„…so dass mein Gewissen rein ist und ich am Vorabend

meines Todes stolz darauf sein kann.“

 

„Handlungsräume“ im Sonderkommando Auschwitz am Beispiel der Widerstandsaktivisten

in den Krematorien von Auschwitz-Birkenau

von Andreas Kilian

Gelände der Verbrennungsgruben und des Vergasungsbunkers 2, Brzezinka, © A. Kilian 1995

Die Geschichte der jüdischen Sonderkommandos von Auschwitz begann im Mai 1942 mit dem Beginn der systematischen Massenvernichtung der Juden aus Ostoberschlesien im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Zunächst wurden eine jüdische Arbeitsgruppe im Krematoriumskommando des Stammlagers Auschwitz sowie in Räumungs- und Begrabungskommandos bei den provisorischen Gaskammern in Birkenau eingesetzt. Im September 1942 folgte die Aufstellung eines Exhumierungs- und Verbrennungskommandos bei den Massengräbern in Birkenau. Im März 1943 begann die schrittweise Umwandlung der bis zu diesem Zeitpunkt unter freiem Himmel arbeitenden Sonderkommandos in vier Birkenauer Krematoriumskommandos. Schätzungsweise 99% der Sonderkommando-Häftlinge waren Juden. Im Jahre 1944 befanden sich 19 wahrscheinlich mehrheitlich nicht-jüdische sowjetische Kriegsgefangene mit den Häftlingsnummern R-11532 bis R-11550, ein nicht-jüdischer Deutscher sowie fünf nicht-jüdische Polen, die bereits in den Jahren 1940–1943 im alten Krematorium des Stammlagers zur Arbeit herangezogen wurden, im Sonderkommando. Nach Einstellung der Vernichtungsaktionen in Auschwitz-Birkenau im Oktober 1944 wurden überlebende Sonderkommando-Häftlinge großteils noch bis kurz vor der Lagerevakuierung am 18.01.1945 im Abbruchkommando Krematorium eingesetzt.

Zu den Hauptaufgaben des Sonderkommandos gehörte es, die zur Vernichtung bestimmten zu empfangen und zu beruhigen, ihnen beim Entkleiden zur Hand zu gehen, für einen raschen und reibungslosen Auskleidungsprozess zu sorgen, Gebrechliche in die Gaskammern zu tragen sowie nach der Ermordung die Gaskammern zu leeren und zu reinigen, die Leichen der Opfer auf Wertsachen zu untersuchen, ihnen die Haare abzuschneiden und das Schnitthaar für die industrielle Verwertung zu reinigen, Goldzähne auszureißen, Prothesen abzunehmen, die Körper zu verbrennen, die Knochenreste zu zerschlagen und die Asche zu verstreuen sowie die in den Entkleidungsräumen verbliebene Habe der Opfer einzusammeln und zum Abtransport vorzubereiten. So waren sie die einzigen Zeugen, die im Zentrum der Vernichtung eingesetzt waren, und die Letzten, die mit den Opfern noch kurz vor deren Ermordung in Kontakt kamen. Wegen ihres Wissens um die unter höchster Geheimhaltung organisierten Massenmorde wurden die Sonderkommando-Häftlinge als so genannte Geheimnisträger bezeichnet. Da sie aus eigenem Erleben um die Vorgänge in den Gaskammern wussten, sollten sie den Abschluss der Vernichtungsaktionen selbst nicht überleben.

Detailaufnahme des Krematoriumsmodels von Mieczyslaw Stobierski in der Dauerausstellung des Museums Auschwitz, © A. Kilian 2016

Das Auschwitzer Sonderkommando hatte somit sowohl Kontakt zu toten wie auch zu den kurz vor ihrer Ermordung stehenden Opfern. Dadurch wurde ein Informationsaustausch mit den Lebenden möglich, andererseits waren sie Schuldzuweisungen und Kollaborationsvorwürfen einiger Opfer oder anderer Häftlinge ausgesetzt. Das negative Image des Sonderkommandos war so weit verbreitet, dass z.B. Hannah Arendt schrieb: „[…] sie hatten strafbare Handlungen begangen, um sich vor einer unmittelbaren Lebensgefahr zu retten. […] Die Selektion und Klassifikation der Arbeiter in den Lagern wurde von der SS getroffen, die eine ausgeprägte Vorliebe für kriminelle Elemente hatte; es konnte sich da in jedem Fall nur um die Auswahl der Schlechtesten handeln.“

Ihr Schicksal, als unfreiwillige Augenzeugen des Massenmordes nach dem Krieg für ihre Handlungen und ihr Überleben im Konzentrationslager angefeindet zu werden, verschärfte das Schuldempfinden der Sonderkommando-Angehörigen. Ihre Aufgaben führten sie in ein tiefes moralisches Dilemma, das von Selbstverachtung und Selbstvorwürfen geprägt war. Diese psychische Extremsituation, von Primo Levi einst als „Grauzone“ bezeichnet, hatte auch maßgeblichen Einfluss auf die Widerstandsaktivitäten der Sonderkommando-Häftlinge: Entweder lähmte sie jeglichen Widerstandswillen und führte zu völliger Gleichgültigkeit der Betroffenen oder sie motivierte die zutiefst gedemütigten, entwürdigten und seelisch zerstörten Häftlinge geradewegs zu einer Tat der Rache. Nur eine Minderheit der Widerstandswilligen hatte jedoch bereits vor ihrer Deportation nach Auschwitz Erfahrungen in politischer und konspirativer Arbeit. Aus dieser Minderheit schlossen sich Häftlinge zu konspirativen Gruppen zusammen und planten einen Häftlingsaufstand. Die Aufstandsplanung entwickelte sich sukzessive. Den eingeweihten Häftlingen ging es weniger darum, das eigene Leben zu retten als vielmehr den Vernichtungsbetrieb aufzuhalten.

   

Hof der Blöcke 1 (Strafkompanie) und 2 (Sonderkommando) in Lagerabschnitt BIb, © A. Kilian 1992; Höfe der Blöcke 13 (Sonderkommando) und 11 (Strafkompanie) in Lagerabschnitt BIId, © A. Kilian 2004; Aufnahme aus dem Block im Jahre 1945 von Arnoszt Rosin (unten) , Archiv A. Kilian

Die Sonderkommando-Häftlinge lebten streng isoliert. Einige Kontakt- und Austausch-Möglichkeiten mit Häftlingen anderer Arbeitskommandos gab es jedoch, da eine lückenlose Überwachung unmöglich war. Diese Kontakte wurden nicht nur während der Zeit aufrechterhalten, in der die Sonderkommandos im Isolierblock 2 in Bauabschnitt B I b bzw. ab Juli 1943 in den Blöcken 13 und später 11 in Bauabschnitt B II d untergebracht waren, sondern auch noch nach Mai 1944, als die einzelnen Sonderkommandos direkt in die drei Sicherheitszonen der vier Krematorien überstellt und auf den Dachböden der Krematorien I und II sowie im Entkleidungsraum des außer Betrieb stehenden Krematoriums III untergebracht wurden.

Nach mehreren gescheiterten individuellen Fluchtversuchen und dem Verrat einer geplanten Massenflucht wurde das gesamte erste 400 Mann zählende Sonderkommando am 09.12.1942 liquidiert. Zuvor, zwischen Mai und Dezember 1942, wurde das Sonderkommando nie systematisch liquidiert. Infolge der hohen Krankenrate unter den Häftlingen kam es jedoch zu regelmäßigen Selektionen der geschwächten und kranken Sonderkommando-Häftlinge, die im Krankenbau des Stammlagers Auschwitz durch Phenol-Injektionen ermordet wurden. Diese von Überlebenden des Häftlingskrankenbau-Personals belegten Selektionen führten zu der durch Überlebendenberichte verbreiteten irrtümlichen Annahme, dass das Sonderkommando nach jeder Vernichtungsaktion ermordet worden sei.

Das am 09.12.1942 von der SS neu gebildete Sonderkommando bestand aus 300 Häftlingen und wurde im März 1943 auf 400, im Mai 1944 auf 874 Häftlinge aufgestockt. Insgesamt wurden in den Jahren 1942–1945 mindestens 2.200 Häftlinge ins Sonderkommando eingewiesen, der Häftlingsbestand schwankte jedoch besonders bis Ende 1943 aufgrund der hohen Sterblichkeit und auch seit Februar 1944 infolge der Selektionen am 24.02., 26.09., 07.10. und 26.11.1944 ständig. Die hohe Sterblichkeit durch Krankheiten und Unterernährung im Sonderkommando bis zum Februar 1944 belegen auch die wöchentlichen Selektionen der so genannten arbeitsunfähigen Sonderkommando-Häftlinge. Die Zwangsarbeit an den provisorischen Vergasungsbunkern, die von brutalem Terror der SS, Hunger, Durst, mangelnder Hygiene, der vom Wetter beeinträchtigten Arbeit im Freien und Krankheiten begleitet wurden, widerspricht dem gängigen Bild von den guten Lebensbedingungen des Sonderkommandos. Diese Fluktuation schwächte die Widerstandsaktivisten im Sonderkommando zahlenmäßig wie moralisch. Die ersten beiden Liquidationen des Jahres 1944 erfolgten aufgrund des Rückgangs der Vernichtungstransporte und dem damit verbundenen Arbeitsmangel, aber auch aus Gründen der Vergeltung für spektakuläre Fluchtversuche von privilegierten Funktionshäftlingen – so genannten Vertrauenshäftlingen – aus dem Sonderkommando.

Die dritte und vierte der Liquidationen vollzogen sich als schrittweise Auflösung des Sonderkommandos, wobei die Selektion vom 07.10.1944 eine verzweifelte Revolte der zur Ermordung ausgewählten Häftlinge auslöste: Einige wenige Todeskandidaten setzten sich eigenmächtig zur Wehr und verwickelten damit die Belegschaften von drei Krematorien in verheerende Kampfhandlungen, obwohl der Führungskreis der Widerstandsgruppe den von langer Hand geplanten Aufstand zu diesem Zeitpunkt unter keinen Umständen ausbrechen lassen wollte und den Unglücklichen die Unterstützung verweigerte. Dieses beispiellose Ereignis ging schließlich zu Recht als einziger bewaffneter Häftlingsaufstand in die Geschichte des KL Auschwitz-Birkenau ein. Den Aufständischen gelang es, das als Unterkunft dienende Krematorium III zu beschädigen sowie drei SS-Unterscharführer zu töten und vermutlich 12 weitere SS-Angehörige zu verwunden.

Hoftor von Block 13 in Lagerabschnitt BIId, © A. Kilian 1994

Von den zu diesem Zeitpunkt 616 Sonderkommando-Häftlingen wurden 451 Mann während des Aufstands am 07.10.1944 ermordet. Das Kriegsende erlebten schätzungsweise höchstens 95 Männer, die Zeugen des Aufstands wurden. Ihnen gelang es, sich während der Evakuierungswirren unter die restlichen Häftlinge zu mischen, in andere Lager überstellt zu werden oder auf dem Evakuierungsmarsch zu entkommen.

Im Frühjahr 2004 lebten weltweit noch 15 von ihnen. Im Folgenden soll anhand von umfangreichen Recherchen die Widerstandsbewegung im Sonderkommando untersucht und dabei auf die Handlungsmöglichkeiten und -motivationen der einzelnen Akteure näher eingegangen werden.

Verschiedene Lagerabschnitte, mittig sind die Hoftore der Blöcke 13 (Sonderkommando) und 11 (Strafkompanie, später auch Sonderkommando) in Lagerabschnitt BIId zu erkennen, © A. Kilian 1995

Mit vereinten Kräften: Organisierter Widerstand im Sonderkommando Auschwitz

Die Widerstandsaktivitäten innerhalb des Sonderkommandos wurden von im Dezember 1942 und Januar 1943 in das Sonderkommando eingewiesenen erfahrenen und einflussreichen polnisch- und litauisch-jüdischen Häftlingen initiiert. Unter ihnen befanden sich die späteren Anführer der Widerstandsgruppe im Sonderkommando Josef Deresinski, David Golan, Salmen Gradowski, Ajzyk Kalniak, Dawid Kotchak, Lejb Langfuß, Salmen Lewenthal, Elusz Malinka, Lajb Panicz, Tuvia Segal, Jukel Wróbel sowie Jaacov Kaminski, der einen der ersten Kapo-Posten im Sonderkommando erhielt und als erster und wichtigster politischer Organisator im Sonderkommando gilt. Kaminski wurde schließlich zum Oberkapo ernannt und stand damit von Januar bis April 1944 in der Lagerhierarchie über den nicht-jüdischen polnischen Funktionshäftlingen im Kommando. Nachdem er von dem nicht-jüdischen polnischen Kapo Mieczyslaw Morawa an die SS ausgeliefert wurde, indem dieser behauptete, Kaminski würde einen Anschlag auf den Chef aller Krematorien SS-Oberscharführer Muhsfeldt planen, ermordete ihn die SS am 03.08.1944. Berichte von Überlebenden legen nahe, dass er mit seinem großen Machteinfluss und seinen radikalen und kompromisslosen Ansichten über die Aufstandsplanung zu einer Gefahr für andere Funktionäre im Sonderkommando und aus diesem Grund ausgeschaltet wurde. Der polnisch-litauischen Gruppe schlossen sich ebenfalls im Dezember 1942 in das Sonderkommando eingewiesene französische und belgische Häftlinge polnisch-jüdischer Herkunft an, die langjährige Erfahrung in kommunistischer Untergrundarbeit hatten und bereits im Sommer 1942 nach Auschwitz deportiert worden waren. Da sie als „alte“ Häftlinge die ersten Vorarbeiter- und Kapo-Posten im Arbeitskommando erhielten, hatten sie mehr Freiräume für konspirative Widerstandsarbeit. Zudem hatten sie Kontakte zu Häftlingen aus früheren Arbeitskommandos, auf die sie dann im Sonderkommando zurückgreifen und über die sie Verbindungen zu anderen Widerstandsgruppen aufnehmen konnten. Unter ihnen befanden sich ein ehemaliger Fremdenlegionär, ein ehemaliger Spanien-Kämpfer sowie drei Männer, die die ersten Kontakte zur Birkenauer Untergrundbewegung geknüpft haben sollen.

Am 4. März 1943 wurde fast der gesamte männliche Zugang des 49. Transports des Reichssicherheitshauptamtes aus Drancy in das Sonderkommando eingeliefert, darunter zwei der zukünftigen Anführer der Widerstandsbewegung im Sonderkommando. Die 100 aus diesem Transport ins Sonderkommando eingewiesenen, durchschnittlich 44 Jahre alten und namentlich bekannten Häftlinge waren meist polnischer oder russischer Nationalität, einige wenige stammten u.a. aus Frankreich, Österreich, Rumänien und Bulgarien. Zu dieser Gruppe stieß schließlich noch ein ehemaliger Spanien-Kämpfer und Untergrundaktivist. Die politische Untergrundarbeit im Sonderkommando entstand schließlich durch die konspirative Vereinigung einzelner Zellen polnischer und französischer Aktivisten.

Im Hintergrund Gelände des „Roten Hauses“ (Vergasungsbunker 1), Brzezinka, © A. Kilian 1994

Obwohl sich der Planungsstab der Widerstandsgruppe im Sonderkommando aus etwa einem Dutzend Männern und schätzungsweise drei bis vier Dutzend eingeweihten Aktivisten zusammensetzte und einige Namen der Anführer überliefert werden konnten, wurden die konkreten Strukturen der Organisation und der Entscheidungsgewalt aus konspirativen Gründen nicht näher bekannt und sind bis heute nicht vollständig entschlüsselt. Fest steht lediglich, dass die Führer der Widerstandsbewegung im Sonderkommando unterschiedlich ausgerichtete Gruppierungen vertraten, politisch orientiert, militärisch geprägt oder religiös bestimmt waren und sich auch gegenseitig kontrollierten, da sie in einer Welt der Zerstörung und des Betrugs kaum Vertrauen zueinander finden konnten. Sie kontrollierten sich gegenseitig, da kaum Vertrauen zueinander finden konnten. Die größte Gefahr ging jedoch von der Unberechenbarkeit der von Levi als so genannte Luftmenschen bezeichneten Häftlingen aus, von Menschen, die nach dem Verlust von Heimat, Zuhause und Familie „außerhalb der Welt standen“ und nichts mehr zu verlieren hatten. Sie waren unberechenbar und mussten überwacht werden. Des Weiteren wurde versucht, unabgestimmte Aktionen mit aller Gewalt zu unterbinden. Sogar Mitglieder des Führungskreises, die flüchten wollten, wurden von Kapos und den Blockältesten unter Aufsicht gestellt. Damit entsprachen sie genau dem Kalkül der SS, die ihre Lagerherrschaft nach dem Leitspruch Divide et impera verwirklicht sah. Die Vertreter der einzelnen Zellen verfolgten unterschiedliche Ansätze: Einige wollten ohne viel Zeit zu verlieren und ohne Rücksicht auf die Folgen einen Aufstand herbeiführen, andere wollten den bestmöglichen Zeitpunkt abwarten. Aus dem Kampf um die Vormacht innerhalb der Gruppe der Widerstandsaktivisten entstand recht bald eine Ohnmacht, die die konspirativen Aktivitäten lähmte.

Mikrokosmos Krematorium: Die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen im Sonderkommando

Die Inbetriebnahme der vier neuen Krematoriumsanlagen zwischen März und Juli 1943 leitete eine Phase in der Geschichte des Sonderkommandos ein, die den Handlungsspielraum des einzelnen Häftlings erheblich veränderte. Für die in den Vernichtungsstätten zwangsbeschäftigten Häftlinge hatte sie einerseits eine schrittweise Radikalisierung der Vernichtungsaktionen und somit verschärfte Arbeitsbedingungen zur Folge. Andererseits bedeutete sie aber auch einen ersten Schritt zur Verbesserung der Arbeits- und Überlebensbedingungen für die im Sonderkommando Tätigen. Die Arbeit unter Dach und in beheizten Räumen, die Nutzungsmöglichkeit von Sanitäranlagen und fließendem Wasser an der Arbeitsstätte sowie der abnehmende Terror der SS in den modernsten Krematorien der Welt bereiteten die Grundlage für den Aufbau einer handlungsfähigen und gut organisierten Widerstandsgruppe im Sonderkommando.

Diese Gegebenheiten konnten für den Einzelnen sowohl handlungsmotivierend als auch handlungshemmend sein: Während einige Widerstandswillige aus der Situation Kraft schöpfen konnten, versanken andere in Resignation oder Tatenlosigkeit. In ihrer permanenten Konfrontation mit dem Tod ließen viele Sonderkommando-Häftlinge sich von dem sie umgebenden Reichtum betäuben und verfielen durch ihre privilegierte Stellung in einen Lähmungszustand. Vor dem Hintergrund der verbesserten Lebensumstände und Arbeitsbedingungen entwickelte sich im Zeitraum zwischen Herbst 1943 und Oktober 1944 zwischen den Sonderkommando-Häftlingen und den mit ihnen in Verbindung stehenden Menschen ein Handlungsraum, in dem organisierte Widerstandsaktivitäten, die auf einen bewaffneten Häftlingsaufstand abzielten, geplant und durchgeführt werden konnten.

Treppenaufgang zum Wohnbereich in Krematorium II, © A. Kilian 1992

Die auf verschiedenen Ebenen durchgeführten konspirativen Aktionen beschränkten sich im Wesentlichen auf Fluchtvorbereitungen, nachrichtendienstliche Tätigkeiten, die Unterstützung anderer Häftlinge durch Lebensmittel, Kleidung und Wertsachen, die Unterstützung des Krankenbaus mit Medikamenten, die Finanzierung von Fluchten gefährdeter Mitglieder der internationalen Widerstandsorganisation, der so genannten Kampfgruppe Auschwitz, das Vergraben von Beweismitteln sowie die Niederschrift von chronikartigen Aufzeichnungen. Darüber hinaus beteiligten sich die Köpfe der konspirativen Gruppe innerhalb des Sonderkommandos an Planungen der Kampfgruppe Auschwitz für einen allgemeinen Häftlingsaufstand.

Ein weiterer Aspekt, der dem Sonderkommando Handlungsfreiräume ermöglichte, war die Tatsache, dass bis Mai 1944 kein permanenter Arbeitseinsatz des Sonderkommandos bei der Massenvernichtung stattfand. Da besonders in den Monaten März 1943 bis Mai 1944 nicht täglich Vernichtungstransporte im Lager eintrafen, wurden die Häftlinge des Sonderkommandos vorübergehend anderweitig beschäftigt. Sie wurden zu Abbrucharbeiten in der Umgebung, Gartenarbeiten auf dem Krematoriumsgelände, zum Holzfällen im einige Kilometer entfernten Wald, zu Privatarbeiten für ihre Bewacher und zum Kokstransport herangezogen. Zwei Häftlinge wurden bei Hinrichtungen der Gestapo außerhalb des Lagergeländes eingesetzt. Diese Arbeiten befreiten die Sonderkommando-Häftlinge zumindest kurzfristig aus ihrer Isolation, verschafften ihnen Kenntnisse über die Umgebung und ermöglichten ihnen in einigen wenigen Fällen auch, Kontakte nach außen zu knüpfen.

Waldarbeiten neben dem Gelände der Waldkrematorien in Birkenau, © A. Kilian 1992

Infolge der seit Dezember 1943 stetig abnehmenden Vernichtungstransporte wurde die Hälfte des Sonderkommandos schließlich im Februar 1944 ermordet, da ihre Arbeitskraft nicht mehr benötigt wurde. Mit der Überstellung und Unterbringung der Sonderkommando-Häftlinge in die Krematoriumsgebäude war schließlich eine wirksame Verbesserung der Versorgung mit Lebensmitteln, Kleidung und Bedarfsartikeln, die direkt aus den Auskleideräumen organisiert wurden, möglich. Zuvor war die Mitnahme von zusammengetragenen Sachen ins Männerlager durchaus umständlich und deren Deponierung nahezu unmöglich, da noch großer Mangel herrschte. Die dem Sonderkommando gewährte Sonderzulage reichte wegen der schweren körperlichen Arbeit bis zu diesem Zeitpunkt kaum zum Überleben aus und der Tauschhandel mit Häftlingen anderer Kommandos war nur wenigen privilegierten Häftlingen vorbehalten. Durch die Zunahme der Vernichtungstransporte im Mai 1944 stieg jedoch der Reichtum des Sonderkommandos für Auschwitzer Verhältnisse enorm an. Somit entwickelten sich auch Finanzierungsmöglichkeiten für Aktivitäten wie Lagerflucht oder Bestechung von SS-Wachen, ohne die Kooperationen mit der Außenwelt kaum möglich geworden wären.

Macht und Ohnmacht: Häftlingshierarchie im Sonderkommando und Verbindungen zu anderen Häftlingsgruppen

Eingangstor zu dem Gelände der Waldkrematorien in Birkenau, © A. Kilian 1995

Obwohl die meisten Sonderkommando-Häftlinge zunächst das gleiche Schicksal teilten, war das Arbeitskommando keine homogene Häftlingsgruppe, in der umfassende Solidarität herrschte. Die unterschiedliche religiöse Prägung, politische Bildung, Herkunft, Lebenserfahrung, Persönlichkeits-struktur und der unterschiedliche familiäre und kulturelle Hintergrund der Häftlinge führten zu massiven Konflikten, zu gegensätzlichen Interessen und grundverschiedenen Ansichten unter den Häftlingen. Unterschiede im Alter, in der Lagererfahrung und Mentalität verkomplizierten das Leben in der Zwangsgemeinschaft, in der die Häftlinge zwischen 16 und 54 Jahre alt waren, aus 18 Nationen stammten und sich in 11 verschiedenen Sprachen verständigten. Überlebende berichten, dass die größten Konflikte zwischen den polnischen und griechischen sowie zwischen den russischen und polnischen Häftlingen aufgetreten seien. Es habe aber auch Unstimmigkeiten zwischen den ungarischen und polnischen sowie zwischen den griechischen und ungarischen Häftlingen im Sonderkommando gegeben.

Diese Unterschiede verhinderten, dass sich die Häftlinge des Sonderkommandos geschlossen organisieren und eine solidarische Gemeinschaft bilden konnten. Darüber hinaus wurden mehrmals Gruppen von Sonderkommando-Häftlingen ermordet, während gleichzeitig ständig neue Männer in die Gruppe integriert werden mussten. Diese Fluktuation innerhalb des Kommandos vereitelte ebenfalls die Entwicklung eines starken Gemeinschaftsgefühls und die Bildung fester, auch emotional verlässlicher Strukturen. Zu groß war die Angst, von Neuzugängen abgelöst zu werden oder nahestehende Kameraden zu verlieren.

Hervorzuheben ist jedoch, dass alle Anführer und Entscheidungsträger des Widerstands wichtige Funktionen und Positionen im Sonderkommando einnahmen. Familiäre, politische, konfessionelle sowie nationale Netzwerke spielten bei der Vergabe von Funktionen eine große Rolle. Neben den ersten französischen Vorarbeitern und Kapos waren auch die polnischen Widerstandsaktivisten als Kapos, Unterkapos, Vorarbeiter und Schreiber tätig. Ihren Vertrauenspersonen verschafften sie Posten als Kalfaktoren, Wachen, im Stubendienst oder schleusten sie in das Bedienungspersonal der SS ein. Auf diese Weise konnten einige Häftlinge über zwei Jahre im Sonderkommando überleben.  Der als Kapo eingesetzte Eliezer Welbel setzte seinen Vetter Berl Galek, der einen verkrüppelten Arm hatte, als Vorarbeiter ein sowie seinen Cousin Eliezer Eisenschmidt als Kalfaktor. Kapo Lemke setzte Milton Buki als Vorarbeiter sowie Dov Paisikovic und Morris Kesselmann als Kalfaktoren ein. Paisikovics Vater, der bereits über 50 Jahre alt war, bekam den Posten einer Torwache.

Nicht in der Häftlingshierarchie aufgestiegene Sonderkommando-Häftlinge, die an den Gruben oder als Heizer an den Öfen arbeiten musste, waren schnell körperlich und geistig so erschöpft, dass sie für die konspirative Planungsarbeit weder Zeit noch Energiereserven übrig gehabt hätten.


Eliezer Welbel, Skokie, © A. Kilian 1998

Zeugenberichten zufolge genoss der bereits erwähnte Kapo Jaacov Kaminski aufgrund seines autoritären Charakters und seiner Durchsetzungsfähigkeit das Vertrauen der SS und konnte unter verschiedensten Vorwänden andere Lagerabschnitte besuchen. Aussagen von im Häftlingskrankenbau-Lager B II f eingesetzten Gefangenen belegen, dass Kaminski in diesem Lagerabschnitt häufig einen Verwandten besuchte und sich sogar nach einem chirurgischen Eingriff für 10 Tage behandeln ließ. Überlebendenberichten zufolge konnten mit Hilfe seiner Freundin namens Schmidt, die in der im Frauenlager befindlichen Bekleidungskammer als Kapo beschäftigt war, die ersten Verbindungen mit Häftlingsfrauen aus der Pulverkammer der Weichsel-Union-Metallwerke geknüpft werden. Sicher ist, dass diese Verbindungen vom Sonderkommando aus nur von einem bei der SS und den Mithäftlingen gleichermaßen als Autorität anerkannten Häftlingsfunktionär hergestellt werden konnten, der schließlich über die SS auch darauf Einfluss hatte, wie viel Bewegungsfreiheit dem einzelnen Häftling ermöglicht wurde. Auf diese Weise entstand, so die Berichte der Überlebenden, ein enger privilegierter Kreis um Kaminski.

Fast alle Kapos im Sonderkommando verfolgten eine Politik der Cliquenbildung als wesentliche Überlebensstrategie. Aus Erinnerungsberichten von Überlebenden können folgende Beispiele exemplarisch hervorgehoben werden: Dem religiösen Gelehrten Lejb Langfuß wurde demzufolge aus Rücksichtnahme auf seine religiöse Stellung anfänglich der Posten einer Wache am Gaskammerneingang bei Bunker 2 und später der Vorarbeiter-Posten des Haartrockner-Kommandos in Krematorium I zugeteilt. Dort konnte Langfuß einerseits mit seiner Gruppe ungestört beten und hatte andererseits die Freiheit, konspirative Gespräche zu führen. Möglicherweise erhielt er aber auch deshalb einen „Ruheposten“, damit er wie die anderen Chronisten im Sonderkommando Raum hatte, die Ereignisse in der Todeszone heimlich schriftlich festhalten zu können. Die Kommandozentrale der Widerstandsgruppen im Sonderkommando befand sich in Krematorium I, in der eine Materialausgabestelle existierte, die für die Verbindungsleute aus den anderen Krematorien als Anlaufstelle und Übergabeort dienen konnte. Die geheimen Besprechungen wurden als Treffen zum Kartenspiel oder Gebet getarnt.

Gelände des Vergasungsbunkers 2, Brzezinka, © A. Kilian 1995

Von besonderer Bedeutung waren vor allem Verbindungen zur polnischen Widerstandsbewegung, die zum Teil durch freundschaftliche Verhältnisse oder mittels verwandtschaftlicher Beziehungen hergestellt wurden. So wurde etwa Noah Zabludowicz, der 24-jährige Cousin des als Kapo eingesetzten Shlomo Kirszenbaum, vom Stammlager Auschwitz über die Bauleitung täglich nach Birkenau zur Arbeit kommandiert und konnte als Elektriker das Krematoriumsgelände betreten. Er war neben Dawid Szmulewski, der als Häftling des Dachdecker-Kommandos zu den Krematorien gelangte, einer der wichtigsten Verbindungspersonen zwischen dem Sonderkommando und der Kampfgruppe Auschwitz im Stammlager. Für den Transport einzelner Materialien sorgte unter anderem ein Häftling aus dem Kommando Schlosserei, der mit Salmen Lewenthal befreundete Godel Silber. Seine Freundin Roza Robota, die in der Bekleidungskammer beschäftigt war, erhielt das Schwarzpulver von verschiedenen Kurieren aus den Union-Werken und übergab es, so wie auch einige andere Häftlinge, dem Kontaktmann Silber zur Weitergabe an das Sonderkommando. Als bedeutender Kurier und Informant fungierte auch der als Elektriker eingesetzte Häftling Henryk Porebski, der wichtige Informationen von seiner in der Aufnahmeabteilung der Lagergestapo beschäftigten Freundin Zippy Spitzer erhielt.

Häftlinge des Kommandos Kläranlage, unter denen sich der Bruder des als Kapo eingesetzten Lemke Pliszko befand, übergaben im Juli 1944 Sonderkommando-Häftlingen isolierte Zangen, mit denen im Fluchtfall die geladenen Stacheldrahtzäune durchtrennt werden konnten.

Die Kontakte zu sowjetischen Militärangehörigen und Widerstandskämpfern im Männerlager konnten vor allem mit Hilfe der sowjetischen Kriegsgefangenen im Sonderkommando hergestellt werden. Tatsächlich gelang es ihnen in kurzer Zeit, Verbindung zu einem in Birkenau inhaftierten sowjetischem General herzustellen, da sie als Nichtjuden anfangs im freien Prominentenblock Block 2 des Männerlagers B II d untergebracht wurden, wo sie mit ihren Landsleuten aus anderen Kommandos Kontakte knüpfen konnten; so auch zu Sprengstoffexperten und Feuerwerkern, die eine Zeitlang für den Bau von selbstgefertigten Handgranaten verantwortlich waren.


Hofmauern der Blöcke 13 (Sonderkommando) und 11 (Strafkompanie, später auch Sonderkommando) in Lagerabschnitt BIId, © A. Kilian 1992


Durch die Beziehungen zu konspirativen Gruppen in anderen Lagerabschnitten wurden zudem Möglichkeiten geschaffen, über Verbindungskanäle Spreng- und Schusswaffen-Bestandteile ins Sonderkommando zu schmuggeln. Die Arbeitskommandos Zerlegebetriebe, Häftlingsküche und Effektenlager sowie einzelne Zivilarbeiter waren Quellen dieser Versorgung. Zumeist russische nicht-jüdische Häftlinge des Arbeitskommandos Zerlegebetriebe, die 3 km vom Krematoriumsgelände entfernt mit der Demontage von Flugzeugwracks beschäftigt waren, schmuggelten im September 1944 Einzelteile einer Maschinenpistole in das Birkenauer Männerlager, von wo aus die Bestandteile über die Häftlingsküche des Männerlagers zum Sonderkommando gelangten. Über die Kontaktleute in der Häftlingsküche wurden nach langfristiger Planung am 07. Oktober 1944 schließlich benzingefüllte Suppenkübel zur Brandlegung in den Krematorien II, III und IV vorbereitet und an eingeweihte Essensholer des Sonderkommandos, darunter Dov Paisikovic, dem Kalfaktor des Kapos Lemke Pliszko, übergeben.

Im Dienst der Täter: Das Verhältnis von Sonderkommando-Häftlingen zu den in den Krematorien eingesetzten SS-Angehörigen

Die verbesserten Lebens- und Arbeitsbedingungen der Häftlinge und der damit einhergehende Verhandlungsspielraum mit der SS hatte primär ökonomische Ursachen, die mit der im Lager verbreiteten Korruption zusammenhingen. Den Mordbetrieb in den Krematorien von Auschwitz-Birkenau hielten verhältnismäßig wenige SS-Angehörige aufrecht. Bei den außerhalb der Lagerumzäunung befindlichen provisorischen Vergasungsbunkern wurden Ende 1942/ Anfang 1943 nur jeweils vier Posten eingesetzt, die jeweils 40–50 Häftlinge beaufsichtigten. Bei der Exhumierungs- und Verbrennungsaktion zwischen September und November 1942 wurden vermutlich 20-30 SS-Angehörige sonderverpflichtet, von denen viele später in den Krematorien wiederbeschäftigt wurden. Im April und Mai 1944 wurde je Krematorium nur ein SS-Posten eingesetzt, der jeweils 38–77 Sonderkommando-Häftlinge beaufsichtigte. Von Mai bis September 1944 wurden jeweils zwei bis drei SS-Posten in einer Tag- und Nachtschicht in den vier Krematorien eingesetzt, insgesamt 22 Posten. Ein Posten beaufsichtigte somit jeweils 35–55 Häftlinge. Im September 1944 ging die Zahl der Posten auf 14 Mann zurück, Anfang Oktober auf 12 Mann. Neben den SS-Posten waren in den Krematorien zudem Krematoriumsleiter beschäftigt. Die Krematorien III&IV hatten je Schicht nur einen gemeinsamen Leiter. Die Fluktuation unter diesen „Geheimnisträgern“ der SS war gering, vermutlich wurden in den Jahren 1942–-1945 schätzungsweise 40–60 SS-Angehörige bei den Vergasungsanlagen, Verbrennungsgruben und Krematorien eingesetzt. Obwohl die bei den Krematorien beschäftigten SS-Angehörigen für ihre Tätigkeit Sonderrationen Wurst, Brot, Schnaps und Zigaretten erhielten, war die Versuchung groß, sich am Eigentum der Ermordeten zu bereichern. In diesem Zusammenhang mussten neben etlichen anderen Erklärungen alle in Verbindung mit der „Ungarn-Aktion“ beschäftigten SS-Angehörigen am 22.05.1944 einen so genannten Verpflichtungsschein unterzeichnen und unter anderem zur Kenntnis nehmen, „dass ich mit dem Tode bestraft werde, wenn ich mich an Judeneigentum jeglicher Art vergreife.“

    

Im Hintergrund die Gelände der Vernichtungszonen von Krematorium II und III, © A. Kilian 1995

Da die Krematoriums-SS jedoch direkt an der Quelle saß, konnte sie mit Hilfe der Häftlinge ohne großes Risiko die besten Wertsachen beschaffen. Zeitzeugenbefragungen zufolge agierte sie in einem größtenteils kontrollfreien Raum. Als Angehörige der Politischen Abteilung geführt, unterstanden sie dem Leiter aller Krematorien. Die abgeriegelte Todeszone war – bis auf wenige Ausnahmen – für andere SS-Angehörige unzugänglich. Die Krematoriums-SS, die nach den Aussagen von Betroffenen auch innerhalb der SS-Besatzung des KL Auschwitz eine Außenseiterrolle einnahm, blieb somit isoliert.

Diese Voraussetzungen ermöglichte ihnen einen großen Handlungsspielraum auf dem Gelände der Vernichtungsanlagen und verlieh ihnen nahezu uneingeschränkte Macht. In den hochmodernen Krematorien I und II hatten sie zudem großzügige Aufenthaltsräume und Sanitäranlagen und waren mit der Außenwelt sogar durch einen eigenen Telefonanschluss, ein Funkgerät und ein Radiogerät verbunden. Die so entstandene Grauzone mit ihren Freiräumen machten sie sich skrupellos zu Nutze.

Durch ihre Korrumpierbarkeit begaben sie sich dabei in ein Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Vertrauenshäftlingen, die diese Schwäche rasch erkannten und ausnutzten konnten. Einige machten sich dadurch unabkömmlich, gewannen großen Einfluss auf die SS und konnten diese gewissermaßen verpflichten. Auf diese Weise gelang es Funktionären im Sonderkommando mehrmals, SS-Angehörige in gefährlichen Situationen zu beruhigen und sich für andere Häftlinge zu verwenden. Einige Vertrauenshäftlinge der SS hatten Handlungs- und Bewegungsfreiheiten, die ihnen wiederum konspirative Treffen in anderen Lagerbereichen ermöglichten. Die sie bei Unternehmungen außerhalb des Krematoriumsgeländes begleitenden einfachen SS-Posten waren Angaben ehemaliger Sonderkommando-Häftlinge zufolge häufig käuflich und selbst an „Ausflügen“ interessiert, von denen sie profitieren konnten. Durch diese nachlässige und demoralisierte Haltung der SS wurde der Schmuggel von Waffen, Kassibern und Wertsachen möglich. Neben der Bestechlichkeit betäubte zudem die unter der SS verbreitete Trunksucht deren Wachsamkeit und führte zunehmend zu Disziplinlosigkeit.

Eingangstore der Gelände von Krematorium III und II, © A. Kilian 1995

Augenzeugen berichteten, dass selbst Krematoriumsleiter Busch keine Gelegenheit ungenutzt ließ, ausgewählte Sonderkommando-Häftlinge ins Frauenlager zu begleiten, um sich dort mit SS-Aufseherinnen zu vergnügen und Trinkgelage zu veranstalten. Zu diesem Zweck inszenierten Sonderkommando-Häftlinge „Reparaturarbeiten“, für die sie aus dem Frauenlager Geräte ausleihen mussten, denn der beste Weg, Waffen oder Kassiber zu transportieren, war der Materialtransport. Buschs Schwäche konnte allerdings erst ausgenutzt werden, nachdem der brutale Chef aller Krematorien, SS-Hauptscharführer Otto Moll aus Birkenau versetzt worden war.

Zur eigenen Verwendung und für spezielle Aufgaben stellte die SS aus dem Sonderkommando so genannte Leibburschen, einen Uhrmacher, Schneider, Koch, Schuhmacher und Maler ab, die dafür von den gewöhnlichen Arbeiten befreit wurden. Uhrmacher in Krematorium II war David Nencel, der das Handwerk als junger Mann erlernt hatte.

Vereinzelt setzten Krematoriumsleiter die Häftlinge sogar für Maler-, Garten- und Renovierungsarbeiten in ihren Privathäusern oder als Möbelschreiner ein. Für die zu diesen Arbeiten herangezogenen Häftlinge bedeutete dies eine bessere Überlebenschance, da sie zusätzliche Lebensmittel erhielten. Für die SS wiederum ermöglichte die Beschäftigung der Häftlinge als private Arbeitssklaven einen luxuriösen Lebensstil, der weit über das hinausging, was sie sich eigentlich aufgrund von Herkunft und Beruf leisten konnten. Viele Angehörige der Krematoriums-SS sollen den Darstellungen von Sonderkommando-Überlebenden zufolge die Unterhaltung durch Gesang, Musik, Spiel und Kunst sowie die leibliche Verwöhnung durch Speis und Trank geliebt haben. Sie ließen sich von ihren Vertrauenshäftlingen mit Vergnügen bedienen, stellten sie dafür von anderen Arbeiten zurück und nahmen sie von Liquidationen aus.



David Nencel, Montreal, © A. Kilian 1995

Manchen Häftlingen gelang es, von diesen Zuständen zu profitieren: Der in der Widerstandsgruppe aktive Häftling Chaim Herman verdankte beispielsweise seinem SS-Kommandoführer das Ende seiner Hungersnot, nachdem er ihm die Regeln eines Kartenspiels beigebracht hatte und sich dieser daraufhin persönlich Hermans annahm.

Griechische Juden aus dem Sonderkommando, die für ihren wehmütigen oder fröhlichen Gesang bei der SS beliebt waren, wurden aufgefordert, während der Arbeit oder beim Ein- und Ausmarsch des Arbeitskommandos volkstümliche Lieder zu singen. Doch der für die Deutschen fremdsprachige Gesang ermöglichte auch eine besondere Form des Widerstands und der konspirativen Informationsvermittlung, sofern die versteckten Botschaften von anderen Häftlingen, z.B. von Griechinnen im an Krematorium I benachbarten Frauenlager oder im an Krematorium III benachbarten Effektenlager verstanden werden konnten. Der bekannte Filmkulissen- und Filmplakatmaler David Olère musste Briefe verzieren oder andere Auftragsarbeiten anfertigen. Zwei Goldschmiede fertigten individuellen Goldschmuck an, und hin und wieder ließ sich die SS sogar durch ein Fußball-Spiel der Häftlinge unterhalten. Außenstehende Posten in der Umgebung der Krematorien wurden gelegentlich mit begehrten Nahrungsmitteln, Alkohol oder Wertsachen und anderen Gegenständen wie Uhren, Goldzähnen oder Diamanten bestochen. Das Ablenkungsmanöver reichte oftmals für einige Augenblicke der Unachtsamkeit aus, in denen Häftlinge z.B. Kassiber oder Pakete in benachbarte Lagerbereiche werfen konnten. Über direkte Bestechung gelangte das Sonderkommando schließlich sogar eine Zeit lang regelmäßig in den Besitz des Völkischen Beobachters.

Hinterer Teil der Sanitärbaracke des Sonderkommandos in Lagerabschnitt BIId, © A. Kilian 2016

Fazit

Die Zustände und Umgangsformen auf dem Gelände der Krematorien boten den dort eingesetzten Häftlingen gute Voraussetzungen, einen Handlungsraum zu schaffen, der sie ihrem Ziel, der Verwirklichung eines allgemeinen Häftlingsaufstands, Tag für Tag näherbrachte. Dennoch konnte dieser Handlungsraum nicht effektiv genutzt und dieses Ziel letztlich nicht erreicht werden. Die handlungsmotivierenden Faktoren für Widerstandstätigkeiten im Sonderkommando in Auschwitz konnten letztlich nicht verhindern, dass die handlungshemmenden Faktoren den Handlungsraum des Sonderkommandos immer weiter einschränkten, bis zuletzt gute Gelegenheiten zu einem Aufstand ungenutzt vorüber gingen. Der vom Leitungskreis der Widerstandsgruppen im Sonderkommando abgewartete günstigste Moment eines Aufstands konnte jedoch vor allem deshalb nicht eintreten, weil es ihn nicht gab: Er war eine Illusion. Letztlich hinderte dies die Verantwortlichen daran, zu handeln. Inzwischen verstrich wertvolle Zeit und zahlreiche Möglichkeiten zu Flucht oder Revolte wurden verpasst. Der Sonderkommando-Widerstand zerbrach aber nicht nur aus Uneinigkeit und Rivalität in den eigenen Reihen oder aus hilfloser Selbsttäuschung, sondern auch am Betrug und Verrat verbündeter Widerstandsaktivisten aus anderen Häftlingskommandos, die ihre besseren Überlebensaussichten nicht selbstlos aufs Spiel setzen wollten.

Es bleibt zu resümieren, dass die Widerstandstätigkeit im Sonderkommando den Beteiligten und Eingeweihten einen Lebenssinn gab, da die Aussicht auf einen seelischen und möglicherweise auch physischen Befreiungskampf enormen Einfluss auf das moralische Überleben der Häftlinge hatte. Die Hoffnung auf eine erfolgreiche Flucht hatte vor diesem Hintergrund nur sekundäre Bedeutung. Die alltäglichen grauenvollen Lebens- und Arbeitsbedingungen ließen die Sehnsucht nach Erlösung durch Befreiung, Selbstbefreiung oder Tod wachsen. Entscheidend wurde für viele die Absicht, die Möglichkeit der Zeugenschaft zu nutzen und ein würdiges Andenken an die Häftlinge des Sonderkommandos zu ermöglichen, indem durch riskante Taten wie das Vergraben von Handschriften Zeugnisse der deutschen Verbrechen hinterlassen wurden und durch die physische Auflehnung ein Zeichen gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft gesetzt wurde. Die Aktivisten im Sonderkommando nutzten ihre besonderen Handlungsräume, um aus dem Dilemma ihrer Situation als Augenzeugen und Arbeiter in den Krematorien heraus Zeugnis ablegen zu können und im Rahmen ihrer Möglichkeiten Widerstand zu leisten. Dies erlebten sie als ehrenvolle Aufgabe. So schrieb Chaim Hermann, der vorletzte Überlebende seines 100 Mann starken französischen Zugangs im Sonderkommando, drei Wochen vor seiner Ermordung in seinem Abschiedsbrief:

„Ohne Furcht vor Risiko und Gefahr tat ich in dieser Epoche alles, was in meiner Macht lag, um das Schicksal der Unglücklichen zu mildern, oder politisch das, wovon ich Euch über mein Schicksal nicht schreiben kann, so dass mein Gewissen rein ist und ich am Vorabend meines Todes stolz darauf sein kann.“

Ruine der Gaskammer von Krematorium III, neben der geheime Handschriften vergraben wurden; © A. Kilian 1995


Hinweis:

Eine gekürzte Fassung des vorliegenden Beitrags ist mit einer Abbildung in dem Tagungsband mit Beiträgen des 10. interdisziplinären „Workshops zur Geschichte der Konzentrationslager”, der vom 02.-05.10.2003 in der Gedenkstätte Ebensee stattfand, am 15.09.2004 zur Frankfurter Buchmesse erschienen:

Kilian, Andreas: „…so dass mein Gewissen rein ist und ich am Vorabend meines Todes stolz darauf sein kann.“ „Handlungsräume“ im Sonderkommando Auschwitz, in: Ralph Gabriel, Elissa Mailänder- Kosslov, Monika Neuhofer, Else Rieger (Hg.): Lagersystem und Repräsentation. Interdisziplinäre Studien zur Geschichte der Konzentrationslager. Studien zum Nationalsozialismus – Band 10, Tübingen 2004, S. 103- 123.

Der Autor dankt dem Verlag edition diskord, Tübingen, für die Zustimmung zur Veröffentlichung des Artikels auf www.sonderkommando-studien.de


(Letzte Änderung: 09.10.2004)

Anmerkung:

Nach der Identifizierung des wahren Verfassers der französischsprachigen Sonderkommando-Schrift im Jahre 2018 muss der Name Chaim Herman durch Herman Strasfogel ersetzt werden. Neuesten Forschungsergebnissen zufolge sind im März 1943 nicht 100 Mann aus dem 49. Transport von Drancy ins Sonderkommando einverleibt worden, sondern nur ein Teil von ihnen