verlangte von den zuständigen Kapos, darunter auch der 28-jährige Kapo Eliezer Welbel,

eine entsprechende Häftlingszusammenstellung, was dazu führte, dass einflussreiche Häftlinge ihnen nahestehende Kameraden zu retten versuchten und die graue Masse der Häftlinge in tiefe Verzweiflung und eine hilflose Ohnmacht verfiel. Da beschlossen wurde, hauptsächlich die für eine Revolte verwendbaren zuverlässigen Kräfte, also die erfahrenen und vertrauenswürdigen Häftlinge, von der Selektion auszunehmen, drohten einige der Todgeweihten, sich im letzten Augenblick mit allen Mitteln zur Wehr zu setzten und forderten die Widerstandsführer dazu auf, sich ihnen anzuschließen.

Eliezer Welbel (1916-2006), Skokie, © A. Kilian 1998

Der allgemeine Lagerwiderstand teilte den Anführern im Sonderkommando wiederrum mit, dass in nur einigen Tagen der langersehnte Zeitpunkt zur großen Revolte gekommen sei und forderte sie auf, im Hinblick auf eine erfolgreiche Aktion völlige Gleichgültigkeit zu zeigen. Mit dieser taktischen Vorspiegelung falscher Tatsachen versuchte die Internationale Widerstandsorganisation auch noch die letzte große Gelegenheit des Sonderkommandos auf eine geschlossene Aktion zu verhindern um den möglichen Schaden für das restliche Lager zu minimieren. In der falschen Überzeugung, dass in einigen Tagen tatsächlich der allgemeine Häftlingsaufstand zu erwarten sei, trafen die Anführer eine nüchterne und pragmatische Entscheidung: Da sie den Widerstand ihrer unglücklichen Kameraden nicht verhindern konnten, mussten sie die Selektion und deren Folgen als ausweglose Situation hinnehmen, aber sie wiesen alle in die konkreten allgemeinen Aufstandspläne Eingeweihten insgeheim an, sich nicht zu beteiligen. Als Häftlinge, die bereits fast zwei Jahre im Sonderkommando überlebt hatten und deren Überlebensstrategie von ihrer Gettoerfahrung geprägt wurde, hatten sie den Lagerinstinkt gewonnen, der für ein Überleben bis zum letzten Augenblick durch wohlüberlegte Situationsanalysen und der Vermeidung waghalsiger Risiken erforderlich war. Sie gaben ihre eigene Sache zugunsten der Hoffnung auf die Zerstörung der Todesfabrik und die Rettung möglichst vieler Häftlinge auf und erwarteten dabei auch die versprochenen Hilfsleistungen von außen, die ihnen selbst eine höhere Überlebenschance garantiert hätten. Da sie jedoch nicht wissen konnten, dass man sie getäuscht und bereits aufgegeben hatte und da sie die Folgen ihrer Entscheidung nicht absehen konnten, verspielten sie ihre letzte Chance.

Kurz darauf spielte sich ein folgenschwerer Zwischenfall auf dem Gelände von Krematorium II ab, der die angespannte Situation noch verschärfte. Das skrupellose Verhalten der sowjetischen Kriegsgefangenen, das seitens der SS schon häufiger die Androhung von Konsequenzen nach sich gezogen hatte, erreichte seinen Höhepunkt als der russische Gefangene Jurij seinen SS-Wachposten angriff. Dieser hatte den Russen erwischt wie er angetrunken Krawall machte und dafür geschlagen. Als Jurij daraufhin weglief, wurde er angeschossen. Mit letzter Kraft attackierte er noch bei seiner anschließenden Festnahme den SS-Unterscharführer, der ihn dafür erschoss. Folge dieser Rebellion war, dass der SS-Kommandoführer die restlichen Russen, vor denen sich die Posten fürchteten, auf die 300 Mann zählende Überstellungsliste setzte und ihnen seine Entscheidung mitteilte. Damit versetzte er sie allerdings in so große Aufregung, dass die Russen und einige Sympathisanten aus Krematorium I und II planten, noch am selben Abend einen Ausbruch zu wagen. Durch das Verhandlungsgeschick der Kommandoelite gelang es, die Aufgebrachten vor einer überstürzten Aktion zu bewahren und sie einige Tage hinzuhalten. Dies gelang besonders mit Hilfe des deutsch-jüdischen Sonderkommando-Häftlings Sender, der angeblich ein Schwager des SS-Kommandoführers Steinberg war und der SS einredete, dass die bedauerliche Tat nur der Fehltritt eines Betrunkenen gewesen sei. Die Russen konnten dagegen beruhigt werden, indem man ihnen versicherte, sie würden doch nicht von der SS abgeholt. Alle Eingeweihten befanden sich nun in erhöhter Bereitschaft, da der Aufstand täglich ausbrechen sollte und die Benachrichtigung kurzfristig eintreffen konnte. Der ursprüngliche Plan wurde dahingehend geändert, dass die Signalrauchzeichen nun von Krematorium I ausgehen sollten, also dem Ort der Widerstandszentrale im Sonderkommando.

Zur Brandlegung in den Krematorien II, III und IV sollten außerdem benzingefüllte Suppenkübel, die bereits in der Lagerküche des Männerlagers bereitgestellt worden waren, ausgeliefert werden. Häftlinge unter den Essensholern im Sonderkommando, die täglich abwechselnd entweder aus Krematorium I oder II rekrutiert wurden, waren als Kuriere im Auftrag der Widerstandsbewegung aktiv und hatten dies bereits veranlasst. Am Morgen des 7. Oktober wurden daher sechs eingeweihte Häftlinge aus Krematorium II ausgesucht um den Auftrag auszuführen, darunter auch der Kalfaktor von Kapo Lemke, Dov Paisikovic. Nützliche Hilfsmittel wurden griffbereit platziert, geeignete Kleidung angezogen und Waffen bereitgelegt. Es war beschlossene Sache, dass der Aufstand an einem Tag stattfinden sollte, an dem kein Transport im Lager ankommt und dass er um 16:30 Uhr ausgelöst werden sollte. Da am 7. Oktober weder ein Zugangs- noch ein Vernichtungstransport in Birkenau eintraf und lediglich die Tagschicht von Krematorium I restliche Leichen einzuäschern hatte, schien dieser Tag dafür prädestiniert zu sein. Da zudem die erwartete Selektion noch nicht stattgefunden hatte, gehen einzelne Überlebende sogar von der Annahme aus, dass der dritte Aufstandstermin auf den Nachmittag des 7. Oktober festgelegt worden wäre um die Selektierten noch im letzten Augenblick zu retten. Tatsächlich traf aber eine Terminbestätigung nie ein, die 300 wurden von der Welt und ihren eigenen Kameraden, wie schon hunderttausende Juden vor ihnen, ihrem Schicksal allein überlassen. Währendessen warteten die Anführer des Sonderkommandos geduldig auf eine positive Nachricht ihrer scheinbar Verbündeten.


2.5 Eine Revolte einzelner Todeskandidaten

Am Morgen des 07. Oktober 1944 erfuhren die Häftlinge des Sonderkommandos schließlich noch, dass am selben Tag zur Mittagszeit der Transport mit den 300 Selektierten aus der Belegschaft der Krematorien III-IV zusammengestellt und abgeholt werden sollte. Der Planungsstab im Sonderkommando hielt nach eingehenden Beratungen jedoch weiterhin an der Entscheidung fest, dass die Selektion keine günstige Gelegenheit zum Aufstand biete und der Zeitpunkt für eine allgemeine Erhebung abzuwarten sei. Daraufhin bestätigte Kapo Welbel aus Krematorium III dem Unterkapo Lemke von Krematorium II, dass sich an der Gesamtplanung nichts ändern würde und die Aktivisten unter allen Umständen Ruhe bewahren würden. Während die Gruppe der sechs Essenholer gerade das Gelände der Krematorien III und IV passiert, dort einige Benzinkübel zurückgelassen hatte und auf dem Weg zu Krematorium II war, fand um 13:25 Uhr der Selektionsappell im umzäunten Hof des Krematoriums III statt. Die Selektion wurde von etwa 20 SS-Angehörigen durchgeführt, darunter Vertretern der politischen Abteilung. Angetreten waren die 170 Mann umfassende Tag- und Nachtschicht von Krematorium III und fast vollständig die 146 Mann der 154 Mann umfassenden Tag- und Nachtschicht von Krematorium IV, insgesamt also 316 Häftlinge. Etwa 260 dieser Häftlinge kamen aus Ungarn sowie einige aus Griechenland. Eine kleine Gruppe von etwa acht Häftlingen des Krematoriums IV war dagegen trotz des allgemeinen Apells weiterhin zur Aufrechterhaltung des Krematoriumsbetriebs eingesetzt und unter anderem nördlich von Krematorium IV mit dem Zerstoßen der nicht restlos verbrannten Knochenteile beschäftigt. Von den auf dem Hof Versammelten wurden schätzungsweise 30 privilegierte Häftlinge vom Apellführer ausgesondert und in den an die Kommandoführerstube von Krematorium IV benachbarten Raum eingesperrt. Dies war genau die Häftlingsanzahl, die für die Aufrechterhaltung des normalen Betriebs in den Waldkrematorien erforderlich war. Unter den Ausgewählten befanden sich vermutlich auch zwei der Häftlingsärzte des Sonderkommandos, der 48-jährige Allgemeinmediziner Dr. Leo Havas aus Munkacs und der 50-jährige ehemalige Leiter der dermatologischen Abteilung im Krankenhaus in Munkacs, Dr. Zoltan Peters.

Leo Havas (1895-1944), © Archiv Kilian (Dank an George Havas)



Die auf dem Apellplatz verbliebenen 286 Häftlinge wurden daraufhin der für den Transport bestimmten Selektion unterzogen und der Liste nach ausgerufen. Plötzlich trat der 54-jährige polnische Jude Chaim Neuhoff aus einer Reihe hervor und griff einen SS-Angehörigen unter Hurra-Geschrei mit einem Hammer an. Sowohl der Angriff als auch der Ausruf „Hurra“, der ursprünglich das Signal zum Aufstand geben sollte, löste die Kampfhandlungen aus. Neuhoff gehörte vermutlich selbst aufgrund seines Alters und seiner hohen Häftlingsnummer aus einem Sosnowitzer Transport vom Frühjahr 1944 zu den potentiellen Selektions-Opfern. Aus Sicht der Widerstandsführung war von ihm bei einem großen Aufstand nicht viel zu erwarten, darum erhielt er auch keine Protektion. Neuhoff belehrte sie eines Besseren, er entschloss sich zur Rebellion und wagte den Schritt, den monatelang viele sehnlichst herbeigewünscht, aber den bisher keiner gewagt hatte. Vielleicht gelang ihm dies aber auch, weil er zu den von Primo Levi sogenannten Luftmenschen gehört hatte, zu Häftlingen also, die nach dem Verlust von Heimat, Zuhause und Familie „außerhalb der Welt standen“ und nichts mehr zu verlieren hatten. Die SS zog sich daraufhin in sichere Stellungen zurück und eröffnete das Feuer auf die Aufständischen, zwei SS-Angehörige flüchteten mit ihren Fahrrädern und forderten Verstärkung an, die als Alarmbereitschaft und mit automatischen Waffen und Handgranaten ausgerüstet auch innerhalb weniger Minuten von der 1,3 km entfernten Kaserne anrückte. Die im Mauerwerk der Häftlingsunterkunft verborgenen selbstgefertigten Granaten wurden von ihrem Verwalter, dem zur Widerstandsbewegung zugehörigen Stubendienst Shlomo Dragon nicht freigegeben und kamen darum auch nicht zum Einsatz. Den Aufständischen blieb daher nichts anderes übrig, als sich mit Steinen, Messern, Werkzeug oder den blanken Fäusten zur Wehr zu setzen. Sicherlich waren sie auch von der mangelnden Beteiligung ihrer Kameraden überrascht und irritiert. Im Unterkunftsraum von Krematorium III steckten einige Häftlinge unter der Führung eines polnischen Juden namens Jossel daraufhin die Matratzen und Pritschen in Brand um wenigstens auf diese Weise das Gebäude zu beschädigen. Die Granaten detonierten jedoch nicht, weil der durch den Brand später eingestürzte Dachstuhl das Versteck unbegehbar machte.

Schauplatz des Aufstands bei Krematorium III, © A. Kilian 1994

Durch das sich schnell ausbreitende Feuer und die Rauchentwicklung wurden die Brandstifter wieder ins Freie getrieben und dort von der SS erschossen. Der Kapo von Krematorium IV, Shlomo Kirszenbaum, forderte sein Kommando auf, sich in das gegenüberliegende Krematorium in Sicherheit zu bringen. Dies gelang etwa 100-120 Häftlingen, die sich dort schließlich versteckten. Die restlichen, noch nicht gefallenen Häftlinge suchten Schutz hinter Krematoriumsgebäude III, eine reelle Fluchtmöglichkeit bot sich ihnen nicht. Sie wurden von einem einzigen SS-Posten, der mit einem Maschinengewehr bewaffnet war, in Schach gehalten. Verstärkung bekam der Posten von zwei SS-Angehörigen des Effektenlagers, die zufälligerweise gerade das Lagertor passieren wollten, um nach Kattowitz zu fahren und sich im dortigen SS-Casino zu vergnügen. Auch diejenigen, die sich dadurch zu retten suchten, dass sie sich nicht beteiligten und augenscheinlich ergaben, wurden von den Kugeln der SS niedergestreckt. Offensichtlich nutzte die SS nun die Gelegenheit, die Häftlinge gleich vor Ort zu ermorden. Einem griechischen Juden gelang die Flucht unter dem nicht elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun in das benachbarte Effektenlager, wo er sich in der Sortierbaracke 14 zu verstecken versuchte, jedoch von einem Häftling des Kanada-Kommandos beobachtet und denunziert wurde, der den diensthabenden SS-Kommandoführer Wunsch rief. Dieser nahm den Flüchtling fest und übergab ihn am Lagertor einem auf dem Krematoriumsgelände eingesetzten SS-Posten.

       

Gedenkminute Sigmund Sobolewskis am Ort der Erschießungen und während einer Diskussion neben der Rekonstruktion von Krematorium III, © A. Kilian 1994

Inzwischen rückte aus der Feuerwache im Stammlager Auschwitz die um 13:50 Uhr alarmierten und jeweils 9 Mann starken Abteilungen I und II des Häftlings-Feuerwehrkommandos aus um den Brand in Krematorium III zu löschen, doch auch sie gerieten in dem Chaos unter Feuer. Bei der wilden Schießerei auf dem Gelände von Krematorium III und IV wurden auch unbeteiligte Häftlinge von Krematorium IV verwundet, die sich in Sicherheit zu bringen versuchten und von Querschlägern getroffen wurden. Einige von ihnen wurden in die eigens für die Häftlinge des Sonderkommandos eingerichtete Krankenstube im Häftlingskrankenbau in Bauabschnitt B II f eingeliefert und dort operiert. Dieses Glück wurde aber nur denjenigen zuteil, die wie der Stubendienst Abram Dragon von einem ihm bekannten SS-Angehörigen vor der willkürlichen Erschießung gerettet wurden. Die Häftlinge, denen die Flucht auf das Krematoriumsgelände IV gelang, mussten sich auf den Vorhof des Krematoriums mit dem Gesicht nach unten auf den Boden legen, wonach jeder Dritte als Repressalie erschossen wurde. Alle auf dem Gelände des Krematorium III ergriffenen und noch lebenden Sonderkommando-Häftlinge wurden auf beide Krematoriumshöfe verteilt durch Genickschuss hingerichtet. Lediglich einzelnen Häftlinge gelang es, sich im Chaos an einer sicheren Stelle auf dem Krematoriumsgelände zu verstecken und so den anschließenden Straf-Erschießungen zu entgehen. Unter ihnen befanden sich die Häftlingsältesten Filip Müller, Henryk Tauber und Shlomo Dragon. Die beiden Häftlingsärzte Dr. Havas und Dr. Peters entschieden sich nach dem Beginn der Schiesserei, die Art ihres Todes eigenständig zu bestimmen. Sie vergifteten sich und gewannen damit, wenn auch auf andere Weise als die Aufständischen, ihre Menschenwürde und Unabhängigkeit zurück, die ihnen als Arbeitssklaven verwährt blieb.





3. Gespaltene Reaktion: Häftlings-Verhalten zwischen Eskalation und Resignation (Oktober – November 1944)

 

Zorn und Wut, alle Schmerzen und Qualen, die diese schrecklichen Monate tragischer Arbeit in uns hinterlassen haben und den einzigen Wunsch nach Rache hervorriefen, werden sich dann vereinen. Mit der uns drohenden Lebensgefahr, verbunden mit unserem Wunsch nach Rache und nach Verteidigung unseres Lebens, werden sie unser ganzes Wesen erregen und entflammen. Dann wird die Explosion erfolgen.“ Chronistische Aufzeichnungen von Salmen Gradowski (1909-1944), Auschwitz-Birkenau, März 1944

3.1 Tragisches Missverständnis und Massenflucht

Nach den dramatischen Ereignissen des Vortags und der Vorankündigung Widerstand zu leisten, war die Belegschaft von Krematorium I am 7. Oktober in Alarmzustand versetzt. Die Häftlinge der Nachtschicht befanden sich entgegen ihrer Gewohnheit nicht im tiefen Schlaf, sondern warteten, in angespannter Verfassung mit festem Schuhwerk und warmer Oberbekleidung ausgerüstet, auf die Entscheidung ihrer Verbündeten im Lager. Im Gegensatz zu den anderen Krematorien musste an diesem Tag nur die Tagschicht von Krematorium I die restlichen Leichen der am Vortag ermordeten Lagerhäftlinge einäschern.

Von den Schüssen und dem Rauch aus Krematorium III um etwa 13:50 Uhr alarmiert und vom Anrücken einer SS-Schutzeinheit beunruhigt, lösten die sowjetischen Kriegsgefangenen in Krematorium I überstürzt den Aufstand aus. In der falschen Annahme, der Vorankündigung der SS zufolge doch noch zum Transport selektiert zu werden, schlugen sie panisch los. Der reichsdeutsche Kapo Karl Konvoent, der den Aufstand zu verhindern suchte, wurde vermutlich von Lejb Panicz, einem der Anführer der Widerstandsgruppe, und einigen Kameraden erstochen und bei lebendigem Leib in einem der Verbrennungsöfen verbrannt. Schließlich wurden die Waffen – bestehend aus Messern, selbstgefertigten Bajonetten und Granaten – verteilt und der Versuch unternommen, die auf dem Gelände befindlichen drei SS-Angehörigen – den Kommandoführer und die beiden SS-Posten der Tagschicht – zu überrumpeln. Diese schöpften jedoch durch den Aufruhr bei Krematorium III Verdacht und konnten noch rechtzeitig fliehen. Um keine weitere Zeit zu verlieren, überwanden zahlreiche Häftlinge die vor der Umzäunung aufgestapelten Holzscheite, die dort als Sichtblende fungierten und ursprünglich als Brennstoff für die Grubenverbrennung gesammelt wurden, und begannen im Schutz des Krematoriumsgebäudes den Stacheldraht an drei nebeneinanderliegenden Stellen zu durchtrennen. Dazu verwendeten sie vorbereitete Zangen, die ihnen etwa drei Monate zuvor von Häftlingen des Kommandos Kläranlage übergeben wurden. Bis zu 100 Häftlingen soll es dabei gelungen sein, das Krematoriumsgelände zu verlassen, also mehr als der Hälfte der gesamten Belegschaft, darunter die 9 Russen sowie griechische und polnische Juden.

Die Tatsache, dass die restlichen Häftlinge nicht flüchteten, könnte möglicherweise auf die Uneinigkeit hinweisen, die in diesem Fall herrschte. Immerhin befand sich in Krematorium I der Planungsstab der Widerstandsgruppe im Sonderkommando, der einen frühzeitigen Ausbruch auf Druck der Internationalen Lagerwiderstandsbewegung verhindern wollte, zumal eine Flucht zur Mittagszeit ohnehin keine Aussicht auf Erfolg hatte. Die Zurückgebliebenen hofften, von der SS verschont zu werden, und die Revoltierenden hatten sich zu ihrem Schritt ohne Umkehr schnell entscheiden müssen, denn inzwischen wurde von der Lagerstraße aus das Gelände bereits durch die SS unter Beschuss genommen. Die Flüchtlinge aus Krematorium I durchschnitten kurz nach dem Ausbruch aus dem Krematoriumsgelände den Draht des Frauenlagers in Lagerbauabschnitt B I b und passierten das Gelände der Kläranlage, wobei sich ihnen der Bruder von Kapo Lemke, der Vorarbeiter des 25-köpfigen Arbeitskommandos Hoch- und Tiefbau Kläranlage B I namens Mayer Pliszko anschloss. Sie überquerten den etwa 50m vom Krematoriumsgelände entfernten „Königsgraben“ und durchstießen etwa 40m dahinter die große Postenkette, wo sie das Gewehr eines von seinem Wachturm aus getürmten SS-Posten erbeuteten und einige Häftlinge von anderen Posten erschossen wurden. Der Rest gelangte scheinbar orientierungslos 2,5 km weit bis zu den in Harmense gelegenen Fischteichen, wo 73 Männer von einer SS-Alarmeinheit gestellt und erschossen wurden. Die Schiesserei soll insgesamt nur etwa 10-15 Minuten gedauert haben. Bei diesen Kämpfen wurden etwa vier SS-Unterscharführer durch Messerstiche schwer verwundet und einige ihrer Pistolen beraubt, unter ihnen befanden sich vermutlich auch die drei Todesopfer in den Reihen der SS, der 40-jährige SS-Unterscharführer Rudolf Erler, der 23-jährige SS-Unterscharführer Willi Freese sowie der 41-jährige SS-Unterscharführer Josef Purke. Einer kleinen Gruppe von Flüchtigen gelang es dagegen, sich 3 Kilometer in südlicher Richtung von Birkenau in der Nähe der Ortschaft Rajsko in einer Scheune zu verschanzen. Damit verfehlten sie jedoch ihr Ziel, die Weichsel, noch weiter als ihre Kameraden, die bereits in Harmense aufgehalten wurden, da der Fluss Weichsel am schnellsten in 3 km Entfernung in westlicher Richtung zu erreichen gewesen wäre.

Publiziert in: Kilian, Andreas: Ein Ereignis während des Aufstands des jüdischen Sonderkommandos im Vernichtungslager Birkenau, In: Mitteilungsblatt der Lagergemeinschaft Auschwitz, Freundeskreis der Auschwitzer, 38.Jg., H. 2 (2018), S. 13.

Die Scheune wurde mit den Aufständischen in Brand gesetzt und musste anschließend von der Häftlingsfeuerwehr gelöscht werden. Nachdem in Birkenau schwerbewaffnete Verstärkung der SS-Bereitschaft eingetroffen war, wurde das Krematoriumsgelände gestürmt: Das vierköpfige Sektionskommando, das inmitten einer erst kurz vor Beginn der Ereignisse begonnenen Leichensektion vertieft war, wurde von SS-Angehörigen auf den Hof geführt und musste sich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden legen. Kurze Zeit später wurden auf dem Gelände gefangengenommene Sonderkommando-Häftlinge ebenfalls auf den Hof geführt und am Boden liegend von der SS misshandelt. Unter ihnen waren auch drei Häftlinge, die die Absicht gehabt hatten, die Krematoriumsöfen in die Luft zu sprengen, darunter der französische Sonderkommando-Koch Michel. Angeblich misslang ihnen der Sprengungsversuch, weil die selbstgebauten Granaten nicht funktionstüchtig waren. Eine halbe Stunde später wurde das Sektionskommando von seinem Vorgesetzten Mengele kurz verhört und anschließend zurück zur Arbeit geschickt. Die auf dem Hof versammelt liegenden Sonderkommando-Häftlinge wurden anschließend alle erschossen.


3.2 Die Unbeteiligten

Der Fluchtversuch bei Krematorium I muss offensichtlich äußerst überstürzt unternommen worden sein, da die 78 Kameraden der Tag- und 85 Kameraden der Nachtschicht in Krematorium II nichts bemerkt hatten und auch kein Signal zum Ausbruch eines Aufstands übermittelt bekamen. Den Rauch von Krematorium III konnten sie dagegen nicht sehen, weil die Sicht von Bäumen versperrt war. Nach den ersten Schüssen bei Krematorium III flüchtete der SS-Posten von Krematorium II mit seinem Fahrrad. Der Kommandoführer Ackermann, dessen Fahrradreifen von einem Saboteur spontan zerschnitten wurde, flüchtete zu Fuß, verschloss das Tor zum Krematoriums-Hof und holte Verstärkung. Als die Häftlinge schließlich erkannten, dass etwas ohne ihre Benachrichtigung unternommen wurde, fühlten sie sich von ihren Kameraden verraten und verlassen, sie waren zudem sichtlich irritiert. Die Kapos des Sonderkommandos von Krematorium II, Lemke Pliszko und Dawid Kotchak sowie der Vorarbeiter Milton Buki und der prominente Häftling Olere hinderten angesichts der ausweglosen Situation die ihnen unterstehenden Häftlinge daran, sich an den Kampfhandlungen zu beteiligen.

Begünstigt wurde dies durch das gute Verhältnis zwischen Kapo Lemke und dem 34-jährigen Anführer der griechischen Gruppe, dem Offizier Joseph Baruch. Die Häftlinge mussten machtlos zusehen, wie das benachbarte Krematorium gestürmt wurde, und die weitere Entwicklung abwarten, obwohl viele unter ihnen gut ausgerüstet auf den Ausbruch vorbereitet waren, wenn auch nicht zu diesem Zeitpunkt. Doch bevor das eigene Gebäude von der SS besetzt werden konnte, gelang es noch einigen Sonderkommando-Häftlingen noch rasch einen Teil ihrer Waffen verschwinden zu lassen. David Nencel, der als Uhrmacher der SS große Bewegungsfreiheit hatte und im gegenüberliegenden Krematorium einen eigenen Arbeitsraum gestellt bekam, versenkte die selbstgebauten Granaten in der Toilette. Dov Paisikovic, der zwei Eierhandgranaten am Körper trug, die er zur Verbrennung eingelieferten toten polnischen Partisanen abgenommen hatte, versteckte diese im Mauerwerk des Schlafraums. Als die SS das Gebäude stürmte, gaben sich die Häftlinge ahnungslos und die Männer der Nachtschicht stellten sich verschlafen, was ihnen letztlich das Leben rettete. Die 169 unbeteiligten Sonderkommando-Häftlinge von Krematorium II wurden bis auf den Zahntechniker Katz und den Maler Olere sowie einen vermissten griechischen Häftling von SS-Angehörigen durchgezählt und in zwei nebeneinanderliegende Räume, das zeitweise Olere zur Verfügung stehende sogenannte Laboratorium und die Goldgießerei, eingeschlossen.

David Nencel (1916-2015), Montreal, © A. Kilian 1998

In der Nacht wurde noch der schwer verwundete Kamerad Isaaquino Venezia eingeliefert, der kurz vor dem Ausbruch der Ereignisse zu Krematorium IV geschickt wurde. Er überlebte den Aufstand und wurde von SS-Posten zu seinem Kommando zurückgebracht. Das Sonderkommando II hatte nur ein Todesopfer zu beklagen, nämlich den polnischen Häftling, der den Fahrradschlauch des Kommandoführers durchschnitten hatte und nach seiner Entdeckung von diesem ermordet wurde. In der Nacht vom 07. auf den 08. Oktober 1944 wurde den Häftlingen in Krematorium II schließlich von Vertretern der politischen Abteilung mitgeteilt, dass sie nicht ermordet werden würden, da sie nicht in die Revolte involviert gewesen seien. Abgesehen von dem beruhigenden Charakter dieser Erklärung und der Unkenntnis der SS vom Umfang der Untergrundarbeit im Sonderkommando, darf hierbei jedoch nicht der Hintergedanke außer Acht gelassen werden, dass die Lagerführung auf ein eingespieltes Bedienungspersonal für die Krematorien noch nicht verzichten konnte und ein Teil der Häftlinge darum offiziell begnadigt und vorläufig von der Liquidation verschont werden musste. An der Entscheidung, sie nach dem endgültigen Abschluss der Vernichtungsaktionen und der Spurenbeseitigung restlos zu ermorden, änderte diese Erklärung jedoch nichts.


3.3 Die Massakrierten und die Verschonten

Der Sonderkommando-Aufstand im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau wurde innerhalb einer Stunde niedergeschlagen, die aktiven Kampfhandlungen der Häftlinge dauerten aber nur wenige Minuten. Zwar überraschte der aktive Widerstand der durch die alltäglichen Grausamkeiten eingeschüchterten und bisher von der SS als gefügig und gehorsam eingeschätzten Sonderkommando-Häftlinge die Lagerleitung. Eine realistische Aussicht auf Erfolg hatte der Aufstand allerdings nicht. Anstelle der 300 Selektionsopfern, die die SS zur Vernichtung vorgesehen hatte, fielen der Revolte insgesamt 451 Häftlinge zum Opfer. Unter den Todesopfern dieses historischen Ereignisses befanden sich schätzungsweise 135 griechische, 270 ungarische und 30 polnische Juden sowie 12 sowjetische Kriegsgefangene. Nur ein kleiner Teil der Häftlinge hatte sich aktiv zur Wehr gesetzt und revoltiert. Sie machten ihrem unerträglichen seelischen Leiden selbstbewusst ein Ende, um sich einerseits für die Schandtaten und Verbrechen der SS zu rächen und um andererseits ihre verlorene Selbstachtung und Menschenwürde wiederzuerlangen. Ihr aussichtsloser Widerstand richtete sich vor allem gegen die eigene als Schande empfundene Wehrlosigkeit. Die Mehrzahl der Mordopfer starb dennoch als hilf- und wehrlose Menschenmasse, als unbeteiligte Zuschauer, die von einer Minderheit vor vollendete Tatsachen gestellt wurde und den Vergeltungsmaßnahmen der SS rettungslos ausgeliefert war. Zudem konnten durch die Revolte weder Menschenleben gerettet noch in Betrieb befindliche Vernichtungsinstallationen zerstört werden. Die Revolte endete als Massaker.

Am Morgen des 08. Oktober 1944 lebten noch insgesamt 213 Sonderkommando-Häftlinge: 169 Mann aus Krematorium II und 43 Mann aus den Krematorien III und IV sowie ein Flüchtling aus Krematorium I, der jedoch einige Tage später wiederergriffen und ermordet wurde. Nach dem Aufstand in Krematorium I blieb nur das vierköpfige Sektionskommando am Leben, die 171 dort eingesetzten Sonderkommando-Häftlinge wurden alle entweder auf der Flucht oder zur kollektiven Bestrafung ermordet. Fast die gesamte Führung der Widerstandsgruppe im Sonderkommando, die sich hauptsächlich in Krematorium I versammelt hatte, wurde ermordet. Es handelte sich um die polnischen Juden Jossel Warszawski (geb. 1906), Salmen Gradowski (geb. 1909), Lajb Panicz (geb. 1912), Ajzyk Kalniak , Jozef Deresinski (geb. 1906), David Golan, Tuvia Segal (geb. 1920) und um Elusz Malinka, der sich am 7. Oktober aber noch auf der Flucht befand. Weitreichende Funktionen hatten zudem die ermordeten griechischen Häftlinge Sam Carasso, Jacko Soel sowie Michel Ardetti.

Von der gesamten 324-köpfigen Belegschaft des in den Krematorien III und IV beschäftigten Sonderkommandos überlebten den Aufstandstag nur 43 meist polnisch-jüdische Häftlinge, darunter die Anführer Eliezer Welbel (geb. 1916), Shlomo Kirszenbaum (1916-1976), Daniel Finkelstajn, Alter Feinsilber (1911-1987) sowie der Aktivist Shlomo Dragon (1922-2001). Im unbeteiligten Krematoriumskommando II überlebten die Anführer Salmen Lewenthal (1918-1944), Lejb Langfuß (1910-1944), Jankiel Handelsman (1908-1944), Lemke Pliszko (geb. 1918), David Nencel (geb. 1916), Jukel Wrobel (-1944), Joseph Baruch (1910-1945) und Dawid Kotchak (-1944) sowie der Aktivist Dov Paisikovic (1924-1988) den Aufstand. Den Aufständischen gelang es, das Krematorium III zu beschädigen sowie 3 SS-Unterscharführer zu töten und vermutlich 12 weitere SS-Angehörige zu verwunden. Das Kriegsende erlebten schätzungsweise höchstens 95 Männer, die am Aufstand teilgenommen hatten. Gegenwärtig leben von diesen Augenzeugen nur noch 15 Mann weltweit.

Der geringe Erfolg der Aktion und das Ausmaß der Verluste war für die Überlebenden eine bittere Enttäuschung, die von der Trauer über die ermordeten Kameraden und einer erheblichen Angst vor geheimpolizeilichen Untersuchungen und weiteren Repressalien begleitet wurde. Andererseits erfüllte die Tatsache, dass sich Juden nicht widerstandslos in den Tod treiben ließen, die Überlebenden mit Stolz, und die Tötung der wenigen SS-Angehörigen bereitete ihnen wenigstens eine geringe Genugtuung. Salmen Lewenthal, einer der wenigen Überlebenden aus dem Führungskreis der Widerstandsgruppe im Sonderkommando betonte dies mit den Worten: „Zum ersten Mal erlebten wir einen Augenblick, dass Leute die Ausführung dessen verweigerten, was man von ihnen verlangte, ohne den sicheren Tod zu fürchten, obgleich sie noch Aussicht darauf hatten, länger zu leben, obgleich sie in guten Verhältnissen leben konnten, da es uns weder an Essen noch an Trinken und nicht einmal an Zigaretten fehlte. Und trotzdem hatten sie beschlossen, heldenhaft aus dem Leben zu scheiden. Und diese Tatsache muss man unserer Geschichte hinzufügen und besonders betonen

Der Aufstand gewann für die gepeinigten, betäubten und traumatisierten Sonderkommando-Häftlinge daher letztlich eine hauptsächlich symbolische Bedeutung und wurde auch von Salmen Gradowski als größte Gelegenheit, „diesem elenden, finsteren Leben ein heldenhaftes Ende zu setzen“, betrachtet.


3.4 Die Konsequenzen

Das für die SS unerwartete Ereignis eines bewaffneten Häftlingsaufstands hatte zweifellos eine demoralisierende Wirkung auf die Unterdrücker, deren Autorität nicht nur durch den kurzzeitigen Kontrollverlust und den Rückzug der Wachposten untergraben wurde. Die anfängliche Panik, die offensichtliche Irritation und die in der Niederschlagung des Aufstands vorherrschende exzessive Brutalität der SS waren nur Ausdruck ihrer Unsicherheit, unter der die unmittelbar betroffenen Häftlinge nun leiden mussten. Die für das gesamte Sonderkommando aussichtslose Revolte mit ihren katastrophalen Folgen machte, der polnischen Soziologin und ehemaligen Häftlingsfrau Anna Pawelczynska zufolge, für den entschlossenen Häftling jedoch Sinn: „Der Sieg, den er errang, vollzog sich in einer anderen Dimension: es war ein Sieg in der Welt der Werte“. Dieser Sieg wurde selbst von unbeteiligten Häftlingen als Ausdruck von Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit anerkannt, von der SS dagegen als symbolischer Akt umso rücksichtsloser und grausamer verfolgt.

Der in den Augen der SS ungeheuerliche Vorgang eines Aufstands privilegierter Häftlinge auf isoliertem und gesichertem Gelände sollte jedoch noch ein Nachspiel für die überlebenden Häftlinge haben und weitere Opfer fordern. Unmittelbar nach der Niederschlagung der Unruhen und nach der Sicherung der Krematoriumsgelände wurden von der politischen Abteilung erste Untersuchungen eingeleitet und Spuren gesichert. So mussten am 8. Oktober 1944 die überlebenden Häftlinge von Beschimpfungen und Schlägen begleitete Leibesvisitationen über sich ergehen lassen. Des Weiteren wurden sie unter strenge Bewachung gestellt, Funktionshäftlinge vereinzelt noch vor Ort verhört und ihre Unterkünfte mehrfach durchsucht. Zu den bereits erwähnten Misshandlungen wurden sie noch zusätzlich 24 Stunden lang bis zur Erschöpfung zu sogenannten Sportübungen gezwungen.

Nach der Zählung und Registrierung der Toten am Morgen des 8. Oktober wurden die Überlebenden zudem schichtweise in Gruppen zu 20 Mann zur Verbrennung ihrer gefallenen und ermordeten Kameraden in Krematorium I und II herangezogen. Die Leichen der auf der Flucht oder auf dem Gelände von Krematorium I erschossenen Sonderkommando-Häftlinge wurden in Krematorium I verbrannt, die auf dem Gelände der Krematorien III und IV verstreuten Leichen wurden dagegen zum Krematorium II transportiert und dort eingeäschert.

Die Leiden der hinterbliebenen Arbeitssklaven in der grauenhaften Todeszone von Birkenau setzten sich demnach fort, hinzu kamen neuerdings die körperlichen Schikanen und verschärften Kontrollen durch die SS, die die Lebensbedingungen der Häftlinge erschwerten.

Die Vernichtungsmaschinerie kam hingegen nur kurz ins Stocken. Bereits zwei Tage nach dem Aufstand wurden die Vernichtungsaktionen in der Todesfabrik fortgesetzt, allerdings wurden die Mordaktionen der folgenden zwei Wochen – die Vergasungen und Erschießungen von mehr als 40.000 Menschen – in über 90% der Fälle in den leistungsstärkeren Krematorien I und II durchgeführt. Daher wurden die überlebenden Sonderkommando-Häftlinge aus Krematorium II bereits am 09. Oktober 1944 auf die Krematorien I und II verteilt.

Zu der bitteren Enttäuschung über den Misserfolg des Aufstands und zu der lähmenden Niedergeschlagenheit der Häftlinge trat jedoch auch die berechtigte Furcht, dass die Ermittlungen der Lagergestapo eine Verstrickung der Überlebenden in die Allgemeinen Aufstandspläne aufdecken könnte. So wurden bereits drei Tage nach dem Aufstand des Sonderkommandos gegen elf Uhr nachts in Krematorium I 14 Häftlinge von der Lagergestapo abgeholt und im Gefängnisblock 11 des Stammlagers Auschwitz isoliert und verhört. Unter ihnen befand sich der letzte Überlebende aus der Führerschaft der Widerstandsbewegung im Sonderkommando, Jankiel Handelsmann, sowie der Sonderkommando-Häftling Wrobel, der als Verbindungsmann zu den weiblichen Häftlingen, die das Schwarzpulver zur Herstellung selbstgebauter Granaten entgegenahmen, fungierte. Sie wurden vermutlich bei dem Versuch ergriffen, das Krematorium noch in der Nacht vom 09. auf den 10.10.1944 in die Luft zu sprengen. Außerdem befanden sich unter den Verhafteten die letzten sechs Überlebenden der 19 Mann starken Gruppe sowjetischer Kriegsgefangener aus dem KL Majdanek in Lublin. Somit verblieben am 10. Oktober 1944 im Sonderkommando noch insgesamt 198 Häftlinge, darunter wahrscheinlich 151 polnische, 26 griechische, 5 slowakische, 4 französische, 2 ungarische und jeweils ein tschechischer, holländischer, deutscher, rumänischer und algerischer Jude sowie 5 nicht-jüdische Polen. 154 Mann wurden zur Zwangsarbeit auf die Krematorien I und II verteilt und 44 Mann in Krematorium IV herangezogen.

    

Inhaftierungsort der Aufständischen in Block 11 des Stammlagers, © A. Kilian 1992

Die von der Lagergestapo verhörten 14 Häftlinge wurden schließlich am 20. Oktober 1944, als die ersten Abbrucharbeiten auf dem Krematoriumsgelände I und II bereits eingesetzt hatten, in die Todeszone rücküberstellt und im Waschraum von Krematorium I erschossen. Beim Absteigen von den Transportfahrzeugen sollen dabei die russischen Häftlinge noch erbitterten Widerstand geleistet und eine Schiesserei ausgelöst haben. Sie wehrten sich mit bloßen Fäusten und verletzten dabei zwei Kommandoführer, darunter den 25-jährigen SS-Unterscharführer Josef Eckhardt, im Gesicht.


3.5 Weiterleben für den Augenblick

Das Ausbleiben weiterer Verhaftungen sowie die Verlegung der restlichen Häftlinge in Block 13 des Männerlagers B II d am 01. November 1944 legt die Vermutung nahe, dass die Ermittlungen der politischen Abteilung in bezug auf das Sonderkommando Ende Oktober abgeschlossen wurden. Die Überlebenden wurden von den Vergeltungsmaßnahmen der SS verschont, doch gerettet waren sie damit noch nicht. Die letzte Hoffnung zu überleben gaben schließlich sogar die Sonderkommando-Häftlinge mit den größten Privilegien auf: Die nicht-jüdischen polnischen Kapos, denen sogar gestattet wurde lange Haare sowie Armbanduhren zu tragen, schenkten den Versprechungen der SS, in ein anderes Lager ins Reichsinnere überstellt zu werden, keinen Glauben mehr. Von ihnen wagte Kapo Morawa als Einziger die Flucht: Ende Oktober 1944 – möglicherweise am 29. Oktober – gelang es ihm, sich unter die Häftlinge zu mischen, die im sogenannten Zigeunerlager auf ihre Überstellung ins Reichsinnere warteten und erreichte durch Bestechung sogar seine Aufnahme in einen Evakuierungstransport. In letzter Minute konnte sein Fluchtvorhaben jedoch dadurch vereitelt werden, dass der Lagerälteste Danisch ihn zufällig in der zu deportierenden Häftlingsmasse erkannte. Morawas Kameraden, die mit ihm seit 1941 in den Auschwitzer Krematorien zusammenarbeiteten, der 35-jährige Maschinenschlosser Waclaw Lipka und der 34-jährige Lehrer Jozef Ilczuk, beteiligten sich dagegen aus Angst vor Repressalien nicht an der letzten Gelegenheit, der Todesfabrik noch zu entkommen.

Die veränderten Existenz- und Arbeitsbedingungen im Sonderkommando in den letzten drei Monaten vor der „Evakuierung“ des KL Auschwitz-Birkenau am 18. Januar 1945 erlaubten es den überlebenden Aktivisten der Widerstandsbewegung im Sonderkommando nicht mehr, eine weitere Revolte zu wagen. Das gewaltsam reduzierte Arbeitskommando setzte sich am Ende seiner Existenz mehrheitlich aus erfahrenen Häftlingen zusammen, die nicht mehr bereit waren, ein größeres Risiko einzugehen. Stattdessen versuchten sie, noch so viele Beweismittel wie möglich auf dem Gelände der Krematorien zu verstecken: Überreste und persönliche Gegenstände der Opfer sowie schriftliche Zeugnisse über die Verbrechen der Deutschen. Bis zuletzt dokumentierten sie die Ereignisse in der Todeszone und bewahrten damit ihre tragische Geschichte vor dem Vergessen. Die auswegslose Situation stärkte schließlich die einflussreichen Kräfte im Sonderkommando, die schon seit längerem ihre ganze Hoffnung auf die nur allzu geringe Möglichkeit einer Befreiung durch die Sowjetarmee setzten und zum Abwarten aufforderten. Das Scheitern des ersten günstigen Aufstandstermins am 28. Juli 1944 führte schließlich geradewegs in die Katastrophe vom 07. Oktober 1944 und in ein Andauern des tragischen und unentrinnbaren Schicksals des jüdischen Sonderkommandos, das mit seiner Einberufung von der SS-Führung unwiderruflich zum Tode bestimmt wurde.

Die Geschichte des jüdischen Widerstands im Sonderkommando von Auschwitz-Birkenau belegt damit, dass erstens selbst in der unmenschlichsten Situation kontinuierlicher und organisierter Widerstand möglich war, dass zweitens sogar ein gemeinsames Häftlings-Schicksal weder Uneinigkeit noch massive Interessenkonflikte verhindern konnte, dass diese Diskrepanz drittens überdies wohldurchdachte Widerstandspläne zum Scheitern führen konnte und dass viertens auch eine letztlich erfolglose Widerstands-Aktion große Bedeutung für die Gegenwart und die Zukunft haben kann.


Schauplatz des Aufstands bei Krematorium III, © A. Kilian 1995


(Letzte Änderungen: 10.02.2004 und 01.04.2005)


Hinweise:

 Dieser Artikel ist mit zum Teil anderem Bildmaterial versehen in drei Ausgaben des Mitteilungsblattes der „Lagergemeinschaft Auschwitz – Freundeskreis der Auschwitzer“ erschienen:

Kilian, Andreas: Der Aufstand der Verlorenen. Teil 1: In tiefster Verzweiflung, tragischer Hilflosigkeit und ungebrochenem Überlebensdrang, in: Mitteilungsblatt der Lagergemeinschaft Auschwitz, Freundeskreis der Auschwitzer, 22.Jg., H.2, (2002), S.14-28.

Kilian, Andreas: Der Aufstand der Verlorenen. Teil 2: Endstation Hoffnungslosigkeit: Ein Akt des letzten Augenblicks, in: Mitteilungsblatt der Lagergemeinschaft Auschwitz, Freundeskreis der Auschwitzer, 23.Jg., H.1, (2003), S. 16-29.

Kilian, Andreas: Der Aufstand der Verlorenen. Teil 3: Gespaltene Reaktion – Häftlingsverhalten zwischen Eskalation und Resignation, in: Mitteilungsblatt der Lager-gemeinschaft Auschwitz, Freundeskreis der Auschwitzer, 23.Jg., H.2, (2003), S. 16-26.

Der Autor dankt der Lagergemeinschaft Auschwitz, Freundeskreis der Auschwitzer e.V., Münzenberg, für die Zustimmung zur Veröffentlichung des Artikels auf www.sonderkommando-studien.de.

Der Artikel ist zudem am 27. Januar 2004 im 1996 gegründeten und seinerzeit größten deutschsprachigen Internet-Portal (mit monatlich etwa 120.000 Besuchern) zum Thema Holocaust und Nationalsozialismus, dem Online-Projekt „shoa.de“, sowie am 6. November 2004 auf dessen Nachfolge-Plattform „Zukunft braucht Erinnerung“ veröffentlicht worden.


Anmerkung:

Nach der Identifizierung des wahren Verfassers der französischsprachigen Sonderkommando-Schrift im Jahre 2018 muss der Name Chaim Herman durch Herman Strasfogel ersetzt werden. Neuesten Forschungsergebnissen zufolge sind im März 1943 nicht 100 Mann aus dem 49. Transport von Drancy ins Sonderkommando einverleibt worden, sondern nur ein Teil von ihnen. Weitere Änderungen und Aktualisierungen (z.B. in den beiden Fällen Konvoent und Errera) entnehmen Sie bitte dem folgenden Beitrag.



Die Erinnerung an den Sonderkommando-Aufstand:

zum 70. Jahrestag eines Symbols des Widerstands

 

Von Andreas Kilian

Die Erinnerung an den Sonderkommando-Aufstand vom 7. Oktober 1944 hat in den letzten Jahren einen Wandel erfahren, jedoch weniger inhaltlich als in Form und Umfang. Sie ist nun auch bei der „Digital-Generation“ oder „Generation Internet“ angekommen. Neben Meldungen bei Twitter (sogar von dem ältesten Sonderkommando-Überlebenden Dario Gabai), facebook (Auschwitz Memorial), diversen Blogger-Seiten und youtube (ein Beitrag sogar in Gebärdensprache und im Liveblogg) wurden in geringem Umfang Berichte und Kurz-Meldungen international in Internet-Zeitungen publiziert.

Insbesondere wurde in diesem Jahr durch den irischen Journalisten Damian Mac Con Uladh der Rolle der griechischen Sonderkommando-Häftlinge im Widerstand gedacht. Hintergrund der Berichterstattung war die Veröffentlichung des einseitigen Buches „Greeks in Auschwitz-Birkenau“ von Photini Tomai aus dem Jahre 2009, in dem erstmals eine Fotografie des Widerstandsaktivisten im Sonderkommando, Iosif Barouch, abgedruckt wurde, sowie der zeitgleich erschienene pathetische und unzutreffende Dokumentarfilm von Nikos und Constantin Pilavios „The revolt of the Greek Jews“ mit Heinz Kounio als Überlebendenhistoriker, der auf Primo Levis problematischer Sonderkommando-Darstellung basiert. Sowohl die darin genannte Anzahl der am Aufstand beteiligten griechischen Juden als auch deren veröffentlichte Namen können nicht bestätigt werden. Von den griechischen Sonderkommando-Häftlingen, die Auschwitz überlebten, nahm tatsächlich keiner am Aufstand teil, sie waren keine direkten Augenzeugen der Ereignisse. Von den aufständischen Griechen überlebte nur ein Mann die Revolte: Isaac Venezia, der in das benachbarte Effektenlager flüchtete, dort ergriffen und in das Krematorium II gebracht wurde, bevor auch er ermordet wurde.

Die nationalen Aspekte wurden in den letzten Jahren von griechischer Seite immer stärker polarisiert, was mit dem Erstarken des Antisemitismus in Griechenland und daraus resultierender verstärkter Aufklärungsarbeit begründet wird. Dreharbeiten zum in diesem Zusammenhang geplanten Spielfilm von Dimitri Vorris über die griechische Widerstandsgruppe im Sonderkommando wurden bereits für das Frühjahr 2011 mit hochkarätiger Besetzung angekündigt, konnten jedoch bisher aus finanziellen Gründen nicht begonnen werden. Immerhin wurde das Drehbuch des Regisseurs im Jahre 2012 unter den 50Viertel-Finalisten der „Shore Scripts Screenwriting Competition“ nominiert.

Ein Artikel in der sozialistischen Tageszeitung „Neues Deutschland“ von Christian Carlsen und Gideon Greif, zwei fehlerhafte Radiobeiträge im Kalenderblatt des Deutschlandfunks von Frank Kempe sowie in der Sendung Resonanzen des WDR3 von Henryk Jarcyk und ein Abriss auf der Bloggerplattform von Jonas Dörge aus dem „Bündnis gegen Antisemitismus Kassel“ umfassten die wesentlichen Gedenkbeiträge in Deutschland, wobei letztere auf einem zwanzig Jahre alten Forschungsstand basieren, was angesichts neuer zugänglicher Forschungsergebnisse nur verwundern kann.

        

Neue Gedenktafel für die vier Widerstandskämpferinnen im Stammlager Auschwitz, © A. Kilian 1994

Fundierte Informationen erhält der Leser hingegen aus Polen: über den Aufstand und die konspirativen Kontakte zwischen den Häftlingen schrieb in seinem aktuellen „historischen Blog“ der Auschwitz-Historiker Bohdan Piętka, über die Verbindung zu den Widerstandskämpferinnen Ester Wajcblum, Róża Robota, Ala Gertner und Regina Safirsztajn der Historiker Adam Cyra. Passend zum Gedenktag veröffentlichte der Verlag des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau das 39-seitige Bildheft „Bunt Sonderkommando“ (Sonderkommando-Aufstand) von Igor Bartosik, der die Ereignisse vom 7. Oktober 1944 in Wort und Bild nachzeichnet. Die Publikation wird derzeit ins Englische übersetzt und besticht durch zeitgemäße Fotoanalysen sowie durch die Veröffentlichung der wichtigsten Dokumente zum Thema. Hierbei rücken erst kürzlich entdeckte und erstmals am 24.05.2013 auf dem internationalen Sonderkommando-Symposium “The forced labourers of death. Sonderkommandos and Arbeitsjuden“ in Brüssel präsentierte Dokumente in den Mittelpunkt: das Fernschreiben der Gestapostelle Zichenau vom 8. Oktober 1944, aus dem die Namen der letzten drei vermissten Flüchtlinge (Aleksander Schenkarenko, Mosze Sobotko und Meier Pliszko; Letzterer einer von mehreren Häftlingen des Kommandos Kläranlage) und des von Sonderkommando-Häftlingen ermordeten deutschen Oberkapos Karl Toepfer hervorgehen sowie die Fluchtmeldung aus dem Rapportbuch, deren Eintragung irrtümlicherweise auf den „7.9.44“ datiert wurde. Zudem wurde in Ausstellungsblock 12 des Museums für mehrere Wochen eine temporäre Ausstellung zum 70. Jahrestag  gezeigt. Während vor 20 Jahren am Ort des Geschehens noch Zeitzeugen wie der ehemalige Angehörige des Feuerwehr-Kommandos Sigmund Sobolewski oder das ehemalige Mitglied im Lagerwiderstand, Israel Gutman, Reden hielten, stand der diesjährige Gedenktag im Zeichen der Jugendbildung: Vorträge im Rahmen des Internationalen Bildungszentrums im an das Krematoriumsgelände angrenzende Sauna-Gebäude sowie der Gedenkstätten-Besuch von 200 schottischen SchülerInnen rundeten die Gedenkveranstaltung ab.

   

Zeitzeugenberichte von S. Sobolewski und I. Gutman auf den Stufen zur Gaskammer von Krematorium III, © A. Kilian 1994

Die Medien, in denen das Thema Sonderkommando-Aufstand präsent ist, werden seit einigen Jahren auch immer jugendgerechter: Nachdem in den Spiel-Filmen „Die Passagierin“ von     Andrzej Munk und Witold Lesiewicz (PL 1963),  „Triumph des Geistes“ (USA 1989) von Robert M. Young und „Die Grauzone“ von Tim Blake Nelson (USA 2001) fälschlicherweise Krematorien in die Luft fliegen, Häftlinge sich auf dem Krematoriumsgelände mit Schusswaffen und Granaten zur Wehr setzten und reihenweise SS-Männer erschossen werden, fand das Ereignis auch Eingang in die Welt der Kunst (David Oleres pathetisches Gemälde „The symbol of the Sonderkommando revolt“), des Theaters (das überdramaturgisierte amerikanische Stück „The Grey Zone“, Januar 1996), der PC-Spiele (die israelische mit dem 3D-Port „Wolf4SDL spielbare geschmacklose Mod „Sonderkommando Revolt“, Januar 2011) oder des Comics („Episodes from Auschwitz: Bearers of Secrets“, Nr. 4 der polnischen Reihe von Michal Galek und Michal Pyteraf, 2013). Im Gegensatz zu Comics wie „Auschwitz“ von Pascal Croci oder Joe Kuberts „Yossel 19. April 1943“, in denen das Sonderkommando diffamiert wird, treten im Werk von Galek und Pyteraf historische Figuren wie Alter Feinsilber, Alex (Alberto) Errera, Jakub Kaminski, Abram und Shlomo Dragon, (Ober-)Kapo Karl und Krematoriumsleiter Otto Moll auf. Wesentliche Ereignisse im Sonderkommando, wie die Ermordung des bedeutenden Widerstandsführers Kaminski werden darin eingebettet. Doch trotz der historischen Nähe und gelungener Detailtreue werden auch hier vereinzelt Ereignisse überzeichnet.

Nicht nur in einigen der inzwischen zahlreichen Fernseh-Dokumentationen über das Sonderkommando war der Aufstand ein Thema, sondern auch in verschiedenen Dokumentarreihen über die Shoah: der Beitrag “Der Aufstand des Sonderkommandos” in “Die Wahrheit über Auschwitz” von Jörg Müllner und Ralf Piechowiak (D 1995) und  Laurence Rees Episode „Massenmord“ in der sechsteiligen Dokumentation „Auschwitz“ (GB 2005) seien hier beispielhaft erwähnt, da sie als Unterrichtsmittel gut einsetzbar sind. In den USA erfreuen sich hingegen e-learning-Sitzungen großer Beliebtheit. Zum 70. Jahrestag vermischt die einmalige Performance-, Film- und Installations-Arbeit „October 7, 1944“ von Jonah Bokaer verschiedene Darstellungsformen (New York, Oktober bis Dezember 2014), ist aber eher für ein kunstbegeistertes Publikum geeignet. Erstmals wurde mit Pavel Polians Buch „Scrolls from the ashes. Jewish Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau and its chroniclers“, Moskau/ Rostov am Don 2013, auch in Russland die Thematik ausführlicher bearbeitet. Das Thema ist somit auch internationaler präsent als es noch vor zehn oder zwanzig Jahren war, nicht nur auf Grund des Internets, sondern insbesondere wegen der Bedeutung, die inzwischen von zahlreichen Historikern anerkannt wird. In der Digitalen Bibliothek ist seit dem Jahre 2007 „der Auschwitz-Prozess“ in Wort, Ton und Bild-Dokumenten nachzuverfolgen, darunter auch Aussagen zum Aufstand und Berichte von Sonderkommando-Überlebenden, die gezielt gesucht werden können. Die größte Video-Interview-Datenbank stellt die 20 Jahre alte „USC Shoah Foundation – The Institute for Visual History and Education“ zur Verfügung, eine wahre Fundgrube für Anhänger der „Oral-“ oder „Visual- History“, die auch zahlreiche Aussagen zum Sonderkommando-Aufstand beinhaltet und diese teilweise sogar auf youtube (z.B. als online educational resource) zu sehen sind. Insofern können Primär-Quellen leicht über das Internet recherchiert und teilweise auch abgerufen werden.

Gedenkveranstaltung zum 50. Jahrestag des Aufstands in Birkenau, © A. Kilian 1994

Die Verbreitung des Themas im worldwide web ist vorteilhaft um das Geschehnis bekannter zu machen, doch welche Nachteile sind damit verbunden? Leider beruhen viele Berichte auf unzuverlässigen Quellen oder fantasiereichen Ausschmückungen, die das Ereignis auf sensationslüsterne Weise instrumentalisieren und verzerren. Die Bedeutung des Aufstands würde jedoch durch eine differenzierte Betrachtung nicht geschmälert, stattdessen könnte die Glaubwürdigkeit der Darstellung gestärkt werden. Übertriebene Darstellungen schaden dem Gedenken an die Aktionen und an die Opfer mehr als dass sie ihm dienen könnten. Die Auschwitz-Forschung hat den Aufstand in den letzten Jahren teilweise näher beleuchtet und damit auch mehr gewürdigt. Neue Erkenntnisse sind dabei kaum zum Vorschein gekommen. Die beiden oben genannten und von Historikern des Auschwitz-Museums neu entdeckten Dokumente bilden hierbei eine Ausnahme, wobei sie den bisher rekonstruierten Ablauf der Ereignisse nicht beeinflussen. Eine dritte Ausnahme ist das konkrete Fluchtdatum des bekannten Widerstandsaktivisten im Sonderkommando und Fotografen der illegalen Aufnahmen einer Verbrennungsgrube im Hof von Krematorium IV, Alberto Errera, der auf der Flucht tödlich verwundet wurde. In einer 2013 von Igor Bartosik präsentierten lagerinternen Fluchtmeldung vom 9.8.44 kann das Ereignis zweifelsfrei nachgewiesen werden. Damit muss aber auch die Datierung der illegalen Fotografien korrigiert werden.

Eine umfangreiche und vollständige Darstellung in Form einer Monografie steht jedoch noch aus. Stattdessen beherrschen weiterhin oftmals Mythen, die über das Internet kolportiert werden, die öffentliche Meinung. Vor dem Hintergrund verschiedener Blickwinkel, Kenntnisstände und individueller Erinnerungskulturen der Überlebenden und Nachgeborenen werden die unterschiedlichen Darstellungen und Schwerpunktsetzungen in der Thematik verständlich.

Der erstmalige Einsatz von Handgranaten auf dem Krematoriumsgelände durch die SS in Verbindung mit der Brandstiftung in der Unterkunft von Krematorium III durch Häftlinge, führte beispielsweise zu der irrigen Annahme, das Sonderkommando hätte das Krematorium gesprengt. Der massive Einsatz von Schusswaffen führte ferner zu dem Missverständnis, das Sonderkommando habe selbst Pistolen und Maschinengewehre zur Verteidigung benutzt. Zeugenberichten zufolge wurden jedoch nur Messer, Steine, Äxte und andere Werkzeuge im Kampf eingesetzt. Die 12 verwundeten und 3 getöteten SS-Angehörigen Rudolf Erler, Willi Freese und Josef Purke wurden wahrscheinlich im mutigen Einzelkampf mit Hieb- und Stichwaffen angegriffen. Die Opfer unter der SS gehörten nicht zum Krematoriums-Personal, das sich rechtzeitig in Sicherheit brachte, sondern zu Angehörigen der SS-Alarmeinheiten, die die Verfolgung der Flüchtigen aufnahmen und nicht mit einem bewaffneten Angriff gerechnet hatten.

Die Geschichte des Aufstands ist auch deshalb differenziert zu betrachten, weil es sich letztlich um zwei verschiedene Aktionen handelte: während sich einzelne Häftlinge vor Krematorium III der Selektion widersetzten und keine Fluchtmöglichkeiten nach Außen hatten, unternahmen von den Häftlingen in Krematorium I einige einen Massenausbruch, ohne eine Gegenwehr der Krematoriums- SS befürchten zu müssen. Die schnelle Verfolgung durch SS-Alarmeinheiten vereitelte ihre Pläne jedoch schnell. Kein einziger Flüchtling überlebte.

Vielen hat der Aufstand das Leben verkürzt und damit die Befürchtung bestätigt, die dafür verantwortlich war, dass der Aufstandstermin immer wieder verschoben wurde. Der vernunftbestimmte Überlebenswille und die Hoffnung, doch noch wie durch ein Wunder das Vernichtungslager zu überleben, war für viele stärker, als ihr Mut zu revoltieren. Selbst nach Beginn des Aufstands und dem Beschuss durch die SS versuchten Häftlinge sich verzweifelt durch Flucht vom Hof des Krematoriums III auf das gegenüberliegende Gelände von Krematorium IV zu retten und dadurch den Erschießungen zu entgehen. In wenigen Fällen glückte es, in den meisten nicht. Einerseits wurden Unbeteiligte strafweise von der SS durch Genickschuss ermordet, andererseits wurden selbst angeschossene Sonderkommando-Häftlinge von SS-Angehörigen gerettet und in das Krankenbaulager überstellt. Im Chaos des Ausnahmezustands war vieles möglich.

Die Furcht vor einem aussichtslosen Kampf und Gemetzel war für viele letztlich größer als der Wunsch, im Kampf als Held oder Rächer zu fallen, war doch die Gelegenheit zu einem Kampf mit der SS äußerst gering und das Kräfteverhältnis sehr ungleich. So blieb die Revolte auf dem Hof von Krematorium III auf die Aktion weniger Einzelkämpfer beschränkt. Der Historiker Prof. Bowman bezeichnete diese als „Selbstmord-Gefecht“. Eine Massenflucht bot keine Perspektive und die Zerstörung der Vernichtungseinrichtungen, der Krematoriumsanlagen, war ein hohes Ziel, das zwar geplant, aber tatsächlich nicht umgesetzt wurde. Krematorium III, das zu diesem Zeitpunkt lediglich als Sonderkommando-Unterkunft für 200 Häftlinge diente, wurde immerhin durch Brandstiftung stark beschädigt. Einen Einfluss auf die Tötungsmaschinerie hatte dies indes nicht. Den Bestand des Sonderkommandos reduzierte der Aufstand allerdings  um 451 Mann.

Gedenkveranstaltung zum 50. Jahrestag des Aufstands in Birkenau, © A. Kilian 1994

Symbolisch hatte der Aufstand trotz alledem einen hohen Wert, insbesondere für die demoralisierten Lagerhäftlinge, aber auch für die scheinbar unverwundbare SS. Widerstandsaktionen mussten zwar grundsätzlich von der Lagerführung und den Bewachern erwartet werden, doch im System der gut funktionierenden Todesfabrik Auschwitz kam die Revolte letztlich doch überraschend. Zu diesem Zeitpunkt bestand das Sonderkommando bereits seit fast zwei Jahren. Die am längsten angehörigen Häftlinge aus Polen, Weißrussland, Litauen, der Slowakei und Frankreich, aber auch jüngere Zugänge anderer Nationalitäten genossen das Vertrauen der Krematoriums-SS, die sich die Protektion und Privilegierung der Häftlinge teuer bezahlen ließ. In der isolierten Todeszone entstand zwangsläufig ein ungleiches Abhängigkeitsverhältnis. Tatsächlich waren Anfang Oktober 1944 nur insgesamt 12 SS-Posten in allen vier Krematorien und in zwei Schichten eingesetzt, in der Tagschicht jeweils sogar nur ein Wachposten. Der Anlass des Aufstands bei Krematorium III, eine Selektion im Sonderkommando, führte weder vor, noch nach dem 7. Oktober zu ähnlichen Ausschreitungen und Kämpfen. Insofern ist der Aufstand des Sonderkommandos vom 7. Oktober 1944 einmalig in der Geschichte des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau und war als Akt des Widerstands eines der wichtigsten Ereignisse in der Lagerhistorie.

In der Erinnerungspolitik der Überlebenden und Nachgeborenen hat er bis zum heutigen Tag wesentliche Bedeutung:

 „Ich glaube nicht, dass es so sehr mit Mut zu tun hatte, was wir getan haben, als mehr mit der Vorstellung, uns nicht entwürdigen zu lassen. (…) Es gab da diesen Willen in uns, der uns leitete und der uns sagte, dass wir Menschen sind und deshalb das Recht hatten, in Würde zu sterben und nicht wie Vieh abgeschlachtet zu werden.“

Anna Heilmann, Schwester von Ester Wajcblum


(Letzte Änderung: 07.10.2014)


Hinweis:

 

Dieser Artikel ist mit zum Teil anderem Bildmaterial versehen in folgender Ausgabe des Mitteilungsblatts der „Lagergemeinschaft Auschwitz – Freundeskreis der Auschwitzer“ erschienen:

Kilian, Andreas: Zum 70. Jahrestag eines Symbols des Widerstands. Erinnerung an den Aufstand des jüdischen Sonderkommandos. In: Mitteilungsblatt der Lagergemeinschaft Auschwitz, Freundeskreis der Auschwitzer, 34.Jg. (2014), S. 40-47.

Der Autor dankt der Lagergemeinschaft Auschwitz, Freundeskreis der Auschwitzer e.V., Münzenberg, für die Zustimmung zur Veröffentlichung des Artikels auf www.sonderkommando-studien.de.



Augenzeugenbericht über den einzigen überlebenden Flüchtling des Sonderkommando-Aufstands

Erinnerungen des ehemaligen SS-Unterscharführers im Effektenlager „Kanada“ in Birkenau, F. W., im Gespräch mit Andreas Kilian

 

Bei dem Aufstand, das muss ein Samstag oder Sonntag gewesen sein, sind zufällig zwei von unserem Kommando gekommen, die wollten nach Kattowitz sich vergnügen fahren. Die sind gerade zum Tor gekommen, wie der mit der Maschinenpistole die in Schach gehalten hat, die siebzig oder achtzig Mann. Da wo der Eingang war, stand der Posten und hat die nicht herausgelassen. Mit der Maschinenpistole bewaffnet hat der natürlich die ersten, die da hingekommen sind, erschossen und dann haben sie sich nicht mehr getraut…

Die Zwei von unserem Kommando, die sind dann noch glaube ich belobigt worden, die haben sich dem angeschlossen und die haben die solange in Schach gehalten, bis die Einsatztruppe gekommen ist und dann war es schon zu spät…

Wenn die zu uns rübergekommen wären, zu meinem Kommando, die hätten sich angeschlossen. Mich hätten sie auch umgebracht und diejenigen, die zu mir gehalten haben, die wären ja dann die Kollaborateure gewesen.

Wenn da meine Häftlinge mitgemacht hätten, die waren ja alle gut genährt, dann hätte was daraus werden können. Ich hatte ja einige, die wollten gar nicht mehr antreten und da hab ich meinen Karabiner vom Pepek bringen lassen. Ganz zum Schluss, wie der Aufstand war, da haben wir vielleicht einen Monat vorher jeder einen Karabiner bekommen, dänische Karabiner, vielleicht weil die Front nähergekommen ist.  Der Pepek ist gerannt und einige sind zu ihm hin und wollten ihm das Gewehr wegnehmen. Das hat er bis zu mir hergebracht, weil, wenn ich weg gehe, dann rebellieren sie und ich wusste, da muss ich stehen bleiben. Ich hab ein paar Mal gesagt sie sollen antreten und hinterher haben alle gesagt, wir dachten, wir gehen dann drauf…

Im „Kanada“-Lager eingesetzte SS-Angehörige, 1943: Emanuel Glumbik, Gerhard Effinger, Karl Kühne, F. W. und Waldemar Bedarf (von links nach rechts); aus dem Nachlass von G. Effinger, Foto-Archiv A. Kilian

Vom Krematorium ist einer zu uns rübergekommen, durch den Draht und hat sich in Baracke 14 versteckt, ein griechischer Jude. Als der Grieche unter den Draht gekrochen ist, stand der nicht unter Strom, der hat sich aber am Stacheldraht verletzt und hat geblutet. Einer von meinen Häftlingen hat das gesehen, wie der da reingeht und mich gerufen. Ich war ganz am Ende von unserem Lager gestanden, als der mich suchen kam. Da bin ich hin und habe den raus gerufen. Vor Gericht haben dann zwei Schwestern behauptet, dass ich den Griechen geschlagen habe, aber die haben das gar nicht gesehen, nur dass er blutet. Manche haben dann gesagt, ich habe diesen griechischen Juden da erschossen, gesehen hat es keiner.

SS-Freizeitaktivität am Wochenende an der Weichsel, 1943, Aufnahme von Emanuel Glumbik, Max Stumpfe, Gerhard Effinger, Karl Kühne und Waldemar Bedarf (von links nach rechts; Nachlass Effinger, Foto-Archiv Kilian)

Die Suchkommandos waren mit Stahlhelm und Gewehr ausgerüstet, denen hab ich dann den Häftling übergeben und noch gesagt, der hat nicht mitgemacht, bitte lasst den am Leben.  Natürlich werden sie den erschossen haben…

(Abschrift von Mitschrift und Erinnerungsprotokoll vom 1. April 1998)

SS-Freizeitaktivität am Wochenende an der Weichsel, 1943, Aufnahme von Emanuel Glumbik, Gerhard Effinger, F. W., Waldemar Bedarf und Karl Kühne (von links nach rechts; Nachlass Effinger, Foto-Archiv Kilian)

Fluchtrekonstruktion des SS-Zeugen F. W., 1971; Nachlass G. Effinger, Archiv A. Kilian


Historische Anmerkungen von Andreas Kilian:

 

Im Gegensatz zum Aufstand beim Birkenauer Krematorium III fand in Krematorium I kurz darauf eine Massenflucht statt, die kein Häftling überlebte. Hierüber liegen mehrere Augenzeugenberichte sowohl von Überlebenden als auch von ehemaligen SS-Angehörigen, die sich an der Suche beteiligten, vor zudem blieben zwei Fluchtmeldungen erhalten. Die Fluchtroute lässt sich daher annähernd bestimmen. Laut Fernschreiben der Gestapo wurden am Folgetag noch vier Mann vermisst, darunter der reichsdeutsche Oberkapo des Sonderkommandos, der von den Häftlingen jedoch während des Aufstands verbrannt worden war sowie ein Vorabeiter aus dem angrenzenden Kommando „Kläranlage B I“, dessen Bruder Kapo im Krematorium II gewesen war. Durch die zeitgenössische Dokumentation kann der Mythos von der erfolgreichen Flucht von 27 Häftlingen während des Aufstands, die bis nach Dachau gelangt sein sollen (Kraus/Kulka, Todesfabrik, 1991, S. 358 – ohne Quellenangabe; tatsächlich stammt die Behauptung aus dem phantasiereichen Bericht von Shaye Gertner, der behauptete, aus dem Sonderkommando am 18.01.1944 geflohen zu sein), jedenfalls zweifelsohne widerlegt werden.

Der Aussage einzelner griechischer Sonderkommando-Überlebenden zufolge hat dieser einzige Flüchtling von den Waldkrematorien III und IV den Aufstand allerdings überlebt. Laut Maurice Venezia (Häftl.-Nr. 182.728), der von ihm kurz nach dem Ereignis dessen Augenzeugenbericht persönlich erzählt bekam, handelte es sich bei dem Flüchtling um Isaacquino Venezia (Interview mit Gideon Greif und Andreas Kilian vom 14.09.1997). Da er zur Belegschaft von Krematorium II gehörte und vor dem Aufstand zu den Waldkrematorien überstellt worden war, konnte er vorschriftsgemäß in Begleitung von SS-Wachen verletzt zu seinem Kommando zurück gebracht werden. Isaacquino Venezia überlebte Auschwitz und gelangte mit den letzten Überlebenden des Sonderkommandos auf Evakuierungstransport in andere Lager.

Auch Daniel Bennahmias (Häftl.-Nr. 182.477) sprach in Krematorium II mit dem Flüchtling, allerdings erinnerte er sich irrtümlicherweise daran, dass Isaacquino Venezia die Flucht bis zu Krematorium II gelungen sei (möglicherweise auch einer der zahlreichen Interpretationsfehler in Rebecca Fromers Buch „The Holocaust Odyssey of Daniel Bennahmias, 1993, S. 70f.). Bennahmias zufolge stammte Isaacquino aus Saloniki.

In seinem 1996 veröffentlichten Buch „From Greece to Birkenau“ verwechselt der Sonderkommando-Überlebende Leon Cohen (Häftl.-Nr. 182.492) Isaacquino Venezia mit „Albert Nadjary, if I am not mistaken“ (gemeint ist Marcel Nadjary, Häftl.-Nr. 182.669, S. 88), der als Verbindungsmann der Widerstandsgruppe zu Krematorium IV gesandt worden sein soll, sich während des Aufstands ein Bein gebrochen hätte und noch am selben Tag von SS-Wachen zu Krematorium II zurück gebracht worden sei.

Auch der Zeuge Shaul Chasan (Häftl.-Nr. 182.527) irrt, wenn er mehrere Ereignisse vermengt und die Flucht dem Sonderkommando-Kameraden Raoul Jachon (Häftl.-Nr. 182.718) zuschreibt. Im Interview mit Gideon Greif in: „Wir weinten tränenlos“, S. 322, gab er zu Protokoll: „Vom Krematorium III war Raoul Jachun (…) geflohen und zu uns gekommen, zu seinem Bruder. (…) Er erzählte uns, dass im Krematorium III das Sonderkommando Matratzen verbrannt und so das ganze Haus in Brand gesteckt hatte. Sie waren dann wohl alle umgebracht worden. Später kamen die Deutschen wie immer, um uns zu zählen. Sie merkten, dass einer zu viel war. Nachdem sie herausgekriegt hatten, dass es Raoul war, erschoss man ihn auf der Stelle.“

Foto: Maurice Venezia 1997 © A. Kilian

Der einzige Häftling, der auf dem Gelände von Krematorium II am 7. Oktober 1944 ermordet wurde, war kein Grieche und wurde getötet, weil er das Dienstfahrrad des SS-Kommandoführers Ackermann beschädigt hatte.

Dem Augenzeugen Maurice Venezia zufolge sei Isaacquino Venezia bei einem Fluchtversuch vom Bahntransport durch die SS erschossen worden. Vor seiner Befreiung in Gunskirchen (Außenlager Wels I) traf Marcel Nadjary seinem 1947 verfassten Überlebendenbericht zufolge im April 1945 im sogenannten Zeltlager von Mauthausen einen „Isaac“ Venezia wieder, den er mit dessen Bruder Dinos im Februar 1945 im Nebenlager Melk kennengelernt hatte (Marcel Nadjary, Manuskripte 1944-1947 – Von Thessaloniki zum Sonderkommando von Auschwitz, Athen 2018 [in Griechisch], S. 108). Offenbar handelte es sich hierbei jedoch um einen anderen Isaac Venezia.

Jennie Adatto Tarabulus widmete Isaacquino Venezia in ihrem Gedicht „O My Brethren!“ zwei Zeilen: „and we have heard of the only one to remain alive – from the brave revolt of Auschwitz ´44.” ; in: Levy, Isaac Jack (Ed.): And the World Stood Silent. Sephardic Poetry of the Holocaust, Urbana/Chicago 1989, S. 207; Die Verfasserin gibt in der entsprechenden Anmerkung auf S. 219 an, dass der Name des „Einzigen“ „Itzhah“ Venezia gewesen sei, er italienischer Staatsbürger gewesen wäre und aus Saloniki stammen würde. Desweiteren überliefert sie eine ausgeschmückte Version seiner Heldengeschichte: „Als die Wände des Krematoriums einstürzten, schaffte er es, zu einem Stacheldrahtzaun zu kriechen, der das Gebiet umgab, fand eine Öffnung, kroch hindurch und in den Bereich des Krematoriums 3, wo die Überlebenden erschossen wurden. Doch ein Kapo aus dem benachbarten Krematorium 4, der ihn kannte, bat die SS-Wache, ihn freizulassen, da er zusätzliche Helfer brauchte.“ Venezia wäre später an Erschöpfung im Lager Ebensee gestorben.

Laut Verstorbenen-Verzeichnis der Gedenkstätte Mauthausen starb ein am 27.11.1918 in Saloniki geborener „Isacco“ Venezia am 27.4.1945 in Ebensee. Fraglich ist, ob es sich dabei um einen weiteren I. Venezia handelt.

Das Schicksal des einzigen überlebenden Flüchtlings des Sonderkommando-Aufstands bleibt aufgrund widersprüchlicher Aussagen und fehlender biografischer Daten ungeklärt. Die Vermutung, dass er das Kriegsende überlebt haben und nach Griechenland zurückgekehrt sein könnte, ist jedoch zweifelhaft.


(Letzte Änderung: 07.10.2014)




Hinweis:

 

Dieser Artikel ist mit zum Teil anderem Bildmaterial versehen in folgender Ausgabe des Mitteilungsblatts der „Lagergemeinschaft Auschwitz – Freundeskreis der Auschwitzer“ erschienen:

Kilian, Andreas: Ein Ereignis während des Aufstands des jüdischen Sonderkommandos im Vernichtungslager Birkenau, In: Mitteilungsblatt der Lagergemeinschaft Auschwitz, Freundeskreis der Auschwitzer, 38.Jg., H. 2 (2018), S. 11-14.

Der Autor dankt der Lagergemeinschaft Auschwitz, Freundeskreis der Auschwitzer e.V., Münzenberg, für die Zustimmung zur Veröffentlichung des Artikels auf www.sonderkommando-studien.