Darstellungen des  Auschwitz-Flüchtlings Alberto Errera:

Zur Mythologisierung eines griechischen Helden des Widerstands

Von Andreas Kilian

Im Schatten des Rechtsdrucks in Europa erscheinen in diesem Jahr in Griechenland drei bedeutende Werke über Auschwitz: Leon Cohens erstmal 1996 in englischer Sprache veröffentlichtes Buch „From Greece to Birkenau“, Marcel Nadjaris erstmals 1991 publiziertes Buch „Chroniko“, beide Werke von Überlebenden des Sonderkommandos verfasst und in ergänzter und überarbeiteter Fassung editiert sowie George Pilichos erste umfangreiche Gesamtdarstellung des Schicksals griechischer Juden in Auschwitz mit dem Titel „AUSCHWITZ – Greeks, Numbers Condemned to Death“, als späte Revision des 2009 vom „Hellenic Ministry of Foreign Affairs“ herausgegebenen fehlerhaften Buchs „Greeks in Auschwitz-Birkenau“ von Photini Tomai.

In allen drei Werken wird ein Mann namens Errera erwähnt, der im August 1944 als Sonderkommando-Häftling für seine spektakuläre Flucht vom Ort der Asche-Beseitigung an der Weichsel berühmt geworden war, die er nicht überlebte. Zudem wurden im Internet mehrere Beiträge über Errera veröffentlicht, die biografische Angaben enthalten, welche von Familienangehörigen Erreras nicht bestätigt werden können. Die Darstellungen folgen einer Tradition, die bis in die 1940er Jahre zurückverfolgt werden kann. Im Folgenden werden ausgewählte Beispiele des internationalen Heldengedenkens an Errera (der auch mit den Vornamen Alekos oder Alex erwähnt wird) und seiner Dynamik untersucht.

Das Flucht-Ereignis konnte 1944 von vier überlebenden Augenzeugen bestätigt und an ihre Kameraden berichtet werden. Ihren Aussagen zufolge habe Errera SS-Wachen niedergeschlagen und sei beim Durchschwimmen der Weichsel angeschossen worden. Dem Sonderkommando wurde der entstellte Leichnam zur Abschreckung zur Schau gestellt. Die Beschreibung wurde nach Weitergabe dann allerdings mehrfach verfälscht, so dass in der Literatur zahlreiche Varianten zu finden sind. Ein Beleg der Flucht findet sich in den Lagerverwaltungs-Akten. Überliefert wurde der Eintrag einer Fluchtmeldung an die Politische Abteilung K.L. Auschwitz durch den Polizei-Anwärter der Schutzpolizei der Reserve Julden am 09.08.1944 um 20:15 Uhr: „Jude Terrara Albert, Israel geb. 15.1.13 zu Larissa, am lk. Unterarm tätowiert mit der Nr. 182552.“ (Der Anfangsbuchstabe war offenbar ein Schreibfehler, da die bei RSHA-Transporten verteilten Häftlingsnummern grundsätzlich alphabetisch der Reihenfolge nach vergeben worden waren und o.g. Nummer zwischen den Familiennamen mit „D“ und „G“ stand. Falsche Angaben der Häftlinge gegenüber der Lagerverwaltung wie beim o.g. Geburtsort führen nicht selten zu Unplausibilitäten, denkbar wären auch Aufnahme- oder Übertragungsfehler.)

Ausgehobene Aschegrube bei Krematorium I(II), © A. Kilian 1992

Laut eidesstattlicher Erklärung seiner Witwe Matthildi Errera (geb. Eskinatzi) vor Gericht  in Larisa am 25.01.1983 wurde Alberto Errera 1912 in Thessaloniki geboren und heiratete 1937 in Larissa. Fünf Jahre zuvor hatte sie in der Gedenkstätte Yad Vashem noch das Geburtsjahr 1913 angegeben.

Späte Ehrung

Erreras Person und Fluchtversuch wurde in zahlreichen Publikationen weltweit seit 1946 ein Denkmal gesetzt. Anfangs in Erinnerungsmemoiren und Gedenkbüchern von Auschwitz-Überlebenden, Jahrzehnte später verstärkt in der Sekundärliteratur. Der Historiker Steven Bowman resümiert in seinem Werk „The Agony of Greek Jews“ (2009, S.95f.) darüber: „ Seine Geschichte ist ein wichtiger Teil der Überlieferung griechisch-jüdischer Überlebender. Und sie hatte angeblich wichtige Auswirkungen auf die Revolte des Sonderkommandos.“ In seiner Heimatstadt verfasste im Jahre 1997 Lina Folina von der Union der Poeten und Schriftsteller Larissas sogar eine Ode mit 100 Strophen zu Erreras Ehren. Von der „Hellenischen Republik“ (amtlicher Staatsname Griechenlands) wurde Errera für seinen Akt des Widerstands am 4.10.1989 posthum die „Erinnerungsmedaille des Nationalen Widerstands 1941-1945 (…) für seine direkte Teilnahme als individueller Kämpfer des Nationalen Widerstands des griechischen Volkes gegen die Besatzungsarmee“ vom nationalen Verteidigungsminister Ioannis Varvitsiotis verliehen, allerdings als sehr später Akt des Gedenkens an ein griechisches Opfer des Nationalsozialismus, das 1.600 km von seiner Heimat entfernt ermordet worden war. Erreras Witwe erlebte die Ehrung nicht mehr, sie verstarb ein Jahr zuvor.

Nationale Auszeichnung für Alberto Errera, © Matthildi Eskinatzi 2017

 Obwohl seiner Witwe und Verwandten zufolge eine Widerstandstätigkeit Erreras in Griechenland nicht bekannt war, reichte seine spektakuläre Flucht in Auschwitz offenbar aus, um mit Hilfe von Fürsprechern dafür geehrt zu werden. Der Fluchtversuch war nicht der erste und auch nicht der letzte, der von Sonderkommando-Häftlingen durchgeführt worden war, aber sicherlich einer der berühmtesten, da sich das Ereignis rasch im Lager herum gesprochen hatte, nicht zuletzt wegen der Verwundung oder behaupteten Ermordung von SS-Angehörigen durch den Griechen.

Partisan oder Pechvogel

Im Internet kursierende Behauptungen, dass Errera bereits in Griechenland im Widerstand aktiv gewesen sei, sind unsubstantiiert. Möglicherweise beruhen sie auf Verwechslungen oder falschen Schlussfolgerungen: Tatsächlich soll ein Elias Errera  dem Widerstand angehört haben, ein Maurice Errera wurde am 05.04.1943 bei einem Fluchtversuch aus dem Baron Hirsch Ghetto erschossen. Er habe sich den Partisanen anschließen wollen. Alberto Erreras Schwager Samuel Eskinatzi wurde eine Woche vor dem Ende der Kampfhandlungen am 06.01.1945 in Kaza Biotias als Anführer der 10. Kompanie des 54. ELAS –Regiments (Griechische Volksbefreiungsarmee) im Kampf getötet, allerdings nicht von den deutschen Besatzern (wie von Matsas in „The Illusion of Safety“ 1997 behauptet), die sich bereits im Oktober 1944 aus Griechenland  zurückgezogen hatten, sondern von griechischen Regierungs- Truppen und ihren britischen Verbündeten.

Marcel Nadjary schrieb 1947 in seinen Erinnerungen über einen Häftling, den er im März 1944 im Durchgangslager Haidari kennengelernt hatte: „Ein anderer Mann war Alekos Alexandridis. Wir wurden beste Freunde. Er wurde beschuldigt, der Lieferant der Guerilla gewesen zu sein. Später enthüllte er mir, dass sein Name Alberto Errera war.“ Nadjari schreibt nicht, dass sein Freund für die Partisanen gearbeitet habe. Dem Univ.-Prof. John Kalef-Ezra zufolge wäre seinerzeit als Verhaftungsgrund häufig eine Verbindung mit den Partisanen (ELAS) unterstellt worden, in Erreras Fall sei die Anzeige einer abgewiesenen verliebten Frau dafür verantwortlich gewesen, dass Alberto unter falschem Vorwand in Athen verhaftet worden sei. Tatsächlich sei Errera mit seiner Frau und Schwägerin unter dem falschen Namen Alekos Alexandridis in Farsala untergetaucht und habe von dort aus Lebensmittel und andere Waren transportiert, bevor er an die Gestapo ausgeliefert worden war. Laut Prof. Kalef-Ezra hätten viele versteckte Juden Thessaliens seinerzeit von dieser Tätigkeit gelebt. Auf dem Weg nach Auschwitz habe der Deportationszug am 02.04.1944 an der Station Farsala gehalten, wo Errera einem zufällig vorbei gehenden Freund noch eine Nachricht an seine Frau habe zurufen können, die daraufhin mit ihrer Schwester in die Gebirgsregion von Pilio geflüchtet sei. Mit Joseph Nechamas 1949 erstmals veröffentlichter Darstellung im 2. Band von Michael Molhos unzuverlässigem Werk „In Memoriam“ (dt. Übers. 1981, S. 355) verbreitete sich der Partisanen-Mythos bis in die Gegenwart. Nechama schrieb seinerzeit: „Aber Alekos ist tapfer. Kürzlich, bevor er den Nazis ins Netz ging, hatte er in Thessalien in der Résistance gekämpft und den Kerlen der Besatzungsarmee zugesetzt.“. Michael Matsas, der sich in „The Illusion of Safety“ auf Nechamas/Molhos Darstellung  bezieht (S. 240), erweitert fast 50 Jahre später ohne Beleg Erreras Referenz: „Alberto Moissi Errera kämpfte in Albanien und erhielt eine Feldbeförderung für Tapferkeit. Im September 1943 ging er in die Berge und später auf eine Widerstandsmission nach Athen.”

Foto A. Errera, o.J., mit freundlicher Genehmigung seiner Nichte Matthildi Eskinatzi, Archiv A. Kilian

Offizier, Kapitän, Matrose oder Lebensmittelhändler

K.E. Fleming behauptet in ihrem Standardwerk „Greece – a Jewish History“ (2008), Errera sei ein “Armee Veteran“ gewesen, der während der Besatzungszeit den christlichen Decknamen „Alekos Michaelides“ übernommen habe (S. 160). Vermutlich bezieht sie sich auf die Recherchen von Nikos Stavroulakis, der 1983 den Anmerkungsapparat in Errikos Sevillias Buch „Athens – Auschwitz“  verfasst hatte und Errera als „career officer in the greek army“ bezeichnete. Einige Sonderkommando-Überlebende schrieben in ihren Erinnerungen, „Alex“ Errera sei Offizier in der griechischen Armee oder Marine gewesen, so Filip Müller 1979 in seinem Buch „Sonderbehandlung“ (S. 125), Shlomo Venezia in „Meine Arbeit im Sonderkommando Auschwitz“ (2008, S. 138) und Daniel Bennahmias in dem von Rebecca Camhi Fromer verfassten Buch „The Holocaust Odyssey“ (1993, S. 52; allerdings gibt Bennahmias in einem Video-Interview an, dass es nur einen einzigen griechischen Offizier im Sonderkommando gegeben habe: Joseph Baruch). Diese Behauptung  taucht erstmals in Albert Menasches frühem Werk „Birkenau“ aus dem Jahre 1947 auf (S. 89). Ohne Namens- und Rangnennung schrieben bereits ein Jahr zuvor die Auschwitz-Überlebenden Erich Kulka und Ota Kraus in ihrem bekannten Werk „Die Todesfabrik“ (dt. Übers. 1957, S. 129) über die Flucht. Allerdings lassen sie das Schicksal des SS-Manns offen. Leon Cohen behauptete in seinem Buch „From Greece to Birkenau“ zudem, Errera sei „professioneller Matrose“ gewesen (S. 52, 77). Diese Angabe machte auch Henryk Mandelbaum („Ich aus dem Krematorium Auschwitz“, 2017, S. 69). Erreras Verwandten war und ist davon allerdings nichts bekannt. Cohen behauptet zudem (wie Eduard de Wind bereits 1946 in seinem Buch „Eindstation Auschwitz“, S. 167), Errera habe während seines Fluchtversuchs einen SS-Mann mit der Schaufel getötet, was wiederum von dem Sonderkommando-Überlebenden Daniel Bennahmias und Augenzeugen bestritten wurde. Lisa Pinhas teilt Cohens Darstellung in ihrem Buch „A Narrative of Evil“ (2014, S. 109f.). Darin ist Errera Leutnant der griechischen Armee und Führer der  griechischen Widerstandsgruppe im Sonderkommando, wie auch schon Menasche behauptet hatte. Die Opferzahl steigt bei Sevillas: in seiner sehr ausführlichen und ausgeschmückten Darstellung (S. 40-42) habe Errera gleich zwei SS-Männer getötet, indem er die Bewusstlosen in die Weichsel warf. Er schließt mit den pathetischen Worten: „Das war die Geschichte von Albertos Erreras, von dessen Tapferkeit sie wochenlang im Lager sprachen. Er war der einzige Gefangene, der versuchte zu entkommen, der immerhin zwei Deutsche tötete und etwas mit seinem Leben kaufte.“ Sevilias Version folgt auch Photini Tomais in der eingangs erwähnten Publikation aus dem Jahre 2009, allerdings macht sie aus Errera einen Reserve-Offizier. Der Auschwitz-Überlebende Heinz Salvator Kounio lässt in seinem Buch „Ein Liter Suppe und 60 Gramm Brot“ (2016) den „griechischen Offizier“ Errera erst während des Aufstands am 7.10.1944 flüchten und sterben (S. 92).



                            

Mutmaßlicher Zwangsarbeits-Einsatzort Erreras: Gelände der ehemaligen und ersten Aschegruben bei Krematorium IV(V), © A. Kilian 2004


Familienangehörigen Erreras ist eine vermeintliche Partisanentätigkeit oder Militärkarriere nicht bekannt, allerdings hätte sein Schwager Samuel Eskinatzi den Rang eines Hauptmanns (Captain) geführt. So könnte die Bezeichnung Albertos als „Officer“, „Captain“ oder „Kapitän“ (bei Shlomo Venezia) ein Mythos sein.  Helden werden aber nicht nur beim Militär geboren.

Über einen griechischen „Kapitän“ (gemeint ist auch hier offensichtlich der milit. Rang „Captain“), der einen Freitodversuch unternommen hatte, schrieb bereits im Jahre 1946 der im Krematorium beschäftigte Pathologe Miklos Nyiszli Folgendes: „Er ist nur unter diesem Namen bekannt. Zu Hause in Athen war er, ein aktiver Offizier, der Erzieher der Kinder des griechischen Königs.“ Alberto Errera hingegen führte einen Lebensmittelladen in Larissa. Offenbar wurde ein anderer Häftling unter den schätzungsweise insgesamt 150 – 200  griechischen Männern im Sonderkommando „Kapitän“ genannt. Allerdings ist nur im Fall von  Joseph Baruch zweifelsfrei belegt, dass er griechischer Offizier war.

Die Herkunft zahlreicher Gerüchte, die sich um Alberto Erreras Person ranken, wird sich offenbar nicht mehr ermitteln lassen, aufhalten lassen wird sich ihre Verbreitung  auch nicht. Erreras Heldenmut würde aber auch dann nicht geschmälert, wenn zweifelsfrei erwiesen wäre,  dass er in seiner Heimat wahrscheinlich weder Offizier noch Partisan gewesen war.


(Letzte Änderung: 09.12.2019)




Hinweis:

 

Dieser Artikel ist mit zum Teil anderem Bildmaterial versehen in folgender Ausgabe des Mitteilungsblatts der „Lagergemeinschaft Auschwitz – Freundeskreis der Auschwitzer“ erschienen:

Kilian, Andreas: Zur Mythologisierung eines griechischen Helden des Widerstands: der Auschwitz-Flüchtling Alberto Errera. In: Mitteilungsblatt der Lagergemeinschaft Auschwitz, Freundeskreis der Auschwitzer, 37.Jg., H. 2 (2017), S. 29-33.

Der Autor dankt der Lagergemeinschaft Auschwitz, Freundeskreis der Auschwitzer e.V., Münzenberg, für die Zustimmung zur Veröffentlichung des Artikels auf www.sonderkommando-studien.de sowie Matthildi Eskinatzi für die Genehmigung zur Verwendung ihrer Fotos. Großer Dank gebührt auch Prof. John Kalef-Ezra.